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Regine Brossmann (Stuttgart)



Alexandra Kleihues (2002): Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame D'Epinay und Voltaire. Würzburg: Königshausen & Neumann.



Die Dialogform entfaltet im Zeitalter der Aufklärung eine enorme Produktivität und wird zu einer der beliebtesten Gattungen. Bei der vorliegenden Monographie fällt als erstes die Auswahl der behandelten Autoren auf, die eine vergleichsweise wenig bekannte Schriftstellerin in eine Reihe mit drei 'kanonischen' Dialogautoren stellt. Es war der Sache nach wohl unumgänglich, auch den englischen Frühaufklärer Shaftesbury aufzunehmen als den eigentlichen Wiederentdecker und Anreger der philosophischen Dialogform, der auf Diderot einen prägenden Einfluss ausübte.Voltaire und Diderot wurden wegen ihrer 'Kanonisierung' als zwei der großen Protagonisten der Aufklärung aufgenommen; den dritten, Rousseau, klammert sie dagegen aus, wohl auch deshalb, weil Thomas Fries (1993) diesen bereits behandelt hatte. An seine Stelle tritt mit Madame d'Épinay eine durch Rousseau beeinflusste Autorin aus dem Umkreis der philosophes, die in ihren Erziehungsdialogen Conversations d'Émilie (1782; 1996) jedoch keineswegs etwa einfach Émile für die weibliche Erziehung adaptiert, sondern sich zumindest in einigen Aspekten auch recht kritisch mit Rousseau auseinandersetzt.

Am Anfang ihres Forschungsprojekts habe angesichts der wesentlichen Rolle, die Frauen als Gastgeberinnen und Gesprächspartnerinnen im realen gesellschaftlichen Leben des 18. Jahrhunderts spielten, unter anderem auch die Suche nach weiblichen Dialogautorinnen gestanden. Es fand sich eine Vielzahl von Autorinnen von Erziehungsbüchern in Dialogform, denen Kleihues jedoch wegen ihres katechetisch-didaktischen Charakters meist nur eine geringe literarästhetische Qualität zuschreibt und deshalb aus ihrer Auswahl ausschließt.

Aufgenommen wurde mit Madame d'Épinay dagegen eine Autorin, deren Conversations d'Émilie ebenfalls die (weibliche) Erziehung zum Gegenstand hat, jedoch in einer Form, die sie in ihrer Orientierung an der literarischen Tradition der Gattung ästhetisch wie pädagogisch als positive Alternative zum katechetischen Lehrdialog vieler herkömmlicher Erziehungsbücher des 18. Jahrhunderts sieht.

Damit gibt Kleihues' Untersuchung zugleich der Fiktion des mündlichen Gesprächs den Vorzug vor derjenigen des Briefwechsels, eine Form, die sie gleichwohl nicht ausschließt, da sie im 18. Jahrhundert ebenfalls zur Gattung Dialog gerechnet wurde.




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Mit den höchst unterschiedlichen Themen und Zielsetzungen der Dialoge – von der Diskussion von Deismus und Skepsis (Shaftesbury) bzw. von Theismus, Deismus und Atheismus über erkenntnistheoretische bis hin zu theaterästhetischen Fragestellungen (Diderot), von der exemplarischen Inszenierung einer neuen Pädagogik (Madame d'Épinay) bis hin zur polemischen Agitation gegen die Kirche (Voltaire) ist ein inhaltlich breites, ja geradezu repräsentatives Spektrum von Themen und weltanschaulichen Positionen im Zeitalter der Aufklärung vertreten – mit Konsequenzen für Form, Stil und Inszenierung des Dialogs. Ein heterogenes Textcorpus, das nicht leicht auf einen theoretischen Nenner zu bringen scheint. Gerade dies ist der Autorin jedoch in der vorliegenden Studie recht überzeugend gelungen.

Die Studie ist in fünf Kapitel untergliedert, darunter ein einleitender theoretischer Teil und vier weitere Kapitel, die jeweils den behandelten Autoren Shaftesbury, Diderot, Madame d'Épinay und Voltaire gewidmet sind; zum Schluss erfolgt eine dreiseitige Zusammenfassung der Ergebnisse.

Im ersten theoretischen Teil vermag die Autorin bereits in der einleitenden Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstandes die wesentlichen Fragen und Positionen, die auch sie selbst behandelt, geschickt anzusprechen. Schon durch diesen umfassenden Überblick über die bisher vorliegende Literatur zum Thema hat sie sich im Hinblick auf die künftige Forschung große Verdienste erworben.

Roland Mortier (1984) und Maurice Roelens (1972) werden zu Beginn als "die herausragendsten Wissenschaftler" gewürdigt, "die sich mit dem Dialog als Gattung im 18. Jahrhundert beschäftigt haben" (19). Als "[n]euere Dialogforschung" werden u.a. Studien von Suzanne Guellouz (1992), Stéphane Pujol (1994), Gabriele Kalmbach (1996), Hans Robert Jauß (1961; 1982) und nicht zuletzt die bereits genannte Studie von Thomas Fries (1993) vorgestellt und diskutiert. Michail Bachtins Thesen zu Dialog, Dialogizität sowie zum Korrektiv des Lachens (1979; 1985), die den engeren thematischen Rahmen sprengen, werden separat besprochen.

Die Autorin erklärt, dass ihr eigener theoretischer Ansatz wesentlich auf dem von Fries (1993) aufbaue und dies vor allem auch im Hinblick darauf, dass sie wie der letztgenannte "den Dialog der Aufklärung als "nicht nur formales Korrelat zur ‚Dialektik der Aufklärung'" [Fries (1993): 5] verstanden wissen will. Er stellt dem dialektischen Denkverfahren Hegels, aus dem sich die Schrift von Horkheimer und Adorno speiste, die Konstituenten eines dialogischen Denkverfahrens gegenüber." (23)

Die Dialogstimme müsse sich, um zu einer solchen zu werden, zuerst der Stimme des anderen unterordnen. Während Fries' Interesse nicht den Dialogtexten selbst gilt, sondern vielmehr dem "Nachdenken über den Dialog im 18. Jahrhundert, wie es sich in England, Frankreich und Deutschland artikuliert" (23), setzt sich Kleihues zum Ziel, ihr Corpus zeitgenössischer Dialogtexte im Lichte der von Fries betriebenen gattungstheoretischer Forschungen zu lesen und letztere solcherart interpretatorisch fruchtbar zu machen. Doch sind die Verdienste ihrer Studie bei weitem nicht darauf beschränkt: Durch ihre Auseinandersetzung mit den Themen Dialog und Sprachreflexion, Katechismus-Diskussion, sowie, eng mit den beiden anderen verbunden, Religionskritik als Sprachkritik sowie Dialog und Pädagogik, wird das Forschungsfeld beträchtlich erweitert. Ebenso weist Kleihues in den ausgewählten Dialogen die Spuren der Wirkungsgeschichte seiner antiken Vorbilder nach, d.h. der platonischen und ciceronianischen Dialoge.




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Das einleitende Theoriekapitel widmet sich den grundsätzlichen Fragen zum Dialog der Aufklärung. Kleihues setzt sich kritisch mit der These auseinander, dass "die Konjunktur des Dialogs, verstanden als traditionelle Lehrform, aus dem erzieherschen Anspruch, der die Aufklärung charakterisiert" (9) herzuleiten sei. Des weiteren widmet sich die Autorin der kritischen Auseinandersetzung mit der These, die Konjunktur des Dialogs in der Aufklärung sei als ein Abbild der zunehmenden öffentlichen Diskussionskultur in den Salons, Caféhäusern etc. des 18. Jahrhunderts zu verstehen. Diese These, wie auch die sie negierende Gegenthese, stellen einmal mehr die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und (historischer) Realität.

Die eine Position läuft Gefahr, die Eigengesetzlichkeit der Kunstschöpfung dem angenommenen imitativen Verhältnis zur Wirklichkeit zu opfern; die entgegengesetzte Position, die namentlich Kalmbach (1996) vertritt, lehnt Beweisführungen mit einem angenommenen Abbildungsverhältnis zwischen extrafiktionaler Diskussionskultur und literarischem Dialog von vorneherein als "ausgesprochen spekulativ und unsystematisch" ab.

Kleihues selbst schließt sich Kalmbach an, insofern sie Dialog und Wirklichkeit allenfalls ein Verhältnis gegenseitiger Anregung, nicht aber eines der imitierenden Abbildung zuschreibt. Kleihues möchte belegen, dass alle behandelten Dialoge nicht einfach die zeitgenössische Realität nachahmen, sondern vielmehr ihre antiken Vorbilder, die sokratischen Dialoge Platons, in zeitgenössischer Einkleidung wiederaufnehmen, mitunter (so bei Shaftesbury) in Verbindung mit einem zweiten antiken Vorbild, den philosophischen Dialogen Ciceros. Aus ihrer Studie erschließt sich außerdem, dass der Impuls für das Verfassen von Dialogen bei allen behandelten Autoren nicht so sehr von dem Wunsch nach Abbildung der zeitgenössischen Wirklichkeit als vielmehr von dem nach ihrer Reform (im weitesten Sinne) ausgeht. Die beste Widerlegung der These eines wirklichkeitsimitativen Ursprungs des Dialogs der Aufklärung (nicht seiner möglichen wirklichkeitsillusionistischen Ausgestaltung) präsentiert Kleihues jedoch in ihrem Kapitel zu Shaftesbury aus der Feder des letzteren selbst, welcher dem angehenden Dialogautor von der Abbildung des Wahren (d.h. der Realität) abrät und dieser eine Dialogpoetik des Wahrscheinlichen als des 'poetisch Wahren' entgegensetzt. Im Dialog solle sich nicht die Wirklichkeit spiegeln, sondern der Leser, der sich in gelungenen Dialogfiguren wiedererkennen könne. Dieser Vorzug des Wahrscheinlichen vor dem Wahren entspricht im übrigen auch bereits den Forderungen der klassischen Dramenpoetik, ja den generellen Forderungen der aristotelischen Poetik.1




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In enger Verbindung mit der Frage nach der Relation von dargestellter und tatsächlicher Wirklichkeit steht auch die Frage nach den "Inszenierungspotentialen" des Dialogs, d.h. inwieweit ein Dialog die Inhalte, über die gesprochen wird, zugleich auch vorführt. Diese Inszenierung erfolgt im Dialog kraft der performativen Funktion der Sprache, die nicht nur zuallererst die Illusionswelt des Dialogwerks, sondern auch das angestrebte Verstehen und Erkennen und damit neues Wissen hervorbringt. Angesichts dieser Einsicht, dass Wissen nicht nur gefunden, sondern auch und zuallererst mit Hilfe der Sprache hervorgebracht wird, stellt Kleihues die Frage,

ob in der Verwendung einer per se der Dogmatisierung entgegenwirkenden Form eine Reflexion dessen zu erkennen ist, was Horkheimer und Adorno als "Dialektik der Aufklärung" analysiert haben. Dies deutet sich etwa darin an, daß sich die für das Zeitalter typische system- und dogmafeindliche Haltung nicht nur gegen die mythisch-christliche Symbolordnung, sondern auch gegen deren Widerpart, die reine Wissenschaftlichkeit, richtet. (9)

Der Dialog praktizierte demnach Aufklärung im dialektischem Gegensatz der aufklärerischen Vernunft mit ihrer Antithese, den vielfältigen Formen von Nicht-Vernunft (zu denen z.B. Affekte, Erfahrungen und charakterliche Dispositionen oder auch äußere Bedingungen gehören), um zu verhindern, dass die Vernunft, die gegen die bisherigen Herrschaftsverhältnisse ankämpft, nun ihrerseits eine neue selbstherrliche Alleinherrschaft errichtet.

Ein solches antithetisches Begreifen des Aufklärungsprozesses schließt Rückgriffe auf frühere Epochen wie die Antike nicht aus, sondern im Gegenteil ein, nach Kleihues jedoch eher in Form von Reaktualisierungen ihres Erbes unter neuen Vorzeichen als in der einer rückwärtsgewandten Sehnsucht nach dem Verlorenen, etwa der Mündlichkeit der frühen griechischen Philosophie.

Entschieden kritisiert sie deshalb jene These als zu einseitig, die sich auf die Schriftkritik in Platons Phaidros beruft und die fiktionale Mündlichkeit des Dialogs – auch angesichts des rasanten technischen Fortschritts des Buchdrucks im 18. Jahrhundert – nur als eine nostalgische Rückwärtsgewandheit zur Unmittelbarkeit des mündlichen Gesprächs interpretiert. Eine solche Rückwendung war historisch nicht nur ohnehin zum Scheitern verurteilt, sie enthält auch den Selbstwiderspruch, dass die Kritik am Schrift- und Printmedium sich eben des bekämpften Mediums bedienen musste, um ihre Adressaten zu erreichen – ein Dilemma, das sich in der Geschichte der Medienkritik bis heute wiederholt.

Doch die eigentliche Widerlegung der auf Jauß (1961) zurückgehenden These von dem Bemühen um Entdifferenzierung von Kommunikation im Dialog, die im Kapitel über Voltaire näher ausgeführt wird, kann nicht nur auf einschlägige Voltaire-Zitate verweisen, sie argumentiert auch mit dem Wesen der Aufklärung selbst, die sich auf das Speichermedium der Schrift und deren objektive Untersuchbarkeit stützt und schriftlose Mündlichkeit, zumal diejenige der kirchlichen Predigt und Katechese, unter den Verdacht des Obskurantismus stellt: "Vielmehr beruht insbesondere die Säkularisierungtendenz der Philosophie auf einer Oralitätskritik zum Zwecke der Aufklärung über die fragwürdige Macht mündlich überlieferter Glaubensinhalte einerseits und der Chance zu wissenschaftlicher Kritik an der Heiligen Schrift andererseits" (42). Der Hypothese, Dialog und Schriftkritik seien ex origine miteinander verbunden, setzt sie kritisch ihre eigene zentrale These entgegen:




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Die spezifische Leistung des Dialogs, Wissen nicht allein zu vermitteln, sondern allererst hervorzubringen, ist rückführbar auf einen näher zu bestimmenden Einsatz der Sprache und ihrer performativen Qualität. Dieser ist nicht notwendig als Zeichen für eine Rückbesinnung auf Mündlichkeit, sondern als Hinweis auf eine geschärfte Aufmerksamkeit für die Funktionsweise von Sprache interpretierbar. (9)

Was die Frage nach einer möglichen Schriftkritik betrifft, so lasse sich diese nach Meinung der Autorin nur im Kontext der Entwicklung einer allgemeinen Sprach- und Zeichenkritik in der Aufklärung beantworten. Daraus folgt für sie eine allgemeine Auseinandersetzung mit Positionen der Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts, da der erreichte Stand an Sprachreflexion – und damit auch an Sprachskepsis – sich nicht nur in der Dialogliteratur niedergeschlagen habe, sondern auch selbst schon ein Motiv für die Wiederaufnahme der Gattung darstelle. Sie definiert dabei "sprachphilosophische Position" mit Tilman Borsche, auf den sie sich auch in ihren weiteren Ausführungen zu diesem Thema beruft: eine philosophische Position könne Borsche zufolge als eine sprachphilosophische identifiziert werden, wenn "alle Grundbegriffe des jeweiligen philosophischen Diskurses als im Kommunikationsprozeß entstehend und vergehend betrachtet werden, in dem sie – kontingenterweise – Bedeutung gewinnen" (267).

Die Autorin fasst ihre Hauptthese wie folgt zusammen:

Obgleich nur für Diderot theoretische Überlegungen in dieser Hinsicht dokumentiert sind, kann die Verwendung des Dialogs bei allen hier vorgestellten Autoren als Ausdruck einer sprachphilosophischen Reflexion interpretiert werden. Der Dialog stellt eine Antwort auf die Frage dar, wie Bedeutung intersubjektiv 'entsteht und vergeht'. Als unterschiedliche Varianten einer 'Inszenierung von Begriffen' führen die analysierten Dialoge unterschiedliche Prozesse der Bedeutungsbildung vor, sie zeigen, wie die Begriffe gleichsam zu leben beginnen. (267)

In der Wirkungsgeschichte der platonischen Dialoge im 18. Jahrhundert komme bei den (wenigen) Autoren, die – wie Diderot – Platon rezipierten, nicht die metaphysische, sondern die skeptische Lesart der platonischen Dialoge zum Tragen. Für die Wiederentdeckung der antidogmatischen wie auch der ästhetisch-poetischen Qualität der platonischen Dialogform beruft sie sich auf die neueren Arbeiten von Thomas A. Szlezák (1985) sowie auf die Vorlesungen Walter Paters zu Plato and Platonism (1967).




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Die oft als Motivierung der Dialogform betrachtete platonische Schriftkritik im Phaidros wird von den verschiedenen Richtungen der Platon-Interpretation sehr unterschiedlich gedeutet. Dass sie als Verweis auf eine esoterische ungeschriebene Lehre Platons zu verstehen sei, wie es noch im 18. Jahrhundert u.a. von Diderot angenommen worden sei und wie es auch die neuere Platon-Forschung unter Verwerfung der Thesen Schleiermachers z.T. wiederum annehme, betrachtet Kleihues als für ihr Forschungsinteresse eher weniger relevant. Für sie sind die Thesen der 'Anti-Esoteriker' wesentlich interessanter, die der indirekten Mitteilung, die "dem Logos zu Hilfe kommen müsse", ein Wissen zuordnen, das nicht geheimgehalten wird, sondern nicht sagbar sei. Dazu gehöre nach Wieland (1987) "vorprädikatives", "nicht-diskursives" oder "intuitives" Wissen, zu dem für Platon die vor- und außersprachliche Schau der Ideen zählt, aber auch das direkte und ganzheitlich-intuitive Erfassen einer (Gesprächs-)situation.

Sie selbst schließt daraus: "so liegt aus der Perspektive der Dialogformtheoretiker die Vermutung nahe, Platon habe im Dialog diese Gefahr einer kontextlosen Lektüre bannen wollen" (37), d.h. er versuchte der Generalisierung und Dogmatisierung von Aussagen vorzubeugen, die nur im spezifischen Realkontext eines Gesprächs gültig seien, zu dem die Personen des Sprechers und des Adressaten sowie die Gesprächssituation gehört, in der beständig deiktisch auf die beteiligten Personen verwiesen wird; die Dialogform suche diese Kontexte zu bewahren und so die Schriftform in der Schrift weitestgehend aufzuheben.

Sie selbst schließt sich auch der Auffassung Wolfgang Wielands an, dass sich Platons Schriftkritik "auch zu einer Sprachkritik ausweiten" ließe (Wieland 1987: 30), und steht auch der Ansicht Tilman Borsches nahe, Platon kritisiere die Schrift nur deshalb, weil sich hier das Mitteilungsproblem, das sich in jeder Form von Diskursivität stellt, am deutlichsten zeige. Platons Schriftkritik gründe in seiner Skepsis bezüglich des sprachlichen Zeichens und der Möglichkeit seines (vollkommenen) Verstehens, eine grundsätzliche Problematik der Kommunikation, die das schriftliche Zeichen nur radikalisiere. Kleihues formuliert ihre eigene These wie folgt:

Im Spannungsfeld von Wissen und Sprache verschiebt sich im 18. Jahrhundert das Zentrum des Interesses. Während Platon Wahrheit und Wissen allererst thematisierte und von hier aus auf die Sprache als Sekundärproblem blickte, konzentrieren sich die Dialoge der Aufklärung zunehmend auf die Sprache. Nicht mehr die Ideen sind im 18. Jahrhundert das Problem, sondern die Art und Weise ihrer Wahrnehmung im Verhältnis zur sprachlichen Aussagbarkeit. (41)

Zu dieser Verschiebung des Interesses habe die allgemeine Grammatik, "eine der einflußreichsten Wissenschaften des 18. Jahrhunderts" (40), nicht unwesentlich beigetragen. Diese "analysiert das Verhältnis von notwendig linear geordneter Sprache [...] einerseits und dem von ihr repräsentierten Denken, einer durch Totalität ausgezeichneten Repräsentation, andererseits" (40).




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Für den literarischen Dialog, der in einem Umfeld solcher Sprachreflexion entsteht, habe dies zur Konsequenz, dass er an Unbefangenheit verliere:

Ein Dialog, der im Umfeld einer sprachtheoretisch interessierten Philosophie stattfindet, kann nicht mehr in der gleichen Weise glücken wie sein antikes Vorbild, weil er – wie stark auch immer – von der Frage nach der Bedingung seiner Möglichkeit beherrscht ist. (40)

Was Shaftesbury betrifft, so besteht der neue Ansatz von Kleihues in der Analyse seines einzigen Dialogs The Moralists: A Philosophical Rhapsody (1711) im Hinblick auf gattungsspezifische Fragestellungen (so etwa auf den Zusammenhang zwischen der Wiederaufnahme der antiken Tradition der Skepsis und derjenigen der Dialogform) sowie im Nachweis der Vorbildwirkung von Shaftesburys The Moralists für die Dialoge Diderots, speziell für den von der Kritik bisher meist vernachlässigten frühen Dialog La promenade du sceptique.

Das Shaftesbury-Kapitel hat damit seinen thematischen Schwerpunkt bei dem Dialog The Moralists; andere Schriften Shaftesburys werden hauptsächlich zur Interpretation dieses Dialogs herangezogen, darunter die von Diderot übersetzte Inquiry upon Virtue and Merit, sowie auch die Essays A Letter Concerning Enthusiasm (1708; 1711), Sensus Communis (1711) sowie Soliloquy, or Advice to an Author. Kleihues behandelt die genannten Werke unter dem Gesichtspunkt, was sich daraus im Hinblick auf eine Dialogtheorie Shaftesburys entnehmen läßt, sei es in Form expliziter poetologischer Äußerungen, sei es implizit als ästhetisches Gestaltungsprinzip seines Dialogs, das im Übrigen von seinem philosophischen Gehalt nicht zu trennen sei.

Der Traktat der Inquiry behandelt das brisante Thema Atheismus und sucht die verbreitete Hypothese der Zeitgenossen, dieser führe notwendig zum Verlust der ethischen Begriffe, durch den skeptischen Zweifel zu entkräften, verbunden mit der Forderung, die Moral nichtmetaphysisch zu begründen. In A Letter Concerning Enthusiasm stellt Shaftesbury eine Theorie über das Lachen und den Spott als Heilmittel gegen falschen Ernst und Fanatismus vor, die in The Moralists ihre praktische Anwendung finde (Palemons Verachtung der Menschheit wird als unglückliche Verliebtheit entlarvt, d.h. die Abstraktion des Denkens dem Test der möglichen Rückführung auf eine allzu menschliche Motivationsebene unterworfen). In Sensus Communis (1711) wird die Existenz eben solch naturgegebener und universaler Übereinkünfte der Menschheit durch einen universalen Skeptizismus in Zweifel gezogen; es heißt dort auch: "There is nothing so foolish and deluding as a partial scepticism" (Shaftesbury, zit. nach: Kleihues 70–71).

In Soliloquy, or Advice to an Author erteilt Shaftesbury dem Dichter den Rat, er solle sich vor der Abfassung seines Werks zuerst mittels eines privaten mündlichen Selbstgesprächs in dialogischer Form selbst erforschen und sich so gleichzeitig von der eigenen Subjektivität reinigen ('evacuation'), bevor er das für schriftliche und zur Veröffentlichung bestimmte Gespräch, den literarischen Dialog, verfasse, in dem das Ich des Autors nichts zu suchen habe; an seine Stelle tritt die Subjektivität der fiktiven Dialogfiguren. Der Dialog stellt damit eine Form der Objektivierung von Gedanken dar, bei der der Autor selbst anonym und quasi unsichtbar zu bleiben hat. Anlass für die Reflexionen über den Dialog als literarische Form gibt ein Horaz-Zitat, in dem die philosophische Bildung des Autors durch das Studium der sokratischen Schriften empfohlen wird. Letztere charakterisiere nach Shaftesbury vor allem ihre poetische Wahrheit:




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Poetische Wahrheit gilt ihm als Maßstab für die Zeichnung von Charakteren, ihres Verhaltens, ihrer Stimmungen, ihres Temperaments und ihrer Verstandeskräfte. Mit der Qualität dieser Darstellung steht und fällt die Gattung, denn die Figuren 'verkörpern' zugleich die moralischen Themen: 'They exhibited 'em alive '. (54)

In The Moralists: A philosophical rhapsody diskutiert Shaftesbury Deismus, Skeptizismus und Atheismus als mögliche Positionen in Fragen der Religion. Dies erfolgt in Dialogen, die im geschützten privaten Raum des Landsitzes, in einer Kutsche sowie im naturnahen Raum des nächtlichen Parks stattfinden. Das mündliche Gespräch, dem – und das war das Neue – die arrangierende Hand des Autors nicht anzumerken sei, ist in ciceronianischer Manier in einen Brief integriert: Philocles, der 'Ruhmliebende', schreibt an seinen Freund Palemon, den 'Ringer', um ihn über den Inhalt seiner Unterredungen mit Theocles zu unterrichten, eine Form, die damit einen Dialog auf zwei verschiedenen Ebenen impliziert und den berichterstattenden Briefschreiber Philocles mit dem Problem der sprachlichen Repräsentation des Erinnerten konfrontiert, ein Problem, das er allein durch die Wahl der Gattung Dialog zu lösen vermag.

Um die Realitäts- und Fiktionsebenen weiter zu verschachteln, erfolgt dort unter anderem die Apologie von Shaftesburys Inquiry in ihrer dialogischen Besprechung durch Theocles als ihren Verteidiger gegen die von Philocles vorgetragenen Anklagen von kirchlich-orthodoxer Seite. "Shaftesbury formuliert damit eine Antwort auf die Sokratische Schriftkritik, denn er gibt dem 'herrenlosen' Werk binnenfiktional einen Autor, oder wenigstens einen würdigen Stellvertreter, zurück" (74). Gleichzeitig ist The Moralists dem Titel zufolge auch eine "Rhapsodie", eine Hymne bzw. ein episches Gedicht, denn "Shaftesbury läßt poetisch-vieldeutige Hymnen auf trockene Beweisführungen folgen" (268), was damit auch eine weitere, im 17. Jahrhundert dominierende Bedeutung von "rhapsody" abdecke, im Sinne einer Mischgattung, der Abfolge heterogener Bestandteile und des allgemeinen Fehlens einer systematischen Ordnung. Der Dialog erscheine – verglichen mit dem strengen Aufbau eines Traktats – notwendig ungeordnet, ermögliche aber damit gleichzeitig "die in dieser Textform mögliche (und vollzogene) Versöhnung von philosophisch-sytematischem Denken und poetischer Sprache" (87). Der poetisch-hymnische Charakter von Abschnitten der "rhapsody" verweise auf die – skeptisch diskutierten – Gedanken der dichterischen Inspiration im ekstatischen Zustand des Enthusiasmus, auf das Erlebnis der Natur (Sternenhimmel und nächtlicher Park) als Auslöser dieses privilegierten Zustandes sowie auch als möglicher Beweis für die Existenz eines Schöpfergottes – die deistische Entsprechung der christlichen Lehre, nach der die Seele Gott nicht per diskursiver Rede vernehme, sondern unmittelbar schaue.




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Doch wird dieses Element des Enthusiasmus (im positiven platonischen Sinne) durch die Begegnung mit der skeptischen Philosophie gebrochen bzw. in Frage gestellt, da die letztere dem ersteren seine platonisierenden metaphysischen Grundlagen potentiell entzieht sowie die Authentizität der sprachlichen wie der nonverbalen Zeichen des Enthusiasmus in Zweifel zieht (Theocles' naturschwärmerische Tirade im nächtlichen Park steht unter einem solchen Verdacht). Letztlich muss die Sprachskepsis die Transparenz des sprachlichen Zeichens auf die benannte Wirklichkeit hin anzweifeln, auch und gerade des Zeichens, das der Dichter im enthusiastischen Zustand (angeblich) unreflektiert produziere.

Doch vollziehe Shaftesbury nach Kleihues diesen sprachkritischen Schritt noch nicht konsequent, zu stark sei bei ihm noch der Glaube, dass der privilegierte Zustand des Enthusiasmus das grundsätzliche Repräsentationsproblem der Sprache außer Kraft setze. Es bleibe Diderot vorbehalten, die skeptische Sprachkritik hier konsequent zuende zu denken.

Eine weitere wichtige Komponente des Shaftesburyschen Dialogs sei auch die durch Cicero vermittelte skeptische "Academick philosophy", die inhaltlich zu einer Beschränkung der philosophischen Aussagen auf den diesseitigen menschlichen Erfahrungsbereich, d.h. zum Ausschluß der Metaphysik führe und deren Forderung nach einer Suspension des Urteils der voreiligen Parteinahme und der Sucht nach Hypothesen entgegenwirken soll. Sie habe aber auch Konsequenzen für die literarische Form bzw. rechtfertige theoretisch die Gattung des Dialogs: "Die Forderung nach der 'Anihilierung' des Autors hinter seinen Figuren, die Shaftesbury in Soliloquy aus poetologischer Sicht stellt, erhält in The Moralists ihre philosophische Rechtfertigung" (62).

Der theoretische Einfluss Shaftesburys sowie die stilbildende Wirkung, die The Moralists auf Diderot ausübte, behandelt das folgende Kapitel III ausführlich. In diesem Kapitel werden neben Diderots frühen Werken, die Shaftesbury noch sehr deutlich verpflichtet seien2 und dem ein ethisches Problem behandelnden Entretien d'un père avec ses enfants auch die Lettre sur les aveugles und die Lettre sur les sourds et muets behandelt, da nach dem Gattungsverständnis des 18. Jahrhunderts ein einzelner Brief als ein 'halber Dialog' begriffen wurde.3

In der Promenade du sceptique werden neben dem Deismus auch der Atheismus, der Spinozismus, der Skeptiszimus, der Pyrrhonismus und ihre jeweiligen Konsequenzen auf das Leben diskutiert. Bereits der Titel verweise auf eine wesentliche Eigenschaft der skeptischen Philosophie, nämlich ihre Ablehnung des linear-methodischen Darstellungsmodus und des philosophischen Systems, die Diderot teile und als Gestaltungsprinzipien seines Dialogs übernehme. Wenn Diderot in der Promenade du sceptique trotzdem Skeptizismus und Pyrrhonismus implizit verwerfe, dann deshalb, weil ihm der Skeptizismus zu vage erscheine und der Pyrrhonismus lebenspraktisch nicht durchführbar sei.




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Was die literarische Form des Dialogs betrifft, verwende Diderot wie Shaftesbury einen einleitenden Berichterstatter, Ariste, entscheide sich aber dann – anders als Shaftesbury – nicht für die episch-rhapsodische Form, sondern für die durchsichtige Verschlüsselung der Allegorie, die Shaftesbury als zu betont lehrhaft abgelehnt hatte. Dieser formale Unterschied hänge inhaltlich damit zusammen, dass Diderot den bei Shaftesbury noch präsenten Gedanken einer metaphysischen Inspiration des Menschen durch die Natur verwerfe bzw. durch seine Karikatur als mechanistisches Reiz-Reaktions-Schema ad absurdum führe. Von Shaftesbury übernehme Diderot jedoch das Spiel mit den Gattungen. Das Gespräch zwischen dem Evangelisten Marc und dem kritischen Heiden Ménippe verweist z.B. auf die menippeische Satire wie auch auf das Totengespräch, zwei verwandte Gattungen, die andere Traditionslinien des skeptischen Dialogs repräsentieren.

Wenn Diderots Promenade jedoch "überaus heterogen und unausgebildet" bleibe und deshalb "zum Teil mißglückt" erscheine (130), dann deshalb, weil das Spiel mit den Formen hier keine neue Form hervorbringe und weil antikisierende und zeitgenössische, allegorische und realistische Elemente sich als miteinander unverträglich erweisen. Diderot habe daraus gelernt und verwerfe von nun an die antike Einkleidung zugunsten einer rein zeitgenössischen, was für Le Rêve de D'Alembert auch aus seiner Korrespondenz belegbar ist (vgl. den Brief an Sophie Volland vom 31. August 1769 (Diderot 1955–1970, IX: 126).

Diderot, der in der Promenade noch sichtlich Shaftesbury nacheifere, finde bald zu einem eigenen Dialogstil, als dessen Formprinzipien Kleihues die 'Geschwätzigkeit' eines digressiven Stils, die semantische Aufladung wie auch die Umschreibung von Begriffen sowie eine Vorliebe für das Paradoxon und die Aporie ausmacht.

Während die Provokation der Lettre sur les aveugles in der impliziten Kritik an Religion und metaphysisch begründeter Ethik, konkret "in der Frage nach einer möglichen Abhängigkeit der Metaphysik und Moral von der Beschaffenheit der Organe" liegt (114 – 115), beschäftigt sich die Lettre sur les sourds et muets mit dem Verhältnis von Idee und sprachlichem Ausdruck:

Ausgehend von der These, daß die natürliche Ordnung der Ideen ("l'ordre naturel") nicht notwendig mit der grammatikalischen Ordnung der Sprache ("l'ordre d'institution") identisch ist, schließt Diderot, daß eine Idee im Modus der Gleichzeitigkeit, d.h. in simultaner Reizung aller Sinnerorgane, entsteht und erst durch die Sprache zerlegt wird. Die sprachlichen Zeichen ermöglichen also nicht nur, sie verändern und behindern auch die Verständigung. (116)

Diderot – einer der wenigen Autoren der Französischen Aufklärung, der Platon rezipierte – stelle nach dem Ende des Glaubens an die metaphysische Idee den in seiner Totalität erfassten Sinneseindruck dem zeitlichen Nacheinander der Sprache gegenüber. Die den Sinneseindruck gemäß der willkürlichen Ordnung der Grammatik zergliedernde Sprache repräsentiere diesen letzteren deshalb nur unbefriedigend. Doch gebe es letztlich keine symbolische Sprache, die die Idee nicht im Prozess ihrer Hervorbringung zergliedere, allenfalls in ihrem Resultat sei eine Annäherung an die Idee möglich. Die Malerei, aber auch das 'Tableau' auf der Theaterbühne, könnten im Gegensatz zur Sprache einen unmittelbaren Eindruck schaffen, den selbst die ausdrucksstärkste poetische Sprache nur schwach nachzuahmen vermöge, obgleich der Schriftsteller dieses (wenngleich unerreichbare) Ziel anstrebe.




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Solche Überlegungen seien auch in die Inszenierung des Diderotschen Dialogs mit eingegangen, der – wenngleich vermittelt durch die Sprache – mit der Evokation einer Gesprächssituation vor dem inneren Auge wiederum ein Tableau entstehen lässt.

Die Entretiens sur le Fils naturel, kritische Gespräche über das gleichnamige Schauspiel Diderots, bringen eine Dissoziierung der Autors in verschiedene personae mit sich ("Moi" und der Dramenautor "Dorval", letzterer ist zugleich der Protagonist des Fils Naturel, der bereits im Drama als dessen Autor auftritt), ein "Spiel mit Fragmenten seiner eigenen Realität" (33) und zugleich eine komplexe Verschachtelung der Erzähl- und Autorebenen, die die Autorin mit Gide als mise en abyme bezeichnet. "Konsequenter noch als Shaftesbury verstärkt Diderot damit den Spiegelcharakter des Dialogs auf dem Wege der fiktionalen Authentisierung" (134). "Moi" als Schriftsteller und Chronist seiner Unterredung sieht sich –

wieder zurückgekehrt in sein 'cabinet' – "vor ein Repräsentationsproblem gestellt, das dem der Sprache analog ist" (134), das sie wie folgt kommentiert:

Das in der Lettre sur les sourds et muets reflektierte Mittel gegen die Kälte der sprachlich-zergliedernden Kopie findet also seine Entsprechung im Dialog. Durch ihn wird die Wiederannäherung an die vergangene, nur noch erinnerbare, umfassende Erfahrung ermöglicht. (134)

Auch im Paradoxe sur le comédien widme sich Diderot sprachtheoretischen Reflexionen, die theaterästhetisches und philosophisches Denken aufs Engste miteinander verknüpften. "Deutlicher noch als in den Entretiens sur Le Fils naturel wird Theatralität zum Analysemodell für weiterreichende Fragen, sowohl in bezug auf gesellschaftliches Verhalten als auch in bezug auf den Repräsentationscharakter von Sprache" (150). Im Paradox der theatralischen Kommunikation werde nur das Paradoxon letztlich aller menschlichen Kommunikation sichtbar. Denn das Repräsentationsproblem stelle sich bei dem Oppositionspaar 'wahres Gefühl' vs. 'gestische Repräsentation' in analoger Weise zu dem von 'Idee' bzw. 'Sinneseindruck' vs. 'sprachliche Repräsentation'. Dieses grundlegende Repräsentationsproblem könne auch die mimetische Form des Dialogs letztlich nicht aufheben. Dies werde dem Leser auch auf der Formebene demonstriert, indem die Instanz eines Ich-Erzählers in den Dialog eingeführt werde, die Auskunft über stimmliche und gestische Zeichen der Dialogpartner "Le premier" und "Le second" erteilt, die Rede von "Le Premier" jedoch nur ausschnittsweise wiedergibt. Der Leser werde so nicht nur für die hinzugefügte, sondern gleichzeitig auch für die nun weggelassene Information sensibilisiert. "Die vorgeblich objektive Wiedergabe auf mimetische Art entlarvt sich dadurch als ebenso perspektiviert wie die betont subjektive der diegetischen Form" (153). Das Gegenargument zu dieser Kommunikationsskepsis bilde jedoch die Dialogform selbst: "Die Form des Dialogs liest sich mithin auch als Antwort auf den Zweifel an der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt" (151).




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Abschließend wird der Entretien d'un père avec ses enfants behandelt, ein Gespräch über die Frage, ob man unter bestimmten Umständen das geschriebene Gesetz im Namen des ungeschriebenen ethischen übertreten dürfe oder müsse. Diderots Ziel sei, "verschiedene Positionen in ihrem stärksten Widerspruch zu zeigen und auszuloten" (171). Der von Paradoxien durchzogene Dialog zeige die Problematik der einen wie der anderen Entscheidungsmöglichkeit auf, ohne eine abschließende Antwort vorzugeben. Der zentrale Begriff 'la justice' erweist sich dabei als sinnentleerte Worthülse, die auch für die entgegengesetzte Bedeutung stehen kann: summum ius summa iniuria.

Von allen von Kleihues analysierten Dialogwerken vollziehen Madame d'Épinays Conversations d'Émilie (1782) wohl am konsequentesten die Inszenierung (anstelle von Besprechung) ihres Themas, nämlich der Erziehung eines zwischen 5 und 10 Jahre alten Mädchens durch ihre Mutter, dagestellt in 20 Dialogen, die als zwanglose und wie beiläufige Plaudereien während der mit Stickereien, Spaziergängen und Landpartien ausgefüllten 'Freizeit' des Mädchens stattfinden. "Innovatives Erziehungskonzept und literarische Form bilden eine untrennbare Einheit" (223). Darin findet die Überzeugung der Autorin ihren Ausdruck, auf dem Gebiet der Pädagogik sei die abstrakte Theorie nur von geringem Nutzen, es zähle vielmehr das konkrete Beispiel: "Les préceptes généraux sont dans la science de l'éducation, comme dans toute autre science, de peu de ressource", schreibt sie im Vorwort zur zweiten und dritten Auflage der Conversations (Madame d'Épinay 1782: 48).

Bei aller Inszenierung von Erziehung auf der Ebene der Dialogfiktion lehnt Madame d'Épinay jedoch die bewusste Inszenierung von Erziehungssituationen durch den Erzieher (wie in Rousseaus Émile) in der (Fiktions-)Realität als kalkuliertes (Theater-)Spiel des Erziehers mit dem Zögling ausdrücklich ab. Anders als bei Rousseau begebe sich die Erziehungsperson bei ihr auf dasselbe Niveau wie das Kind, das eine gleichberechtigte Dialogpartnerin darstelle. Dem entspreche auch der Kreis der Adressaten: Das Buch wende sich sowohl an Eltern/Erzieher als auch an Kinder. Auch der Name "Émilie" leite sich im übrigen nicht von Rousseaus Émile her, sondern von der gleichnamigen Enkelin der Autorin. Ein Kommentar der Autorin, die ihr Werk gegen einen 'Kritiker' verteidigt, der durch die Parodierung der botanischen Metaphern zu Anfang des Émile ("jardinier") durchsichtig als Rousseau zu erkennen sei, wird im Schlussdialog inszeniert, in dem sich die fiktionale Mutter wieder in die Autorin zurückverwandelt, die sich an ihre Leser(innen) wendet und sie vor dem Versuch einer Erziehung nach Art des Émile abseits der Gesellschaft warnt, da eine solche ihrer Meinung nach die Entwicklung der geistigen wie sozialen Fähigkeiten des Kindes verhindere.




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Kleihues betrachtet die Conversations jedoch nicht in erster Linie im Hinblick auf ihre Rolle in der Geschichte der Pädagogik bzw. der Frauenbildung, sondern untersucht sie vorrangig unter ästhetischen Gesichtspunkten als literarischen Dialog:

Wie Shaftesbury oder Diderot zeigt sich auch Madame d'Épinay einerseits den Verhältnissen der realen Welt verpflichtet und hält andererseits an einem Ideal gleichberechtigten Austauschs fest. Den Charakter eines Lehrgesprächs, den Altersunterschied, die einseitige Befehlsgewalt und das Bildungsgefälle signalisieren, schwächt die Autorin ab, indem sie sich am Formgesetz des philosophischen Dialogs orientiert. (223–224)

Kleihues führt im Folgenden den Nachweis, dass auch die Conversations d'Émilie in der Tradition des sokratischen Dialogs stehen. Dies zeige sich nicht allein in der Anwendung der Methode der sokratischen Mäeutik, was nicht nur bereits gegenüber einem Kind möglich sei (wie ja bereits Platon im Menon vorführt), sondern auch darin, dass Madame d'Épinay dem 'unwissenden' Zögling mitunter einen Rollentausch zugesteht, der die Erziehungsperson (die Mutter) bzw. den Leser zu einer Erkenntnis führt. Auch die Erziehungsperson dürfe und solle gegebenenfalls ihr Nichtwissen zugeben. Dies schließe auf metafiktionaler Ebene auch die Dialogautorin mit ein, die doch die Macht hätte, ihren Figuren nur beantwortbare Fragen in den Mund zu legen, aber offenbar bewusst darauf verzichtet.4 Umgekehrt kann auch Émilie gerade durch die 'Unlogik' ihres kindlichen Denkens der Mutter bzw. dem Leser zur Erkenntnis verhelfen.5

Zu einem sokratischen Dialog gehören inhaltlich auch skeptisch-kritische Züge. Bei Madame d'Épinays Darstellung der Erziehung eines Kindes werde die implizite Kritik an den vermittelten Normen nicht der erziehenden Mutter in den Mund gelegt, sondern sondern allein dem Kind selbst. Bei allem Hintersinn seiner nur scheinbar kindlich-naiven Antworten setzt das angegebene Alter das Mädchens (zwischen 5 und 10 Jahren) hier jedoch den repräsentativen wie den reflektiven Möglichkeiten des Dialogs Grenzen: "Die Gleichberechtigung der Gesprächspartnerinnen wird mit dem Eindruck eines seinem Alter geistig vorauseilenden Kindes bezahlt" (205).

In dem Kapitel über Madame d'Épinay widmet sich Kleihues ausführlich der Kontroverse 'Dialog vs. Katechismus', d.h. freies Gespräch vs. auswendig gelernte Fragen und Antworten nach Art des katholischen Katechismus zur religiösen Unterweisung von Kindern und Laien. Dessen Form war auch von zahlreichen weltlichen Erziehungsbüchern übernommen worden. Kontroversen über den Sinn oder Unsinn der Katechismuslehre wurden im 18. Jahrhundert sowohl innerhalb als auch außerhalb der katholischen Kirche geführt. Die innerkirchliche Katechismuskritik, als deren bedeutendsten Repräsentanten Kleihues Claude Fleury nennt, begreift sich als Kritik an einer Form von Pädagogik, die das Auswendiglernen vor das Verstehen stelle und die den Lehrstoff und seine Sprache nicht dem intellektuellen Niveau von Kindern anpasse, sondern sie mit unverständlichen scholastischen Begriffen konfrontiere. Denn Fleury sieht das Verstehen als unabdingbare Vorbedingung für den Glauben.




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Doch auch die Ebene des Gefühls soll angesprochen werden, religöses Empfinden aber nicht mit autoritärem Gestus befohlen, sondern vielmehr auf indirekte Weise inspiriert werden, etwa durch das Erzählen biblischer Geschichten. Dieses innovative pädagogische Konzept, das bei Fleury mit dem biblisch orientierten Catéchisme historique (1679)6 – das der Theologischen Realenzyklopädie (1977) zufolge "zu einer der bedeutendsten Lehrbuchschöpfungen" (182) geführt habe, sei in seinen Grundprinzipien von Madame d'Épinay für ihr bürgerlich-säkularisiertes Erziehungsmodell übernommen worden. Dies äußere sich in ihrer mit Rousseau geteilten Ablehnung des Auswendiglernens von Büchern und unverstandenen Begriffen als einem falschen Schriftgebrauch sowie auch in ihrer Privilegierung der sokratisch-indirekten Methode der Vermittlung von Erkenntnis wie auch in der indirekten Aufforderung zum angestrebten Verhalten, die den autoritären Charakter abmildert.

Fleurys Kritik der Sprache religiöser Unterweisung habe auch bei den Aufklärern ein nicht unbeträchtliches Echo gefunden und sei u.a. in Rousseaus Nouvelle Héloïse7 und auch in Voltaires Dialoge eingegangen, wo sie freilich beide Male zu einer allgemeinen Kritik an Kirche und Christentum ausgeweitet wird.

Das Kapitel über Voltaire behandelt eine ausgewählte Untergruppe der zahlreichen, meist kurzen und polemischen kirchen- und religionskritischen Dialoge Voltaires. Ausführlicher besprochen werden Le Dîner du Comte de Boulainvillier, Entretien d'un sauvage et d'un bachelier (1761) und allen voran der Catéchisme chinois (vgl. Voltaire 1966 und 1968) der als ein weiteres Element die Rezeption des Konfuzianismus einbringt. Voltaires Kirchenkritik scheint der Skepsis-These der Autorin zunächst eher entgegenzustehen, scheint sie doch in ihrer polemischen Schärfe, ihrer propagandistischen Absicht und den vielfachen Variationen ein und desselben Themas ("Écrasez l'infâme !") selbst schon wieder dogmatische Züge anzunehmen. Doch weist die Autorin auch hier die skeptischen Wurzeln der Kirchen- und Religionskritik dadurch nach, dass es meist das Ziel der Dialoge sei, ihren oft bis hin zur Karikatur stereotypisierten Gegner – den katholischen Theologen – zum Eingeständnis seines Nichtwissens zu bringen. Die Kirche behauptet, dass sie ein dogmatisiert-unumstößliches Wissen über jenes Absolute besitze, das der Mensch nicht erkennen, sondern nur glauben könne – für Voltaire eine Anmaßung, die gerade durch den angeblich Unwissenden (den thrakischen Bauern Dondindac, den türkischen Gärtner, den Wilden etc.) auf sokratische Weise destruiert werden soll.

Der kirchlichen Katechisierung suchte Voltaire einen aufgeklärten Catéchisme de l'honnête homme entgegenzusetzen, eine Sammlung deistischer Schriften, die – trotz aller Differenzen zu Rousseau – auch dessen Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars aus dem 4. Buch des Èmile enthielt und die zusammen mit anderen religionskritischen Werken in den Recueil nécessaire (1765) aufgenommen wurde.




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Ein wesentlicher Teil von Voltaires Kritik zielt auf die Sprache des Christentums. Diese Kritik sei keine der Schriftlichkeit, sondern vielmehr eine der Oralität kirchlicher Glaubensvermittlung. Der Kirche wird vorgeworfen, sie habe sich stets darauf verstanden, die verführerische Macht des gesprochenen Wortes und des begleitenden Rituals zur Überzeugung Unwissender einzusetzen, während die Schrift von ihr – so unterstellt Voltaire – seit ihren Anfängen bewusst unter Verschluss gehalten worden sei, um ihre rationale wissenschaftliche Kritik zu verhindern. Denn solche sei nur der Schrift entgegenzusetzen, nicht aber der nicht-rationalen Überredungskraft des liturgischen Rituals:

Im Bereich der Religionskritik wird die Verweigerung von Schriftlichkeit im 18. Jahrhundert nicht als eine philosophische Strategie der Inszenierung von Mündlichkeit verstanden, sondern als eine christlich-apologetische Haltung, die sich mangels positiver Beweise auf magische Praktiken und Autoritätsbehauptungen zurückzieht. (247)

Voltaires Kritik der religiösen Sprache im engeren Sinne äußert sich einerseits als Kritik unverständlicher scholastischer Begriffe, die die Beziehung zwischen mot und chose verunklären. Nach Kleihues habe Voltaire Teile seiner Kritik der kirchlichen Sprache uneingestandenerweise von seinen Gegnern übernommen, neben Fleury auch von Pascals Lettres Provinciales, in denen die subtil-unverständliche Fachsprache der jesuitischen Kasuistik polemisch destruiert wird.

Voltaires Sprachkritik sei jedoch weit umfassender als nur eine solche der theologischen Fachsprache, da es ihm allgemein um die Beziehung zwischen Wort und Sache geht und er somit den alten Streit zwischen nominalistischer und realistischer Sprachphilosophie unter neuen Vorzeichen wieder aufleben lässt.

Dies legt Kleihues anhand des Catéchisme chinois dar, einem Gespräch zwischen einem chinesischen Prinzen und einen konfuzianischen Philosophen, das in vorchristlicher Zeit situiert wird. Der philosophischen Wahrheitssuche nach den Grenzen des Wissens fehlt hier ein direkter Gegner, denn der Konfuzianer gibt auf die Nachfrage des Prinzen "Que dois-je entendre quand on me dit d'adorer le ciel ?" zu, dass er ihm keine nähere Antwort geben kann, und er wird von ihm für seine Aufrichtigkeit gelobt. Gerade hier, in der raum-zeitlichen Verschiebung und jenseits der oberflächlichen Polemik, kann sich die implizit antichristliche Sprachkritik entfalten: " Die nominalistische Entlarvung der christlichen Universalien bildet die Grundlage der Voltaireschen Christentum-Kritik. Erst durch die sprachkritische Anfechtung der christlichen Dogmen werden ihre Inhalte zu bloßen 'opinions', die öffentlich diskutiert werden können" (251)

Die Sprache von Voltaires Dialogen sei dagegen einer "Reduktion von Abstraktion und Komplexität" (266) verpflichtet. Worte wie "bon" oder juste", auf die sich die genannten Dialogfiguren berufen, "sind keine absoluten Werte, sondern bleiben sprachliche Symbole, die auf das Absolute, auf dessen Annahme Voltaire gleichwohl nicht verzichten kann, nur verweisen können" (266). Voltaires Dialogfiguren seien "Zeugen einer universellen Wahrheit", "die sie selbst nicht sind oder sagen, sondern auf die ihre Rede gleichsam durchsichtig sein soll" (266).




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Kleihues findet in ihrer Schlussbetrachtung zu der Einsicht, der Dialog umreisse die Möglichkeiten wie auch die Grenzen aufgeklärter Vernunft. Diese letztere wird im Dialog durch den fiktionalen Darstellungsmodus und die ihm inhärente Bindung der Aussagen an die Kontexte von Sprecher- und Adressatenfiguren, Situation und Gesprächsverlauf so weit relativiert, dass dies sie davor bewahrt, sich dogmatisch und einseitig und absolut zu setzen. Kleihues resümiert:

Weder die Vernunft selbst, noch das, worauf sie außerhalb ihrer selbst sich bestätigend bezieht, wird im Dialog absolut gesetzt. Durch die Bindung an verschiedene Sprecher bleibt der aufklärerische Vernunft-Diskurs im Dialog subjektiv gefärbt und kann deshalb keine absolute Gültigkeit beanspruchen. Andererseits erfährt er dank der Instanz des Anderen, seinem Zuhören und Verstehen, einen Geltungsanspruch. Dialogische Auseinandersetzung ist damit sowohl Bedingung als auch Begrenzung aufklärerischen Vernunftvertrauens. [...] Weder geben die Autoren ihren erzieherischen Anspruch preis, noch vertrauen sie gänzlich auf die vollkommene Einsichtigkeit des rationalen Arguments. (269)

Die Autorin der vorliegenden Monographie hatte, bedingt durch die Verschiedenartigkeit der Werke der vier ausgewählten Autoren, ein sehr heterogenes Textcorpus zu bewältigen, an dem sie ihre eingangs besprochenen Thesen systematisch exemplifiziert. Es ist ihr erstaunlich gut geglückt, was die umfassende Tragfähigkeit einer Dialogtheorie, die auf der Sprach- und Zeichentheorie des 17. und 18. Jahrhunderts fußt, eindrucksvoll belegt. Sie hat somit einen Ansatz gewählt, der sich als umfassend genug erweist und den sie flexibel genug zu handhaben vermag, um den einzelnen Autoren und Werken gerecht zu werden, wobei sie jedoch bei aller interpretatorischen Arbeit am einzelnen Autor und Werk niemals den Gesamtkomplex ihrer Thesen aus dem Gesichtsfeld verliert und ihn auch angesichts der Heterogenität der besprochenen Texte konsequent durchhält, ohne jedoch die Interpretation der Einzelwerke einer zu starren Theoriebildung oder die Theorie den Einzelwerken zu opfern.

Die recht ausführlichen Darlegungen über den religionspädagogischen Reformansatz von Claude Fleury im Kapitel über Madame d'Épinay überraschen vielleicht in einem Werk über den Dialog der Aufklärung, ebenso der Exkurs über Pascal in einem Kapitel über Voltaire, doch ist es ein Verdienst dieser Studie, dass die Antwort der philosophes auf die kirchliche Gegenseite, die ihre Rezeption voraussetzt, hier kein blinder Fleck ist. Kleihues vermag die Benutzung von Fleurys pädagogischer Sprachkritik in der sprachphilosophischen Religionskritik für Rousseaus Nouvelle Héloïse direkter nachzuweisen als für Voltaire. Für durchaus glaubwürdig hält die Rezensentin auch die These eines uneingestandenen Einflusses der Lettres provinciales auf Voltaire (und vielleicht auch auf andere Aufklärer), da die ebenso brilliante wie aggressive antijesuitische Polemik dieses brieflichen wie mündlichen Dialogs stilistische Vorbildfunktion hatte und ungewollt der aufklärerischen Sprach-, Religions- und Kirchenkritik Argumente lieferte.




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Es stellt zweifellos ein Verdienst von Kleihues' Monographie dar, den wesensmäßigen Zusammenhang zwischen der Wiederentdeckung der Dialogform und derjenigen der skeptischen Philosophie konsequent aufgezeigt zu haben. Die Autorin hatte bereits zu Anfang die Wiederaufnahme der antiken Tradition der Skepsis angesprochen, und dies ausgehend von der Frage nach einer skeptischen Lesart der platonischen Dialoge als den – zusammen mit den ciceronianischen Dialogen – bedeutendsten antiken Vorbildern des Dialogs der Aufklärung.8 Ausführlich behandelt Kleihues die antike Tradition der Skepsis im Kapitel über Shaftesbury, der sich ausführlich auf sie beruft, und die sprachphilosophischen Reflexionen Diderots. Doch auch in den Kapiteln über Madame d'Épinay und Voltaire gelingt es der Autorin, diesen Ansatz fortzuführen, auch wenn sich die Texte dafür auf den ersten Blick weniger anbieten.

Sie gewährt so einen kleinen Überblick über das weite Feld skeptischer Kritik, das die Aufklärung des 18. Jahrhunderts eröffnet hatte. Skeptischer Zweifel manifestiert sich unter anderem gegenüber der Transparenz des sprachlichen wie des gestischen Zeichens auf seinen Sinn hin wie auch gegenüber der Möglichkeit vollkommener Verständigung, gegenüber gesellschaftlichen Normen wie gegenüber dem Erfolg pädagogischer Belehrung, gegenüber Kirche und Christentum, ja selbst gegenüber dem exklusiven Geltungsanspruch der wissenschaftlichen Rationalität. Sprach-, Zeichen- und Vernunftskepsis sowie Moral-, Religions- und Pädagogikskepsis werden bei aller Spezifik der jeweiligen Bereiche als Teile eines Gesamtphänomens "Skepsis" verstanden, das sich bevorzugt im wesensmäßig vielstimmigen Medium Dialog äußern kann, in dem die Figuren sprechen und der Autor sich (zumeist) des eigenen Urteils enthält. Damit wird der Ausdruck einer skeptisch-kritischen Haltung neben "Sprach- und Zeichenkritik" oder "didaktischem Anspruch" zu einem weiteren gemeinsamen Merkmal, das Kleihues in allen behandelten Dialogen nachweist.

Kleihues' Darlegungen gehen insgesamt wesentlich über die Monographien ihrer Vorgänger Thomas Fries (1993) und Gabriele Kalmbach (1996) hinaus, auf deren Erkenntnissen sie zwar sichtlich aufbaut, sich jedoch gegenüber den beiden letztgenannten nicht zuletzt durch ihre größere Konzision und Systematik auszeichnet.


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Anmerkungen:

1 Angesichts der Ablehnung, die Aristoteles in der Aufklärung als Vertreter der nun diskreditierten "Systemphilosophie" erfährt, geht Kleihues darauf jedoch nicht ein. Ihre Ausführungen ließen jedoch u.U. den Schluss zu, der Dialog radikalisiere die aus den dramentheoretischen Debatten der Klassik bekannte Forderung , das Wahrscheinliche gegenüber dem Wahren zu privilegieren - während Diderot auf der Bühne wirklichkeits-nah illusionistischen Konzepten zum Durchbruch verhilft.

2 Z.B. La Promenade du sceptique.

3 Zu dieser Auffassung der Gattung Dialog vgl. Hirzel (1895: 305).

4 Dies wird in einer mise en abyme aufgezeigt: Émilie spielt 'Erziehungsdialog' mit ihrer Puppe und kann deren Frage "qu'est-ce que c'est que l'esprit ?" nicht beantworten, die sie ihr doch selbst in den Mund gelegt hat. Sie wendet sich an ihre Mutter, die antwortet: "C'est donc un grand malheur de dire: Je ne sais pas cela ?", während Émlie darüber reflektiert, ob ihr Fehler nicht darin bestand, als doch prinzipiell allmächtige Spielleiterin eine unbeantwortbare Frage einzubringen. Kleihues' Kommentar: "Madame d'Épinay signalisiert an dieser Stelle ein Autorbewußtsein, das sich der unumschränkten Macht über die Äußerungen ihrer Figuren begibt" (204); was wohl auch heißen soll: das sich den dem Thema wie der Gattung innewohnenden Notwendigkeiten unterordnet.

5 Auf die Frage ihrer Mutter, was sie tue, wenn die Stimme ihres Gewissens zu ihrem Handeln Nein sage, erwidert Émilie : "Oh, je lui apprendrai bien à dire, et encore bien haut: Oui " (Conversations d'Émilie, 1996/1782).

6 Während die früheren katholischen Kathechismen - als Antwort auf die Katechismen Luthers - in der Tradition der Summa doctrinae christianae des Petrus Canisius (1556) standen, orientiere sich Fleurys Cathéchisme historique (1679) an der durch die Bibel verbürgten Geschichte des Christentums. Letzterer enthält als Einleitung den Discours sur le dessein et l'usage de ce catéchisme, in dem ein religionspädagogisches Reformkonzept dargelegt wird, dessen Programmatik das Lehrbuch freilich nicht völlig gerecht werden könne.

7 Julie erklärt, ihre Kinder lernten den Katechismus nicht, und begründet dies St. Preux gegenüber damit, "vous ne voulez pas que leur foi ne soit qu'en paroles, ni qu'ils sachent seulement leur religion, mais qu'ils la croyent, et vous pensez avec raison qu 'il est impossible à l'homme de croire ce qu'il n'entend point." (Rousseau 1959–1995, II: 583). Rousseau legt hier Julie die pädagogische Sprachkritik Fleurys in den Mund und weitet sie zur allgemeinen Kritik der religiösen Sprache aus, die in eine inhaltliche Religionskritik übergeht: denn welchen Verständnisses religiöser Begriffe seien auch Erwachsene fähig, wenn sich das 'Referenzobjekt' (Gott, Mysterien der Religion etc.) dem menschlichen Erkenntnisvermögen entzieht ?

8 Sprach- wie vernunftskeptische Positionen der Aufklärung rekurrieren nach Kleihues letztlich (fast) alle in irgendeiner Form auf das Scio, ut nescio des platonischen Sokrates, auf skeptische Lesarten von Platons Dialogen sowie auf schon antike skeptische Weiterführungen von platonischem Gedankengut im Skeptizismus der Neueren Platonischen Akademie. Andere Traditionswege und Gattungen der Skepsis werden im Rahmen der Fragestellungen dieser Arbeit eher nur am Rande erwähnt, wie etwa die menippeische Satire philosophischen Inhalts sowie das Totengespräch. Diese skeptisch-satirische "Konfrontation von Diskursen" (Fries 1993:17), die Raum und Zeit aufhebt, war in Thomas Fries' Studie noch vergleichsweise ausführlich besprochen worden, Kleihues erwähnt sie jedoch um der Einheit ihrer Argumentation willen nur am Rande, so im Zusammenhang mit Diderots Promenade und einigen religionskritischen Dialogen Voltaires in dieser Tradition, z.B. Marc-Aurèle et un recollet (231). Weitere skeptische Strömungen, darunter der Zweifel und die Sprachphilosophie der Sophistik, werden nur im Zusammenhang mit Platons Unterfangen ihrer Widerlegung erwähnt, u.a. wohl auch deshalb, weil Kleihues' Hauptthese vom Repräsentationsproblem der Sprache auf sie nicht anwendbar ist. Denn für die Sophisten existierte kein vorsprachliches Erkennen, das erst sprachlich abgebildet werden müsste. Eine andere Form der Skepsis ist der Pyrrhonismus, der sich als Gründerfigur auf Pyrrhon von Elis (ca. 360 - 270 v. Chr.) und auf die Schriften von Sextus Empiricus beruft. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch der Pyrrhonismus in Diderots Dialogformen Spuren hinterlassen hat - und zwar über die Rezeption der pyrrhonistischen Vorbilder der Ablehnung der Systemphilosophie zugunsten einer scheinbaren Unordnung der Gedanken. Man vergleiche dazu Diderots Abhandlung des Themas im Encyclopédie-Artikel "Pyrrhonienne ou sceptique Philosophie" (Encyclopédie, Ed. (b), Bd. 13: 614), der bei aller Verwerfung des 'pyrrhonisme outré' ein überschwängliches Lob der pyrrhonisch inspirierten Montaigneschen Essais enthält, sowie dazu auch den einschlägigen Aufsatz von Jean-Claude Bourdin (1999). Da die vollständige Berücksichtigung aller dieser skeptischen Strömungen jedoch vermutlich den Rahmen einer Monographie bei weitem gesprengt hätte, musste sich Kleihues für eine Traditionslinie entscheiden, die sie konsequent verfolgt hat.

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