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Matei Chihaia (Köln)



Veronika Krenzel-Zingerle (2003): Apollinaire-Lektüren. Sprachrausch in den Alcools. Tübingen: Gunter Narr. (Romanica Monacensia, 67)



Die Ähnlichkeit zwischen dem Titel dieser Dissertation und Rainer Warnings im Jahr 2000 erschienenen Proust-Studien ist kein Zufall: Bei Apollinaire wie bei Proust lässt sich nichts mit dem Schwung der Einmaligkeit lösen, fordert eine Interpretation den Plural beständigen Wiederlesens heraus. Diese moderne Hermeneutik ist bei Krenzel-Zingerle nicht der Gegenstand langer theoretischer Reflexionen, bestimmt aber den Umgang mit den Gedichten, die mit großer Geduld und Umsicht immer wieder auf Bedeutungsnuancen befragt werden. Dabei gelingt es bereits der Einleitung, in einer dichten, aber klar gegliederten Argumentation das Feld transparent zu machen, innerhalb dessen die Lektüren sich bewegen. Hier findet sich eine nähere Eingrenzung des Themas, das die Beschäftigung mit den Alcools, insbesondere aber mit den drei Gedichten Cortège, Les Fiançailles und Vendémiaire, begründet; die Interpretation von Mai und Nuit Rhénane erläutert – in Widerspruch zur These von Nathalie Goodisman Cornelius – die Entfernung Apollinaires von romantischen Vorgaben, wie es überhaupt ein Anliegen der Untersuchung ist, zu belegen, dass bereits die Alcools, und nicht erst die von den Surrealisten geschätzten Calligrammes moderne, nachromantische Lyrik sind. Dementsprechend werden die ausgewählten Gedichte – unter starker Einbeziehung der ästhetischen Schriften – als Programm einer neuen Dichtung entschlüsselt. Auch der Titel der Alcools enthält eine metapoetische Pointe, sollen sich doch die darin gesammelten Texte als ästhetisches Rauschmittel gebrauchen lassen. Damit stellt Apollinaire sich einerseits in die Tradition von Baudelaires Drogentexten, die für die französische Moderne konstitutiv sind, impliziert andererseits aber auch – über die Subsumtion von eucharistischem Wein und alchemistischen Destillationsprodukten – einen Synkretismus, den Krenzel-Zingerle innerhalb der Texte immer wieder herausarbeiten kann. Ihr Zugang zur amimetischen Ästhetik Apollinaires liegt darin, diese mit Hugo Friedrich auf die Wurzel der Baudelaireschen dekomponierenden und somit deformierenden "imagination" zu bringen, und sodann das Wechselspiel von Dekomposition und Rekomposition auf den einzelnen Ebenen des Textes – also unter möglichst vielen Hinsichten – nachzuweisen.

Für den Sprecher bedeutet das, dass er einerseits seine eigene Atomisierung, andererseits seine Selbst-Divinisierung betreibt. Auch in Bezug auf Zeit und Ort lassen sich entsprechend gegenläufige Tendenzen feststellen, die aus den Parallelen zur Theorie der kubistischen Malerei als Widerspruch von Simultaneität und Ubiquität bekannt sind. Entscheidend für die Lektüre ist schließlich die Dekomposition der Syntax, die den Akzent von der Satzgliederung auf die Versgliederung verlagert, sowie die Aufwertung der Simultangestalt und der daraus sich ergebenden außersyntaktischen Bedeutungs-Interferenzen. Gemäß des Prinzips "La vérité sera toujours nouvelle" ermöglichen gerade überraschende Verknüpfungen und Berührungen von Worten einen ästhetischen Genußss, der mit Jacques Derridas Formel des "glissement" als Versuch eines Ausbruchs aus der Ökonomie der Rede gedeutet wird.




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Was schließlich Versbau und Rhythmus bestrifft, so stehen die Alcools, bei allen Bezügen zur Tradition, auch hier jenseits der Schwelle zur Moderne. Das zeigt sich etwa daran, dass der Endreim seinen Vorrang verliert – eine weitere klare Absetzung von der Romantik, die übrigens bereits mit der Proliferation von Binnenreimen und Lauteffekten bei Baudelaire beginnt.

Aus dieser differenzierten Charakteristik der modernen Poetik Apollinaires ergibt sich ein besonderes Interesse für die Mythenrezeption in der Lyrik: dies nicht nur aufgrund der Massierung von Motiven aus der Mythologie und aus dem jüdisch-christlichen Kanon, sondern auch aufgrund der spannenden Frage, wie die Avantgarde, wie das Prinzip der Dekomposition und Rekomposition sich zu dem verhält, was den Inbegriff des Tradierten darstellt. Der Forschungsstand zu diesem Thema wird kurz und mit klar begründeter Kritik referiert, wobei Krenzel-Zingerle die eigene Position schon kontrastiv herausstellt. Ihr eigener Mythos-Begriff akzentuiert mit Hans Blumenbergs Konzept der "Arbeit am Mythos", dass sich die immer gleiche Geschichte erst in der Vielfalt von Varianten in verschiedenen Rezeptionshorizonten voll verwirklicht; mit Karlheinz Stierle charakerisiert sie modernen Mythen-bricolage als eine Rezeption, die der neuen Funktion widerständige, dysfunktionale Anteile auf ein Maximum steigern. So kann auch auf dieser Ebene ein "glissement" über das vorgefundene und durch das Weiterschreiben bestätigte Wissen hinausführen. Diese These bleibt nun nicht in dieser Allgemeinheit stehen, sondern konkretisiert sich durch eine Deutung von Apollinaires Programmschrift L’esprit nouveau et les poètes, anhand derer die "recht eigenwillige, nicht gerade konsistente Mythenkonzeption" (29) des Dichters selbst – als poetologischer Prototyp eines solchen bricolage – rekonstruiert wird.

Den Abschnitt beschliessen fünf Thesen zur Konstruktion neuer Mythen in den Alcools. Sehr durchdacht erörtern diese, inwiefern die besondere Mythenrezeption eine metapoetische Funktion erfüllt, also die Schaffung einer neuen Lyrik zu reflektieren hilft. Wird die Bewegung des "Gleitens" einerseits in Bezug auf den Umgang mit Mythos gefüllt, so verfolgt die Arbeit auch eine zweite Füllung, nämlich die Inszenierung von Wissen. Hier geht es nun mit Michel Foucaults Les mots et les choses darum, den Vitalismus, der für die Episteme des 19. Jahrhunderts verbindlich ist, zu Transgressionsmodellen – konkret zur Thematik des gewaltsamen Opfers – in Spannung zu setzen, wobei sich ein weiterer Kontext dieses Wechselspiels in den modernen Analysen von Subjektivität bei Nietzsche und Bergson andeutet.

Alles das wird in der Einleitung auf etwa 40 Seiten sehr dicht, aber dabei übersichtlich formuliert, als eine Thesenfolge, deren Fragestellung der ausführlichere Interpretationsteil treu bleibt. Die Gliederung der Arbeit folgt, gemäß der beobachteten Aufwertung der Verlaufsgestalt, der Anordnung und Strophenfolge der ausgewählten fünf Gedichte. Auch wenn die Lektüren nach inhaltlichen Gesichtspunkten betitelt sind, bleiben sie immer in Berührung mit Text, und zwar mit dem ganzen Text; diese Forderung leitet sich ebenfalls ausdrücklich aus dem Wechselspiel von Dekomposition und Rekomposition ab, das, wie Krenzel-Zingerle bemerkt, dem Interpreten verbietet, Zitate aus ihrem Zusammenhang zu reißen und damit eigene Deformationen einzuführen (39f.). Man versteht bei der Lektüre, dass der Effekt des "Gleitens" durch Sprünge leicht zunichte gemacht, die ästhetische Inszenierung und mythologische Bewältigung von Grausamkeit durch interpretatorische Gewaltakte schnell aus dem Feld geräumt würde. Die Autorin erweist sich aber nicht nur als gewandt im Finden von Fährten und Deutungshilfen, sondern auch in dem, was sich einer Spurensicherung am Tatort vergleichen lässt. Und wie alle modernen Ermittler zögert sie allerdings nicht, einzugestehen, wo sie nicht mehr weiterkommt.




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Der Titel weist darauf hin, dass der Hauptteil der Arbeit, der – unter seinem hermeneutischen Aspekt – nicht weniger in der Praxis des behutsame Lesens zu suchen ist, als in der differenzierten und souveränen Charakterisierung der Poetik der Alcools. Bei einem Thema wie dem Sprachrausch, der solches doch herauszufordern scheint, vergisst sich die Rede nie, bleibt immer klar, und bei aller Zurückhaltung treffend. Sehr sparsam geht sie mit Metaphern um, und wenn bestimmte Klangeffekte mit "goldene[n] Fäden in einem Teppich" verglichen werden (196), so verrät sich darin auch die Begeisterung und Liebe zum Text – leicht übertragbare Empfindungen, die beim Weiterlesen allmählich darauf drängen, Apollinaire wiederzulesen, Lektüre zu Lektüren zu fügen.

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