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Markus Heide (Berlin)



Rowe, John Carlos (2002): The New American Studies. Minneapolis and London: University of Minnesota Press.



Wie der Titel programmatisch ankündigt, widmet sich der an der University of California at Irvine lehrende Nordamerikanist John Carlos Rowe jenen in den letzten beiden Dekaden vollzogenen Veränderungen des Selbstverständnisses eines mittlerweile recht einflussreichen Teils der Literatur- und Kulturwissenschaften, die sich mit den Vereinigten Staaten beschäftigen. Die zehn Kapitel seines Buches geben eine Entwicklung wieder, versuchen allerdings zugleich, richtungsweisende 'neue' Ansätze zu entwerfen, und verstehen sich selbst als Intervention in etablierte, 'traditionelle' Wissenschaftspraxis. Dabei sind die Kapitel thematisch wie auch methodisch ähnlich heterogen wie die beschriebenen und von Rowe geforderten kritischen Ansätze.

Neben Diskussionen einzelner Standpunkte innerhalb der jüngsten "critical theory" finden sich eher 'traditionelle' Analysen einzelner literarischer Texte: Methodologie, Literaturanalyse und kritische Theorie wechseln sich auch innerhalb einzelner Aufsätze ab. Trotz solcher diffiziler 'Grenzbefragungen' gliedert Rowe die Aufsatzsammlung in zwei Teile: Der erste, mit "Theoretical Approaches" überschrieben, widmet sich neueren theoretischen Einflüssen innerhalb der American Studies, der zweite, "Textual Examples," analysiert in sechs Kapiteln Texte, literarische und visuelle, von Henry James bis zu der TV Serie Miami Vice und kann in mehrfacher Hinsicht als Versuch gelesen werden, die theoretischen und methodischen Vorgaben des ersten Teils umzusetzen.

Die vier Kapitel des ersten Teils widmen sich Themen, die in den letzten Jahren die kritische Diskussion des Faches geprägt haben und die den 'Richtungswechsel' der New American Studies kennzeichnen. Der Aufsatz über die methodischen Implikationen der kulturellen Differenz innerhalb der Vereinigten Staaten, erstmals bereits 1995 veröffentlicht, setzt sich mit Paul Lauters und Mary Louise Pratts Modellen des Kulturvergleichs und des Kulturkontakts auseinander. Während Rowe mit den Autoren die Ansicht teilt, die monolingualen und monokulturellen Mythen "Amerikas" seien zu überwinden (4), setzt er sich von Lauter in Bezug auf den methodischen Umgang mit kultureller Andersheit ab. Es soll erwähnt sein, dass Rowe zur Verwirklichung des 'postnationalen' Paradigmas die eigentlich selbstverständliche Rezeption und Aufwertung von wissenschaftlichen Arbeiten nicht-amerikanischer AutorInnen fordert.




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Die folgenden Kapitel erweitern das "Comparative U.S. Cultures Model," indem Themen wie der postmodernistische Fiktionsbegriff (2. Kapitel), Postnationalismus (3. Kapitel) und die amerikanische Rezeption der British Cultural Studies (4. Kapitel) bezüglich ihrer Implikationen für eine Umgestaltung der American Studies diskutiert werden. Einige der Argumente wiederholen sich hier. Allerdings gibt der erste Teil, in seiner Gesamtheit gesehen, einen beeindruckend umfassenden und luziden Überblick über die interkulturell orientierten und historisch verankerten theoretischen Ansätze der New American Studies, für die seit geraumer Zeit neben Namen wie Donald Pease und Amy Kaplan auch Rowe steht. Einige der Artikel des ersten Teils sind bereits vor einiger Zeit veröffentlicht worden und wurden – etwa in der Debatte um den kritischen Umgang mit ethnischer Differenz – intensiv in der amerikanistischen Literaturwissenschaft rezipiert, wodurch sie einigen Einfluß gewannen.

Ein Thema, das Rowe aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und das gewissermaßen ein Leitmotiv des Buches darstellt, ist die Legitimationskrise der American Studies. Warum, so werfen gesellschaftliche, akademische und globale Entwicklungen und Debatten der letzten Jahrzehnte die Frage auf, sollte der nationale Rahmen eine wissenschaftliche Disziplin bestimmen und eingrenzen? Kann unter den Voraussetzungen von Differenzdiskursen, beschleunigten globalen Vernetzungen und Migrationen eine Disziplin noch dem Anspruch auf Erforschung einer nationalen Geschichte in ihrer Gesamtheit gerecht werden wie die 'Gründungsväter' der American Studies dies einst postulierten?

Zum einen zeigt sich die Aufsplitterung in sich zunehmend spezialisierende und professionalisierende Forschungsfelder, wie etwa Ethnic Studies, African-American Studies, Chicano Studies und Gender Studies. Zum anderen hebt Rowe Befürchtungen innerhalb des Faches hervor, die breiter angelegten und global orientierten cultural studies könnten die 'national' ausgerichtete Regionalwissenschaft 'schlucken'. Sicherlich stellen sich die Fragen anders aus der Sicht europäischer und anderer nicht in den Vereinigten Staaten lehrender Amerikanisten. Gerade den Blick von Außen aber lässt Rowe nicht unberücksichtigt, vielmehr plädiert er für eine verstärkte Einbeziehung in das Forschungsfeld, um den national verengten und oftmals den Exzeptionalismus reproduzierenden, tendenziell 'provinziellen' Blick zu überwinden.

Als Antwort der New American Studies auf die Legitimationskrise entwirft Rowe verschiedene Ansätze und Modelle: So zum Beispiel eine Perspektive der "comparative cultural studies", die die Debatte um 'Weltliteratur' unter Berücksichtigung der internen kulturellen Heterogenität der USA wieder aufnehmen, sowie der entwurf einer "utopian conception of cultural studies" (66), die Grenzbefragungen und Post-Nationalismus erkunden und auch methodisch umzusetzen versuchen.

Die im zweiten Teil gesammelten Analysen widmen sich einer umfangreichen Fülle an Medien und literarischen Genres. Gemeinsam haben die Analysen den Bezug auf die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika und die internationale und interkulturelle Kontextualisierung. Auch die Befragung der Geschichte geschlechtlicher und sexueller Grenzziehungen ist leitender Ansatz einiger Aufsätze. Anhand eines Vergleichs anti-feministischer Tendenzen in der literarischen Verarbeitung Italiens in den Prosawerken von Nathaniel Hawthorne und Henry James erörtert Rowe nicht nur homoerotisches bzw. homosexuelles Begehren der Autoren, sondern weitet seine Argumentation aus auf kulturelle Verdrängungsdiskurse des Neunzehnten Jahrhunderts und der Moderne.




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Das Verhältnis zwischen Moderne und Postmoderne, besonders zwischen literarischem Modernismus und Postmodernismus, durchzieht thematisch die meisten der folgenden Kapitel. Erst wenn man neben dem Hochmodernismus ("high modernism") die parallele Schaffenskraft anderer Modernismen ("other modernisms", 136) berücksichtige, ergebe sich, so Rowe, ein schlüssiges Bild der Geschichte und Dynamik literarischer Ausdrucksformen und ihrer diskursiver Verknüpfungen. Rowe führt dies exemplarisch anhand eines Gedichtezyklus von Muriel Rukeyser aus dem Jahre 1938 vor. The Book of the Dead basiert auf Interviews mit Opfern und Familienangehörigen eines Industrieunfalls. Rukeysers Mischung aus Dokumentation und avantgardistischen Techniken experimentiere mit multipler Autorschaft. Das lyrische Werk entwerfe eine Poetik, die sich von anderen Repräsentanten des Modernismus wie T. S. Eliot, Pound und Faulkner unterscheide und 'modernistisch' absetze.

Andere Aufsätze diskutieren etwa anhand von Fernsehserien (von den 50er Jahren bis zur Gegenwart), wie Produkte der elektronischen Massenmedien kritisch zu 'lesen' seien: Hierbei werden die Standpunkte Brechts, der Frankfurter Schule, Jean Baudrillards und des Poststrukturalismus in Bezug zum Forschungsinteresse der American Studies gebracht. Ideologie und ihre komplexen kulturellen Verbreitungswege in der postmodernen Mediengesellschaft bilden auch Themen des Aufsatzes zur Verfilmung des Vietnam-Krieges und des Aufsatzes zur massenmedialen Verarbeitung des kubanischen Flüchtlingsdramas um den kleinen Elián González.

Rowes Aufsatzsammlung ist nicht als Kompendium der New American Studies zu verstehen. Doch beeindruckt die Vielfalt der Themen. Das Buch bietet einen umfassenden Einblick in die Ansätze und Diskussion der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre. Es bleibt anzumerken, dass Rowes The New American Studies noch vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 verfaßt wurde. Die darauf folgenden weltpolitischen Veränderungen treffen sich in vieler Hinsicht mit Rowes Ausführungen zur Rolle der USA als globaler Akteur. Gerade der in Rowes theoretischen und methodischen Ausführungen stark gemachte Begriff Postnationalismus und die Befragung von nationalen und kulturellen Grenzziehungen haben, global gesehen, neue Dynamiken entwickelt und eine ungeahnte Aktualität gewonnen – es ist zu erwarten, daß Rowe diese in den nächsten Publikationen nicht unberücksichtigt lassen wird.

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