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Armin Kyros Marschall (Hamburg)



Wo der Hund begraben liegt...
Antonio Tabucchis "Il filo dell’orizzonte" als Krimi oder Woran scheitert der Leser?



Wennlein – Wennlein im Gehör:
was ist das Loch im Nadelöhr?

 

Antonio Tabucchi's "Il filo dell'orrizonte": a Detective Story?
After a brief deconstruction of Antonio Tabucchis "Il filo dell'orizzonte" as a classic crime novel, a German recipe for a cake of cookies and chocolate (called "cold dog"), serves to fill an until now unfilled gap. As an alternative to other interpretations, this poetic rather than analytic reading saves the reader's innocence. Otherwise, if interpretation means explaining the novel by constructing e.g. psychological causality, the interpret is connected with the implicit reader, who will be found guilty in killing the protagonist... If it is true, what Eco says about the missing unwritten story - that a real detective inquiry should show that actually we, the readers are guilty - Tabucchi has indeed written literary history.


Zum Einstieg

Liest man Antonio Tabucchis Erzählung 'Il filo dell’orizzonte' [= 'Il filo', 2002] daraufhin, woran der Leser scheitert, dann steht man als Leser vor einer komplexen Aufgabe. Denn im Grunde wird mit der Frage impliziert, was Lesen bedeutet. Anders gesagt: Der Leser scheitert an der Frage, wenn er nicht weiß, was erfolgreiches Lesen bedeutet. Und wenn er erfolgreich ist, scheitert er nicht. Es ist also ein Paradox, wenn ich herausfinde, woran der Leser scheitert, weil ich als Leser nicht gescheitert sein werde. Umgekehrt stellt das Paradox den wissenschaftlichen Spielraum, den ersten Rahmen, mit dem ich arbeiten kann. So lässt sich das Scheitern mit einem simplen Bedingungssatz umschreiben: 'Der Leser scheitert, wenn...' Dann befinde ich mich als Leser in der Beobachtung 2. Ordnung, der herausfindet, dass der Leser 1. Ordnung an etwas, an X scheitert. Wenn das X variabel ist oder sich wiederholt, wäre der Idealfall, das an als Konstante zu eruieren. Das X wäre tendenziell Teil der histoire, das an eher Teil der discours, es wäre der strukturellen Machart des Textes eigen. Dieses an, d.h. die Machart des Textes zu beschreiben, ist also die Aufgabe, die Erfolg versprechend scheint – wenn sie nicht zum Scheitern verurteilt ist.




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Der zweite Rahmen leitet sich vom Bezug zum klassischen Kriminalroman ab, mit dessen Modell 'Il filo' konfrontiert wird. Die Novelle wird auf der Folie gattungstheoretischer und literaturhistorischer Aspekte gelesen. Der methodologische Effekt ist die Beschreibung der diskursiven Positionierung von 'Il filo' zum klassischen Kriminalroman. Dieser Rahmen dämmt die oben beschriebene Aufgabenstellung ein. Legt man die beiden Rahmen übereinander, ergibt dieses zwei konkrete und simple Hypothesen, die wie folgt lauten: 'Der Leser scheitert, wenn er 'Il filo' als Kriminalroman lesen will.' Oder: ''Il filo' scheitert als Kriminalroman, wenn der Leser ihn nicht als solchen lesen will.' Anders gesagt stellen sich die Fragen: Unter welchen Bedingungen ist 'Il filo' ein Kriminalroman? Und unter welchen ist er keiner? Vor Beginn der Analyse möchte ich einige kommentierte und unkommentierte Prämissen vorausschicken:

Angenommen, das Buch befindet bei 1000 Lux sich in ca. 40 cm Abstand von den Augen des Lesers entfernt; der Leser hat keinen Augenfehler und seine Blickspanne beträgt 5 Grad, mit der er einen Textausschnitt von einem Radius von rund 3,5 cm fasst; die Zapfen im gelben Fleck fürs Scharf- und Farbigsehen sind gesund und funktionieren ebenso gut wie die Stäbchen fürs Schwarz-Weiß-Sehen; die eigene Lesegeschwindigkeit beträgt durchschnittliche 220 bis 240 Wörter pro Minute; die Umgebung ist frei von Störfaktoren und redundanten Reizen – dann liegt eine ergonomisch gut beschaffene Lesesituation vor, in der der Leser nur noch seine saccadischen Augenbewegungen kontrollieren muss und qua Subvokalisation den Text in der vertrauten Sprache auf sein gestelltes Ziel hin aufnehmen braucht.1 So viel zu den physiologischen Prämissen für perzeptiv erfolgreiches Lesen.

Text ist – wie eine Karte –vorerst nichts anderes als eine zweidimensionale Oberfläche, eine Struktur, die um die Dimensionen zunehmen kann, die der Mensch dem Text im Prozess des Lesens zuweist. Auch der Schriftsteller ist ein Lesender, wenn man annimmt, dass das Eigentliche beim Dichter im Mund geschieht: Das Wort, das Zeichen geht seiner Bedeutung voraus.

Wer den Witz überliest, verliert sich an die Sachlichkeit.

Wenn der Ariadne-Faden gerissen ist, dann gibt es dafür, dass der Krimi wie ein Labyrinth2 erscheint (tut er das denn vorher?) zwei Gründe: einen objektiven, den Text betreffenden oder einen subjektiven, den Leser betreffenden. Für den ersten Fall kann der Leser nichts. Der Text ist weniger komplex als kompliziert konstruiert, unterschlägt Informationen, sein Stil ist redundant, kryptisch u.ä. Für den zweiten Fall kann der Text nichts. Der Leser isst oder schläft schlecht, vermisst seine Liebste oder ist von der Lektüre gelangweilt, überfordert u.ä.

Der Text kann, wenn und weil er allen Lesarten Objekt und Maßstab ist, immer Einspruch erheben – wenn er könnte. Er kann sogar bei seinem Autor Einspruch erheben – wenn er könnte. Steht der Text einmal, ist es in Wirklichkeit nämlich nicht die Lesart, die den Text verändert, sondern der Text, der die Lesart beeinflusst, weil er sie anbietet – und das bis zur linguistischen Permeabilität: Der Text als das Andere bleibt sich außerhalb der Lesart gleich.3 Glaubt man dem, wird der Text zu einer Art Beurteilungsinstanz, die dem Leser immer wieder ins Gewissen redet. Der Leser als Literaturwissenschaftler befindet sich in einem Dilemma: Auf der einen Seite ist er der Literaturwissenschaft verpflichtet, auf der anderen Seite will er sich dem Text widmen. In ihm baut sich also eine quasi paradigmatische Dialektik von Unschuld und Schuld auf,4 die auf der Figurenebene im Kriminalroman quasi syntagmatisch verhandelt wird. Die paradigmatische Dialektik spielt sich auf der discours-Ebene ab, ihr syntagmatisches Korrelat auf der histoire-Ebene.




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"Il filo dell’orizzonte" als Kriminalroman und als Nicht-Kriminalroman

'Il filo' ist kein Detektivroman. Denn gleich zu Beginn treibt Spino nicht die Suche nach dem definitionsgemäßen 'Whodunit?' – 'Wer hat’s getan?' an, sondern die Suche nach einem 'Whoishe?' – 'Wer ist er?'. Das 'Whodunit?' impliziert die Identität des Opfers als Opfer. Spino jedoch sucht nicht nach dem, was das Opfer zum Opfer macht, sondern nach der Identität des Toten und löst ihn damit von seiner Opferrolle ab. Dadurch werden die kriminologischen Kategorien, die zur Definition eines Krimis herangezogen werden, vage. Denn paradoxerweise ist das Opfer ja dennoch Opfer. So berichtet die Zeitung, dass Carlo Nobodi Opfer einer Polizeirazzia wurde (vgl. ebd.: 30–31): "prima di fuggire (e questo è forse il lato più oscuro della vicenda) hanno sparato a un loro stesso compagno." (ebd.: 30) Es liegt hier also ganz offiziell und nicht nur aus der Perspektive Spinos kein Unfall, sondern ein Fall vor, in dem Carlo Nobodi möglicherweise Opfer eines Verbrechens geworden ist.

Diese offizielle Angelegenheit bleibt für den Leser solange präsent, bis Corrado, Spinos Freund bei der Zeitung "Gazzetta del Mare" (ebd.: 14), ihm vor dem Ende eines Telefonats, also fast nebenbei, am Ende des 14. Kapitels, sagt, dass der Fall mit der Beerdigung des Toten abgeschlossen sei: "'[…] Il magistrato ha disposto l’inumazione, il caso è archiviato.'" (ebd.: 76) Offiziell wurde der Fall ad acta gelegt. Eine willkürliche Ordnung wurde hergestellt. Der Tote und das Opfer finden ein gemeinsames Grab. Doch Spino verhält sich so, als sei der Fall noch nicht abgeschlossen, weil es ihm anscheinend gar nicht darum ging und geht, diesen zu lösen. Das Ereignis war eher Auslöser für etwas anderes. Doch schon die Vermutung, was dieses andere ist, gibt nach Ecos Definition der Geschichte den Anschein einer Kriminalgeschichte.5

Jede Vermutung und jeder Ansatz eröffnet einen Leseweg, der gleichsam die Lesart bildet. So liest Geerts 'Il filo' als eine Auseinandersetzung mit dem Tod: "Il filo dell’orizzonte è un libro sulla morte, e per dirlo subito in parole banali, sulla vita come morte e sulla morte come vita." (Geerts 1993: 115) Auch Tabucchi sagt in Korrespondenz zu Geerts, dass es sich bei 'Il filo' um eine Auseinandersetzung mit dem Tod handelt:

Io ho apprezzato molto le considerazioni del professor Geerts su quanto riguarda l’archivazione, l’archeologia che, credo, un motivo abbastanza ricorrente nella mia narrativa […] ma appare principalmente in questo romanzo, che è un romanzo sulla morte. (Lanslots/Roelens 1993: 151–52)

Auch wenn sich diese beiden Aussagen vom Autor und vom Professor decken, erscheint mir jedoch viel interessanter, was Tabucchi zuvor im Nebensatz über die Lesart von Geerts sagt: "Grazie al professor Geerts intanto, che ha compiuto un itinerario, un attraversamento, un percorso di un libro a cui io sono sentimentalmente molto legato, che è Il filo dell’orizzonte." (Lanslots/Roelens 1993: 151) Die Lesart von Geerts beschreibt er als eine Art 'Reiseweg, Durchquerung, Pfad'. Allen drei Paraphrasen wird ein unbestimmter Artikel vorangestellt, d.h. also, dass auch andere Routen, Wege und Durchgänge möglich sind. Der Roman ließe sich z.B. auch als Identitätssuche, als Gottesbeweis oder eben als Kriminalroman lesen. Die Machart des Romans scheint also von Grund auf darauf angelegt zu sein, auf der discours-Ebene Mehrdeutigkeit zu produzieren. (Und worin versteckt man Eindeutigkeit, wenn nicht im Produzieren von mehr, sich konkurrierenden Eindeutigkeiten?) Deshalb erscheint der Roman auch wie ein Labyrinth, in dem jede Lesart als Weg unweigerlich zur Einbahnstraße oder zur Sackgasse werden kann.




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Der Weg beginnt mit einer Entscheidung zwischen Möglichkeiten und genau jene ist man gefordert zu machen – und sei es auch keine zu machen. In diesem Fall kann sie sowohl eine ästhetische als auch eine ethische oder aber auch eine kombinatorische sein. Auf der histoire-Ebene muss Spino die Entscheidungen treffen, und zwar um so mehr, als das der Leser sie bisweilen nicht mitbekommt, auf der discours-Ebene ist der Leser für sie verantwortlich, und zwar um so mehr, als dass am Ende das Leben Spinos davon abhängt. Auf der histoire-Ebene trifft Spino bezüglich des Opfers folgende intuitive Entscheidung: "Lo ha visto uscire dal suo nascondiglio e mettersi volutamente nella traiettoria delle pallottole cercando l’esatta balistica che gli portava la morte" (ebd.: 99)

Spino entscheidet sich dafür, dass Carlo Nobodi sich selbst in die Schussbahn gestellt hat. Der freiwillige Akt, sein Leben aufzugeben, entzieht dem Opfer seinen Opferstatus im kriminologischen Sinn. Der Grund ist: "aveva stabilito un nesso; attraverso di lui le cose che sono avevano trovato il modo di disegnare la loro trama." (ebd.: 99) Durch diese entschiedene Annahme wird Nobodi wieder zum passiven Opfer: 'durch ihn haben die Dinge [...] eine Art und Weise gefunden ihre Handlung zu vollenden.' Doch diese Opferrolle lässt sich nicht mit kriminologischen bzw. forensischen Kategorien fassen. Wenn man überhaupt eine Kriminologie sehen will, dann müsste man den Sachverhalt der mörderisch ominösen "cose" als eine Art metaphysischen Krimi oder als kriminelle Metaphysik betrachten. Von einer anderen Perspektive ließe sich 'Il filo' dann als epistemologischer Roman lesen, der hier einen Konnex zum Kriminalroman schafft und dadurch die Gattungsgrenzen aufbricht. 'Il filo' wäre dann eine diskursive Auseinandersetzung mit Epistemologie und Phänomenologie. Darum geht es mir aber nicht, sondern lediglich um die Beschreibung einer Unterwanderung des klassischen Krimischemas. Das 'Opfer' Carlo Nobodi wird durch eine Paralipse ("Lo") eingeführt: "Lo hanno portato." (ebd.: 19) Er wird also wie Spino, "lui" (ebd.: 10), mit einem kataphorischen Pronomen eingeführt, als sei vorausgesetzt, dass der Leser ihn schon kenne. Bei Spino wird er nicht enttäuscht. Noch im selben Kapitel wird offengelegt, dass es sich um Spino handelt. Bei Carlo erfahren wir mit Spino vom ersten Zeitungsartikel (ebd.: 31), dass es sich um einen Carlo Noboldi handelt. Dann korrigiert sich die Zeitung im zweiten Artikel (ebd.: 38), und aus Carlo Noboldi wird Carlo Nobodi: "un nome falso, significativamente ricalato sull’inglese 'nobody'" (ebd.: 38)

Spino gelangt durch seine Recherchen nicht zu Carlo Nobodis wahrer Identität. Die Leerstelle ist Leerstelle geblieben, auch wenn sie durch einen anderen Namen ersetzt wurde. Dabei fungierte Spino nicht als Detektiv. Die Informationen, die er erhält, haben quasi keine Systemänderung zur Folge, d.h. eine Information verweist auf die nächste, wie ein Zeichen auf ein anderes, ohne jedoch irgendeine Art von kriminologischer Evidenz oder Detektion zu erzeugen. Die Entscheidung, dass sich Carlo Nobodi freiwillig in die Schussbahn gestellt hat, folgt keiner Detektion oder Deduktion. Sie ist ein Konstrukt von Spinos Vorstellungskraft, die nicht bewiesen ist oder sich bestätigt. So gesehen kann man Spino noch nicht einmal Versagen als Detektiv vorwerfen, denn schließlich ist er überhaupt keiner.




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Die Kategorien, die einen Krimi zu dem machen, was sein Genre ihm abverlangt: Detektiv, Opfer, Verdächtige, Verbrechen etc., werden von Anfang an durch die Subjektivierung von Spinos Sichtweise (durch die interne Fokalisierung auf ihn) verfremdet. Spino verklärt Carlo Nobodi als Opfer dahingehend, dass er der Vergessenheit und der Anonymität überlassen wird, wenn man seiner nicht gedenkt: "'Ma non si può lasciar morire la gente nel niente', ha detto Spino, 'è come se uno morisse due volte.'" (ebd.: 51)

Damit behauptet Spino eine Ethik, derer er sich im Gespräch mit Corrado versichert, und durch die er sein Handeln rechtfertigt. In anderen Worten: 'Wer die Existenz eines Gewesenen vereitelt, der tötet ihn (ein zweites Mal).' Glaubt man Spino, wird Carlo Nobodi erst durch einen zweiten Tod zum Opfer. Jeder kann potenziell zu den Verdächtigen, zur outgroup gezählt werden, auch Spino selbst. Es geht ihm hier wiederum nicht um die Umstände, wie Carlo Nobodi ums Leben kam, sondern darum, dass die Nihilisierung seiner Existenz aus der sozialen und individuellen Erinnerung ein Verbrechen ist. Der forensische Sachverhalt wird, und damit auch die Kategorien des klassischen Krimis, verfremdet. Ein klassischer Krimi mit klaren Kategorien liegt nicht vor. Der Leser würde enttäuscht daran scheitern, wenn er 'Il filo' als Kriminalroman lesen wollte. Die Verwirrung jedoch, die daraus entsteht, was es nicht ist (nämlich ein klassischer Krimi), lässt den Leser vermuten, worum es denn sonst gehen könnte. Jede Vermutung kann einen Lese-Weg einschlagen, auf dem es wieder zu Vermutungen und Entscheidungen kommen wird. Das macht 'Il filo' jedenfalls im Sinne Ecos – zu einem Kriminalroman.


Wo ein 'Kalter Hund' begraben liegt

Die offensichtlichsten Leerstellen in 'Il filo' sind die Lücken zwischen den Kapiteln. Die daraus folgende Frage lautet: Wie kommt Spino von A nach B? Zum Beispiel: Wer gibt ihm die Information, dass er in der "farinataia" an eine Information kommt. Peppe Harpo? Faldini? X? Auf der histoire-Ebene findet man keine Antwort. Wir sind mit Brüchen konfrontiert, die man ohne die Hilfe des Erzählers nicht kitten kann. Doch er ist auf Spinos Seite: ein personaler Erzähler, heterodiegetisch mit interner Fokalisierung. Zusammen verhalten sie sich so, als wollten sie des Rätsels Lösungsweg bis zum Schluss bewahren, um sich ja keine Blöße zu geben, darin Edgar Allan Poes Figur Dupin verwandt (Poe 1989), der am Ende seine einzelnen Schritte erklärt, als sie sich bestätigen: Hier jedoch bestätigt sich gar nichts. Und der verschwiegene Lösungsweg ist es wohl dann auch nicht gewesen.




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Im Zusammenhang mit Leerstellen zur Produktion von Akausalität, d.h. als Verschleierungs- und Verwirrstrategien, möchte ich das Füllen einer Leerstelle vorschlagen, die so gewagt ist, dass sie literaturwissenschaftlich kaum begründbar ist. Narratologisch ergibt es keinen Sinn, dafür aber aus poetischer oder semiotischer Perspektive. Es handelt sich um die letzten Sätze des 10. Kapitels:

Ma proprio in quel momento, non per finzione, ma reale dentro di lui, una voce infantile chiama distintamente: 'Biscotto! Biscotto!'. Biscotto è il nome di un cane, non può essere che così. (ebd.: 58)

Klopp zählt dieses Erinnerungsmoment zurecht zu den Aporien der Novelle. Doch finde ich es viel interessanter, in welche kontextuelle Beziehung Klopp diesen Augenblick stellt, bzw. wie er ihn 'färbt':

Additional aporia in this novel include the mention of a traumatic reaction to a cowboy movie at the cinema Aurora when Spino was a child (27), memories of the dog 'Biscotto' from a similar period in his life (58), and painful recollections of a scene when a younger Spino and his siblings were cruelly and repeatedly described by a malicious playmate as 'tre piccole orfanelli' (53). (Klopp 1998: 435)

Wenn man die paraphrasierenden Wörter liest wie "traumatic reaction", "memories […] from a similar period of his life", "painful recollections", dann geht es hier um Psychologie. Hier geht es um Demütigung eines kindlichen Selbstwertgefühls oder Narzissmus. Insofern Klopp die drei genannten Aporien in einen psychologischen Zusammenhang stellt, der die histoire-Ebene betrifft, fragt er nach einer psychologischen Kausalität. Er horcht die Figur auf ihre Krankheit ab, die der Text entstellen oder verbergen müsste. (Konsequenterweise sollten Freud, Erikson oder Goffman über seine Schulter schauen.) Doch Klopp belässt es bei der Frage.

Auch Vickermann sieht auf der histoire-Ebene die Darstellung eines psychologischen Problems: das eines Identitätskonflikts. Bezüglich des 'Biscotto'-Zitats konstatiert sie: "und doch bleibt am Ende des zehnten Kapitels (und damit an zentraler Stelle des Romans) die grundlegende Erfahrung der Entgrenzung des eigenen Ich in der Identifizierung mit einem anderen." (Vickermann 1998: 271) Die Aporie besteht in der Unmöglichkeit sich mit einem anderen zu identifizieren, ohne die eigene Identität völlig aufzugeben. Anders gesagt: Eine absolute Empathie, d.h. die Ersetzung der Identität des Lebenden durch die eines Toten führt in den Tod; die Andersartigkeit in Form von Leben jedoch sträubt sich dagegen. Die Suche nach der "Identität des Opfers [...] das bekannt ist, aber nicht eindeutig bestimmbar werden kann", führt zu dem Erkenntnisproblem, "was über einen anderen erfahrbar und sagbar ist." Dieses werfe Spino "zwangsläufig" auf ihn selbst zurück (vgl. Vickermann 1998: 274).6 Im Unterschied zur Frage von Klopp wird hier nicht nach einer psychologischen Kausalität gefragt, sondern paradox mit psychologischer Kausalität geantwortet, welche die histoire-Ebene erklärt. Dabei ist die Aporie der Identifikation eine Art Ursache für die Positionierung der eigenen Identität als eine Art Wirkung. So oder so: Das Schaffen von Kausalität ist, wie ich noch zeigen werde, nicht ganz ungefährlich.




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Was mich an der zitierten Stelle interessiert, ist nicht so sehr der Wunsch, einen narrativen Zusammenhang herzustellen, der die Psychologie des Protagonisten auf der histoire-Ebene rekonstruiert, sondern die discours-Ebene so zu erklären, dass die Konstruktion der Akausalität zum Vorschein kommt. Und genau an der oben zitierten Stelle müsste ein Schild hängen, mit der Aufschrift: Caveat lector! Cave canem!7 Natürlich ist die folgende eine sehr deutsche Lesart, die entgegen dem Klischee, das im Ausland umgeht, humorvoll ist – denke ich. Ganz ironisch hat es der Leser nicht mit einer den Text erklärenden Referenz auf ein Wunder der Literatur und auch nicht mit einem psychologischen Parameter, sondern mit einer Süßigkeit zu tun, die dem Magen seines nach Information hungernden Geistes kaum in den Sinn kommt:

Addiert man die drei "Biscotto! Biscotto!", "Biscotto" aus dem Zitat, werden sie im Plural zu: 'biscotti'. "Biscotto" heißt bekanntlich 'Keks'. Die Wiederholung eines Wortes bricht normalerweise seinen semantischen Sinn. Hier wird der semantische Wert von 'Keks' durch Wiederholung gelockert und dann als Name eines Hundes verkauft. Als Plural jedoch, nach der naiven Zählung, geht es primär nicht so sehr um den Hund namens 'Keks', sondern einfach nur um 'Kekse'. Wenn man hier nun eine Art Umkehrspiel – ein 'gioco del rovescio' – spielt, d.h. eine Inversion vornimmt, dann geht es nicht mehr um einen 'Hund' namens 'Keks', sondern um 'Kekse' namens 'Hund'. Angenommen es ist so – es kann nicht anders sein: "non può essere che così." –, dann kann es sich meines Wissens nach nur um die Süßigkeit 'Kalter Hund' handeln. 'Kalter Hund' ist eine Art Kuchen aus Keksen, Schokolade und anderen Zutaten.8 Ich persönlich halte ihn für eine Speise, die eher Kinder essen, sowohl was den Geschmack betrifft als auch die Zubereitung. Es ist fast so, als ob die "voce infantile" genau das andeutet: Die innere Stimme ruft nach der Süßigkeit ihrer Kindheit und dadurch wird die Stimme plötzlich kindlich.

Wenn also 'Kalter Hund' die Assoziation eines Kindes ist, oder umgekehrt mit Kind, Kindheit assoziiert wird, dann ließe sich nach Roman Jakobsons (1979) 'poetic function' daraus folgern, dass die paradigmatische Achse der Selektion auf der syntagmatischen Achse der Kombination projiziert und die Botschaft dadurch verschlüsselt wird. Noch kryptischer erscheint sie dadurch, dass die Lösung ein deutsches und kein italienisches Rezept ist.9 Man hätte es hier mit einem Kreuzworträtsel, eine Art Rebus oder Vexierbild im sprachliterarischem Kontext zu tun, dessen Bestätigung in der Horizontalen und Vertikalen zu ergänzen wäre. Anders gesagt: Die Behauptung bestätigt sich (analog zu 'Waagerecht' und 'Senkrecht' von Kreuzworträtseln) in Similarität und Kontiguität des Romans.




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So kann man auch für die Makrostruktur argumentieren. Es gibt auf der histoire-Ebene keinen expliziten Hinweis, wie und warum Spino zur "farinataia" gelangt. Doch 'Kalter Hund' macht es möglich. Wo sonst würde man diesen Kuchen herstellen, wenn nicht dort?! Die "farinataia", d.h. der Raum aus dem 16. Kapitel ist seine semiotische und poetische Konsequenz. Auch hier hat sich die 'poetic function' niedergeschlagen: Die Assoziation vom 'Kalten Hund' mit einer Bäckerei, wo sie "torte e farinate" (ebd.: 81) servieren, konstituiert als Paradigma das Syntagma des Handlungsverlaufs. Wenn also mit: "una voce infantile chiama distintamente: 'Biscotto! Biscotto!'. Biscotto è il nome di un cane, non può essere che così." (ebd.: 58) wirklich dieses Rezept gemeint ist, dann kann man auch eine Beziehung zwischen der Leckerei und der Bäckerei herstellen. Wie gesagt: Es kann nicht anders sein. Es gibt jedoch einen definitiven Einspruch gegen diese 'Kausalität': Denn eingestandenermaßen wäre die offenkundigste Bestätigung, wenn Spino in der "farinataia" 'Kalter Hund' oder wenigstens 'Tartufo al cioccolato' bestellen würde, doch er bestellt "torta di ceci" (ebd.: 81). Aber er ist ja auch kein Kind mehr. Dass er sich also nichts Süßes bestellt, um klischeemäßig seiner Kindheit zu gedenken o.ä., spricht wiederum für eine Distanz zu der identitätskritischen Retrospektive im 10. Kapitel.

Bis hierhin sagt die These nichts über die histoire aus: Weder löst sie den Mordfall, noch löst sie Spinos Identitätskonflikt, noch ist sie ein philosophisches Theorem über den Tod, noch ist es ein Gottesbeweis. Es ist einfach nur ein Rätsel im Rätsel. Mit der Folge, dass die Geschichte noch verwirrender wird und keine Kohärenz schafft, weder auf der histoire-Ebene noch auf der discours-Ebene. Der Gedanke hat deshalb eher einen poetischen Wert als einen analytischen, weil ich dadurch schließlich eine Lesart hinzufüge und damit ganz auf Tabucchis Seite bin. Eindeutigkeit und Bedeutungen verstecke ich am besten, indem ich sie in Mehrdeutigkeit und in Bedeutungsmöglichkeiten auflöse. Der eine Leseweg löst sich durch das Anbieten von vielen auf. Bis zu dem Punkt, wo er so überflüssig erscheint, dass er am besten kaschiert wird. Etwa im Sinn einer Umkehrung: Es kann nicht anders sein, weil es auch ganz anders sein kann.

Den fehlenden Zusammenhang auf der histoire-Ebene, das Unwissen des Lesers darüber, was Spino von einem Ort zum anderen führt, macht die discours-Ebene wett. Als These, die man am Text durchspielt, führt die Entschlüsselung oder auch dieses Hineinlesen nicht zu einer Klärung der histoire-Ebene. Der Leser erfährt nicht, warum und wie Spino in die "farinataia" gelangt. Aber die Machart des Textes erklärt es auf einer semiotischen Ebene. Wenn die "farinataia" der Effekt vom "biscotto" bzw. vom 'Kalten Hund' ist, dann liegt hier Kausalität vor. Leider steht es dann im Widerspruch zu Spinos Realität, wie z.B. seinen akausalen Ortswechsel. Um überzeugender zu sein, wäre es ideal, wenn sich histoire-Ebene und discours-Ebene im Anliegen decken würden (was der Text teilweise tut, siehe unten). Doch kann man natürlich auch so argumentieren, dass gegen die epistemologische Akausalität des Menschen als Aporie die poetische Kausalität als Auflösung steht; und, dass der 'Kalte Hund' mit narratologischen Kategorien gar nicht entdeckt werden kann, d.h. wenn diese These stimmt, dann ist sie/er irgendwie zwischen histoire- und discours-Ebene begraben. Damit ist gemeint, dass diese Art von Kausalität mit konventionellen Analysemethoden nicht geschaffen wird, dass also doch kein Widerspruch, d.h. keine Kausalität vorliegt. Was ich damit sagen will, ist, dass ich mich vor dem Ende einigermaßen versichert fühle.10 – Es kann nicht anders sein.




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Der implizite Leser – Der schuldige Leser

Nach Genette ist der sogenannte implizite Leser eine vage Kategorie. Genette schreibt den impliziten Leser der Poetik zu und nicht der Narratologie (vgl. Genette 1994: 284). Er ist der virtuelle Leser, der extradiegetische Adressat, der vom und im Text konstituiert ist: Der implizite Leser ist ein "mentales Konstrukt, das auf dem Text im ganzen basiert." (Genette 1994: 284) Weil er eine Kategorie der kreativen Poetik ist und nicht der deskripitven Narratologie, macht ihn schwer messbar. Es gibt im Text jedoch Hinweise, die zulassen, sich dieses Konstrukt vor Augen zu führen, es zu rekonstruieren. Zwei Textstellen aus dem 19. Kapitel dienen dazu, eine Lesart für das Ende der Geschichte anzubieten, bei dem der implizite Leser eine interessante Rolle spielt, insofern er durch eine ästhetische, ethische, kombinatorische Entscheidung die histoire-Ebene weiterdenkt, nämlich durch jene, ob Spino am Ende lebt oder stirbt.

E ora quella promessa reclamava una realizzazione, ma certo, trovava in lui, in quell’inchiesta, un suo modo di compiersi: un modo diverso e apparentemente incongruo che obbediva invece a una logica implacabile come una geometria ignota: qualcosa di intuibile ma impossibile da formulare in un ordine razionale o in un perché E ha pensato che c’è un ordine delle cose e che niente succede per caso; e il caso è proprio questo: la nostra impossibilità di cogliere i veri nessi delle cose che sono, e ha sentito la volgarità e la superbia con cui uniamo le cose che ci circondano. (ebd.: 98)

Ich überspringe die Leerstelle von "promessa", die "geometria ignota" und "intuibile", die auf Spinoza verweisen und zur quasi spinozischen Kollimation und Erkenntnistheorie gerechnet werden sollten.11

Was hier auf der histoire-Ebene als "impossibile da formulare in un ordine razionale o in un perché" beschrieben wird, als Unmöglichkeit, eine rationale Kausalität zu schaffen, ist während der ganzen Zeit auf der discours-Ebene präsent: Akausalität wird durch die Unmöglichkeit realisiert und produziert, kausale Zusammenhänge zwischen den Kapiteln herzustellen. Als rhetorische Figuren stehen hier Paralipsen, Aposiopesen oder Ellipsen in Funktion von Brüchen und Leerstellen ein. Was Spino also vom Zitat her denkt, wird im Prinzip über den gesamten Novellentext hinweg praktiziert. Diese Korrespondenz ist nichts als Selbstreferenz. Für das fehlende Exemplum auf der histoire-Ebene steht die Struktur der Geschichte, die discours-Ebene selbst ein. Das Scheitern wird durch diese Struktur veranschaulicht und exemplifiziert. Die Realität, die hier vermittelt wird, ist: Zusammenhangslosigkeit, Ordnungslosigkeit, die nur eine Art Vermessenheit oder Hochmut, "superbia", zusammenbringt. Umgekehrt wäre es ja auch ein Widerspruch in sich, wenn die verhandelte akausale Ordnung kausal dargestellt sein würde. Ein weiterer Widerspruch wäre es dieses konsequent zu machen, denn dann hätte es ja System.




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Deshalb ist die Darstellung ein sehr gelungener Kunstgriff. Dabei ist das Verhältnis vom Erzähler zu Spino entscheidend. Man hat es hier quasi mit einem Spino-Erzähler zu tun. Doch mir scheint in der zitierten Stelle eine Bruchstelle zu sein. Spino denkt, und sein Denken wird als indirektes Reden-Denken vom Erzähler vermittelt. Doch gerade dadurch, dass der Spino-Erzähler vom singulären "ha pensato" und "ha sentito" zum pluralen "uniamo" und "ci circondano" springt, gerade dadurch scheint es mir, dass der Spino-Erzähler vorübergehend aufgeteilt wird in Erzähler und Spino, sprich: zwischen dem Erzähler und Spino wird eine differenzielle Distanz aufgemacht. "uniamo" kann man dann auch so lesen, dass sich Leser und Erzähler vereinigen, über die Spino dann reflektiert. Der Erzähler wird hier und für diesen Moment zum Leser-Erzähler, quasi zum Gedankenleser und, wenn man so will, zum extradiegetischen Adressaten – wenn das kein allzu gewagter 'nesso' ist. Das Zitat gibt, um noch einmal zusammenzufassen, auf der histoire-Ebene Information über das Verhältnis von Ordnung-Unordnung, über Spinos Haltung dazu und auf der discours-Ebene Informationen über das Spino-Erzähler-Verhältnis und die Haltung vom (impliziten) Leser dazu.

Der zweite Textabschnitt führt vor allem Spinos Diskurs über die Ordnung-Unordnung fort, insbesondere in Bezug auf den Tod von Carlo Nobodi:

E ha pensato di nuovo a quel giovane, e allora ha visto chiaramente la scena; così erano andate le cose, e lui lo sapeva. Lo ha visto uscire dal suo nascondiglio e mettersi volutamente nella traiettoria delle pallottole cercando l’esatta balistica che gli portava la morte; lo ha visto avanzare lungo il corridoio con calcolata determinazione, come chi segue la geometria di una traiettoria per compiere un’espiazione o realizzare un semplice nesso fra gli avvenimenti. Così aveva fatto Carlo Nobodi, che da bambino si chiamava Carlito: aveva stabilito un nesso; attraverso di lui le cose che sono avevano trovato il modo di disegnare la loro trama. (ebd.: 99)

Spino stellt sich also vor, dass Carlo Nobodi versucht hat, einen Zusammenhang, eine Ordnung herzustellen. Dazu hat er sich in den Lauf der Kugel gestellt, sprich: Selbstmord begangen. Nobodis Tod schafft Spino zufolge passiv eine Ordnung in Form eines 'nesso'. Dieses geschieht auf der histoire-Ebene. Denn der Leser hört Spinos Gedankengängen zu, die ihm der (Leser-)Erzähler vermittelt. Trotzdem ist Nobodis Tod, sein 'Selbstmord', eine Interpretation, ein Konstrukt von Spino. Ob es so und nicht anders war, steht nicht in der Kompetenz weder des Erzählers noch Spinos, noch des Lesers. Jedoch ist es in Bezug auf das Kommende, auf das Ende auch egal. Der letzte Satz lautet: "Si è girato e ha guardato l’acqua, a pochi metri in distanza. Poi è avanzato nel buio." (ebd.: 105)

Das Ende ist insofern offen, als weder Dramaturgie noch Beschreibung eindeutig sind, was genau mit dem Dunkel gemeint ist. Es kann das Meer sein: "il mare buio" (ebd.: 104) oder die Lagerhalle: "nell’oscurità interna è entrata una lunga striscia di luce gialla" (ebd.: 104) oder die Nacht: "Il campanile di San Donato ha suonato la mezzanotte." (ebd.: 104) Wenn Spino in Analogie zur oben beschriebenen histoire-Ebene eine Ordnung schaffen will, dann sollte er sterben, indem er z.B. ins "buio" des Wassers tritt.12




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Durch die Mehrdeutigkeit von 'buio' kann man nicht sagen, dass sein Abgang auf der histoire-Ebene zu lesen, sondern als Mehrdeutigkeit in der discours-Ebene angelegt ist. Sein Tod wäre eine Interpretation, ein Konstrukt des Lesers. Wenn sich der Leser diesen Reim (und es wäre eine Art narratologischer Reim)13 darauf macht, indem der Leser ihn also sterben lässt, dann macht er sich des (symbolischen) Mordes verdächtig, wenn nicht gar schuldig: Denn er tötet den Protagonisten des Romans. Im Sinne des Umkehrspiels kann man auch sagen: Derjenige, der eine kausale Ordnung durch "un nesso" schafft, stellt Spino in die Schusslinie, d.h. er macht sich so oder so schuldig. Klopp und Vickermann sind demnach nicht weniger verdächtig als ich.

Die Teilung des Spino-Erzählers in Spino und den Leser-Erzähler hat erzähltheoretisch also folgenden kriminologischen Effekt: Wo vorher Spino und der Erzähler quasi als Duo die ingroup stellten, wobei der Erzähler weniger weiß/sagt als Spino weiß, da fällt die ingroup auseinander: in eine ingroup, die Spino ist und eine Vergrößerung der outgroup, zu der nun auch des Mordes verdächtig und aus der Sicht Spinos der implizite Leser(-Erzähler) gehört. Das ist ein weiterer Individualisierungprozess: Das Duo ist nunmehr ein Solo geworden. Und der nun misstrauenswürdige Leser könnte sich schuldig machen. Wenn also irgendjemand in eine Falle gelockt wird, dann ist es nicht Spino auf der histoire-Ebene, sondern der Leser durch die discours-Ebene. Die Mehrdeutigkeit als diese Falle ist hier ein weiterer Kunstgriff, der den Leser, will er die histoire-Ebene weiterdenken, provoziert.

Zum Leser als Mörder schreibt Eco in seiner Nachschrift zu "Der Name der Rose":

Es bleibt noch ein Buch zu schreiben, in dem der Mörder der Leser ist. Moral: Es gibt obsessive Ideen, sie sind niemals privat, die Bücher sprechen direkt miteinander, und eine wahre detektivische Untersuchung muß beweisen, daß immer wir die Schuldigen sind (Eco 1986: 90).14

Ich glaube nicht, dass Eco meint, dass der Leser des fehlenden Buches in Wirklichkeit oder in der Fiktion zum Mörder werden soll.15 Ich verstehe Eco vielmehr so, dass ein Buch fehlt, durch das der Leser in Bezug auf den Text zum Mörder wird. Der Satz ist also nicht wörtlich zu verstehen, sondern symbolisch. Wenn das fehlende Buch auf eine solche Art und Weise geschrieben ist, dass der Leser zum symbolischen Mörder wird, dann vermittels der discours-Ebene, d.h. es betrifft den impliziten Leser. Da ich mir nur schwer vorstellen kann, wie eine detektivische Untersuchung funktionieren soll, die den impliziten Leser als schuldigen anders entlarvt als dass dieser vom Text durch die discours-Ebene vorgeführt wird, müsste ein anderer Leser die "wahre detektivische Untersuchung" durchführen. Diese grenzt vielleicht mehr an Poetik als an Narratologie, da eine solche über ihre Indizien, die hier Zeichen sind, hinausgeht.




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Wenn es stimmt, was Eco in Bezug auf die fehlende Krimikonstellation 1983 sagt, und wenn ich seinen Satz richtig verstanden habe, dann hat Antonio Tabucchi mit "Il filo dell’orizzonte" 1986 möglicherweise Literatur-Krimigeschichte geschrieben. Denn insofern der implizite Leser Spino ermordet, d.h. sterben lässt, wird er zum Mörder. Er befleckt sich und macht sich sehr verdächtig. Diesem impliziten Leser ist es nicht möglich, sich von diesem Mechanismus zu distanzieren, weil er Teil des discours ist. Genau das scheint mir Tabucchi im Sinn gehabt zu haben, wenn er in "Dibattito con Antonio Tabucchi" über die Rolle des Lesers sagt:

il lettore, io gli lascio spesso, e anche volentieri, la responsibilità di risolvere per conto suo il dramma a cui io ho accennato. Mi pare che ci deve essere per forza questa co-responsabilità del lettore; non si deve leggere impunente insomma. Leggere significa assumere delle responsibilità nei confronti di quello, si sta facendo un atto importante. Allora si può anche entrare dentro il racconto e risolvere ciò che è stato lasciato in ombra, ciò che può sembrare un enigma; può essere lasciato al lettore. (Lanslots/Roelens 1993: 163)

Man kann nicht ungestraft lesen – "non si deve leggere impunente". Tabucchi lässt es anhand des Textes dem Leser vorspielen: Wenn der Leser versucht, einen 'nesso' zu bilden, straft ihn der Text ab, ganz einfach, indem er sich ihm entzieht und dem Leser eine fiktive Leiche hinterlässt – die vielleicht sogar der Text selbst ist. Der Leser scheitert also, wenn er versucht einen Zusammenhang zu bilden, ohne sich dabei zu beflecken.16


Abschließende Betrachtungen

Aus dem Text und aus der Sekundärliteratur lassen sich folgende intertextuelle, mögliche Verweise aufzählen, und zwar auf: Jankélévitch (ebd.: 9, das Zitat als 'Motto'), Calvino (ebd.: 47), Rilke (ebd.: 54), Euripides (ebd.: 94, das Fragment auf dem Friedhof), Shakespeare (ebd.: 97–99, dadurch auch auf Homers Ilias), Pessoa (ebd.: 100), Spinoza (ebd.: 107, explizit im Nachwort und damit rekursiv in Bezug auf Spinos Namen), Borges (ebd.: 5); Homer: Odyssee durch Nobodi; das spanische Epos "Cantas de Mío Cid" von Ruy Dáz de Vivar, in dem El Cid ein arabischer Ehrentitel ist, durch Il Kid. Davon ausgeschlossen sind die intermedialen Verweise, wie z.B jene auf Film und Fernsehen,17 wobei gerade die letzten beiden intertextuellen Verweise intermediale Varianten haben: In diesem Zusammenhang spielt Nobodi auf "My name is Nobody" und Il Kid auf "Billy, the Kid" an. Der besondere Verweis auf Shakespeare und Homer, d.h. auf Hamlet und Hektor wird von der Sekundärliteratur meist mit Hamlet abgehakt. Demzufolge müsste dort eigentlich und fast ohne jede Polemik: 'Chi era Hamlet per lui?' stehen, was aber nicht der Fall ist. Dort steht: "Chi era Ecuba per lui?" (ebd.: 97). Hekuba schließt in der Sekundärliteratur die Tür zu Hamlet auf, so dass es im Effekt nicht mehr um die Intertextualität geht, sondern um einen Figurenabgleich. Eine vollständige Studie zur Intertextualität würde die hier gesetzten Rahmen übersteigen, und – so vermute ich – nur einer weiteren Vermutung den Weg bahnen, und doch findet sich in Ovids Metamorphosen zu Hekuba ein ganz anderer Verweis, den ich kommentarlos stehen lasse: "Der Zorn gibt ihr Kraft [...] Und aus der Kehle, die Worte formen will, bellt sie, als sie zu reden versucht."(Ovid: 337; Buch 13, 560–70)




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Nun, der Leser scheitert also, wenn er 'Il filo' als klassischen Kriminalroman lesen will, wo die eingeführte Unordnung wieder in Ordnung überführt, wo das Irrationale durch die Rationalität durchschaut und entschärft wird (Paradegegenbeispiel: Edgar Allan Poes: "Der Doppelmord in der Rue Morgue"). 'Il filo' ähnelt darin eher Sciascias (1961) "Il giorno della civetta": Die Unordnung wird als Ordnung etabliert, das Irrationale zwar durchschaut, aber das Individuum ist ohnmächtig, darauf Einfluss zu nehmen, so dass man von einer strukturellen Gewalt sprechen kann. Im Falle von 'Il filo' kann ich nicht sagen, dass Spino das Irrationale durchschaut, aber dass er es anschaut (vgl. Kap. 19). 'Il filo' handelt nicht die klassischen Krimischemata ab. Und doch ließe er sich – vielleicht soll das auch so sein – als Kriminalroman lesen. Dieses funktioniert, wenn eine andere Definition für den Kriminalroman gilt. Definiert man den Krimi dadurch, dass er Schuld verhandelt und Vermutungen provoziert, dann kann man sagen, dass man es mit einem Kriminalroman zu tun hat. 'Il filo' verhandelt die Schuld eines impliziten Lesers auf der discours-Ebene und provoziert auf gleicher Ebene Vermutungen, was überhaupt kriminologisch durchexerziert wird, bzw. was die Kriminologie der histoire-Ebene substituiert.

Was den impliziten Leser anbelangt, bin ich zu folgenden Schlüssen gekommen:

(1) Wenn der Leser vermutet, dass Spino am Ende stirbt, dann macht er sich des Mordes verdächtig. Denn durch die gedankliche Fortsetzung der histoire-Ebene lässt der Leser Spino sterben, ohne bestätigt zu werden, dass die Geschichte so verläuft und nicht anders. Auf der Ebene des impliziten Lesers schafft der Leser eine Analogie zwischen den Gedankengängen Spinos und dem Ende. Durch diesen 'nesso' müsste Spino zwangsläufig sterben. Der 'nesso' ist also tödlich, der Leser schuldig.

(2) Wenn der Leser eine hermeneutische Kausalität ('die wissenschaftlichen Vermutungen') herstellt, dann macht er sich des Mordes verdächtig ('die psychologische Schuld'). Er befindet sich in einer Zwickmühle vor allem dann, wenn er Literaturwissenschaftler ist, der systematisch für Klarheit sorgen soll.

Im Grunde ist (2) eine Umkehrung von (1). Dem Leser ist es so viel weniger bewusst, dass er sich schuldig macht, denn er kann z.B. versuchen, eine Kausalität zu schaffen, indem er eine psychologische Zwangsläufigkeit im Handeln Spinos darstellt, aber es wird dem Leser nicht sofort einfallen, dass er sich damit verdächtig oder schuldig macht.




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Umgekehrt kann man sagen, dass 'Il filo' als Kriminalroman scheitert, wenn der Leser ihn nicht als solchen lesen will. Dann müsste sich der Leser weigern, Vermutungen anzustellen, um Kausalität herzustellen. Das hat der 'Kalte Hund' bewiesen. Er blendet jede Krimiebene aus, die Spino betreffen könnte. Stattdessen füllt das 'Rezept' eine Leerstelle und behauptet, Teil der Poetik des Textes zu sein. Das Lösungswort behauptet keinerlei Anspruch auf Kausalität, die zur Klärung irgendeines epistemologischen, kriminologischen, psychologischen, theologischen o.ä. Problems beitragen könnte. (Wenn überhaupt, erklärt es Spinos irrationales Lachen am Ende von Kapitel 20.) Die Schuld wird in Unschuld verkehrt, indem die These (a) behauptet, dass es sich hier um eine kindliche Süßigkeit handelt, die so unschuldig ist wie das Kind, und (b), dass es ja eigentlich eine Spielerei, ein Gedankenspiel ist. Wenn man sich erinnert: Der 'Kalte Hund' ist aus einem Umkehrspiel, aus der Isolierung seiner narratologischen und aus der Verkehrung seiner semiotischen Zusammenhänge (mit Hund ist nicht der bellende Hund gemeint) entstanden und nicht aus einer Systematik heraus. Eine analytische Kohärenz wird nicht erkennbar, aber eine poetische Folge lässt sich nicht gänzlich von der Hand weisen – ganz einfach auch deshalb, weil sie zu schön ist...!


Bibliographie

Auden, Wystan Hugh (1962): "Das verbrecherische Pfarrhaus", in: Auden, Wystan Hugh: Des Färbers Hand. Aus dem Deutschen von Fritz Lorch. Gütersloh: Sigbert Mohn, 180–195.

Eco, Umberto (1980): Il nome della rosa. Mailand: Fabbri-Bompiani.

Eco, Umberto (1986): "Die Metaphysik des Kriminalromans", in: Eco, Umberto: Nachschrift zum 'Namen der Rose'. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. 7. Auflage. München: Hanser, 63–67. [1983]

Geerts, Walter (1993): "Il filo dell'orizzonte di Antonio Tabucchi: Una lettura della morte", in: Inge Lanslots / Natalie Roelens (Hg.): Piccole finzioni con importanza. Ravenna: Longo, 113–124.

Genette, Gérard (1994): Die Erzählung. München: Fink.

Jakobson, Roman (1979): Poetik: Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt am Main: Suhrkamp.




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Klopp, Charles (1998): "Aporias and Intertextuality in Antonio Tabucchi's Il filo dell'orizzonte", in: Italica 75.3, 428–440.

Lanslots, Inge / Roelens, Natalie (Hg.) (1993): "Dibattito con Antonio Tabucchi", in: Piccole finzioni con importanza. Ravenna: Longo, 147–166.

Michelmann, Rotraut (1995): Effizient und schneller lesen. Reinbek: Rowohlt.

Ovid (2002). Metamorphosen. Aus dem Lateinischen von Erich Rösch. München: DTV.

Poe, Edgar Allan (1989): "Der Doppelmord in der Rue Morgue", in: Poe, Edgar Allan: Meistererzählungen. Aus dem Amerikanischen von Gisela Etzel. Zürich: Diogenes, 164–201.

Rajewski, Irina (2003): Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne: von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre. Tübingen: Narr.

Sciascia, Leonardo (1961): Il giorno della civetta. Mailand: Adelphi.

Tabucchi, Antonio (2002): Il filo dell'orizzonte. 13. Auflage. Mailand: Feltrinelli. [1986]

Vickermann, Gabriele (1998): Der etwas andere Detektivroman: Italianistische Studien an den Grenzen von Genre und Gattung. Heidelberg: Winter.


Anmerkungen:

1 Vgl. zum ergonomisch empfehlenswerten Lesen: Michelmann (1995).

2 Zum Labyrinth-Vergleich vgl. Eco (1986), worin Eco den Kriminalroman als "Konjektur-Geschichte im Reinzustand" begreift, dessen Lust ihn zu lesen darin besteht, Vermutungen (mit der Kardinalvermutung: Wer hat’s getan?) anzustellen. Das Labyrinth als "abstraktes Modell der Vermutung" dient ihm als Bild, sowohl die Konstruktion eines Kriminalromans, als auch den Lesegang dadurch zu veranschaulichen.

3 Konjekturen als 'Berichtigungen' sind das Gegenbeispiel, nicht aber Konjekturen als 'Vermutungen', wie es Eco versteht.

4 Zum Unschuld/Schuld-Topos vgl. Auden (1962), worin Auden meint: "Das Reizvolle an der Detektivgeschichte ist die Dialektik von Unschuld und Schuld." (Auden 1962: 181) "Ich vermute, dass der typische Leser von Detektivromanen [...] ein Mensch ist, der unter einem Sündenbewußtsein leidet." was bedeutet: "dass man sich schuldig fühlt, weil eine sittliche Entscheidung getroffen werden muß – eine Schuld, die – wie 'gut' ich auch werden mag – unverändert bleibt." (Auden 1962: 193) Was Auden und Eco verbindet, ist das, was sie von einander trennt: Eco rechnet gegen seinen Akzent auf die "Konjektur" mit der Schuld ("dass wir die Schuldigen sind" s.u.) und Auden gegen den seinen auf die "Schuld" mit der Vermutung ("Ich vermute, dass"). Einen Kriminalroman zu lesen, ist ihnen zufolge mit einem Vermutung-Schuld-Komplex verbunden.




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5 Siehe oben in der Einleitung: Eco umschreibt den Kriminalroman als "Konjektur-Geschichte im Reinzustand", dessen Lust ihn zu lesen darin besteht, Vermutungen anzustellen.

6 Das Erkenntisproblem korrespondiert mit dem Unsagbarkeitstopos. Das bestätigt das Konzept von 'Il filo' als epistemologischen Roman.

7 Der Leser möge sich hüten! Man hüte sich vor dem Hund!

8 Siehe dazu auch das Rezept bei http://www.chefkoch.de.

9 Jedenfalls ist mir kein Rezept mit italienischen Namen bekannt. Von den Zutaten eher ähnelt es dem vornehmeren, italienischen 'Tartufo al cioccolato'. – Als Fußnote sei auch noch angemerkt, dass in diesem Kapitel noch eine intertextuelle Referenz zu Rilke aufgemacht wird, der ja bekanntlich ein Deutscher war: deutscher Dichter – (deutsche Sprache) – deutsches Rezept.

10 Zur Verdeutlichung nehme ich die Erklärung meiner Anspielung vorweg: Eine These am Ende wird lauten: Wer eine hermeneutische Kausalität schafft, tötet Spino und macht sich schuldig. Der Umkehrschluß ist der: Wer etwas erklärt, ohne dabei Kausalität zu beanspruchen, dürfte sich auch nicht schuldig machen. So gesehen mache ich mich nicht schuldig, weil die Folgerung der Bäckerei "farinataia" aus der Leckerei 'Kalter Hund' nicht unbedingt kausal und zwangsläufig bewiesen ist – wenn überhaupt, kommt sie auf assoziative Weise zustande.

11 Die "promessa" könnte auf Hamlet verweisen (vgl. Vickermann 1998: 273). Der Komplex um Spinoza verlangt eine eigene ausführliche Studie, der ich mich in diesem Rahmen nicht widme. Er könnte Teil der Lesart: "'Il filo' als epistemologischer Roman" sein.

12 Allerdings müßte Spino Nichtschwimmer sein, und seinen Tod noch zusätzlich provozieren, um daran zu sterben, so dass man annehmen darf, dass der Autor – wenn Spino überhaupt sterben sollte – einen eher symbolischen Tod sterben lässt.

13 Die Ordnung, die Nobodi Spino zufolge durch seinen Tod schuf, wiederholt sich in Korrespondenz zum Tode Nobodis am Ende wie ein Reim (das korrespondiert mit der Poetik, zu der der implizite Leser gerechnet wird, s.o.). Doch diese Ordnung ist wie das Abbild einer interpretativen Ordnung in Form einer vermessenen ("la superbia") Schlussfolgerung des Lesers. – Es gibt aber auch einen Widerspruch bzw. einen Einspruch darin, der auf die Identitätssuche der histoire-Ebene abzielt: Wenn Spino am Ende sagt "Sono io" und sich dann umbringt, dann tut er nichts anderes als das, was Nobodi getan hat. Er dürfte nicht mehr sagen: "Sono io" sondern eher: 'Oh Nobodi, vengo!', was er aber nicht tut. Auch wenn wir nicht wissen, wie Nobodi wirklich umgekommen ist, in Spinos Konstrukt ist er so umgekommen, wie es sich Spino denkt, deshalb, um sich in der Differenz dazu seiner Identität zu versichern ("Sono io"), müsste er sich gerade nicht umbringen. Wenn er sich aber doch umbringt, ist er (wie) Nobodi, d.h. seine Identitätssuche, seine Identifikation mit dem Toten ist durch seinen Eingang ins Jenseits in Erfüllung gegangen: Sie wäre paradoxerweise geglückt.

14 Im übrigen sei hier angemerkt, dass Eco eindeutig von seiner Position vom Kriminalroman als "Konjektur-Geschichte im Reinzustand" abrückt. Der Fokus seines Interesse verlagert sich auf die Schuld. Damit unterstützt er die oben genannte Haltung Audens: "Das Reizvolle an der Detektivgeschichte ist die Dialektik von Unschuld und Schuld." (Auden 1962: 181) Im Unterschied zu Auden betont er jedoch, dass der Leser zur outgroup zählen könnte.

15 Auf der histoire-Ebene könnte man z.B. folgenden Plot entwerfen: L1 liest ein Buch von A, daraufhin bringt L1 als M1 O1 um; D1 löst den Fall, doch dann liest er (D1=L2) ebenfalls das Buch von A und mordet als M2 auch (O2); D2 aber erkennt den Mechanismus und schafft es das Pseudonym von A aufzudecken, wobei A1 entkommt. Kurze Zeit darauf mutieren Buchhändler zu mörderischen Psychopathen (L3-Ln = M3-Mn) und bringen die Kunden um, die das Buch von A nicht kaufen wollen. D2 wird ebenfalls ermordet. Das Buch kursiert durch die Welt und der eigentliche Mörder ist nicht mehr sein Leser, sondern das Buch, das durch seine Leser seine mörderische Kraft realisiert. (L = Leser; A = Autor; O = Opfer; D = Detektiv; M = Mörder); also fast wie in "Il nome della rosa" (Eco 1980).




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16 Wenn der Leser die histoire-Ebene weiterdenkt, steht er zwangsläufig vor einer Entscheidung, einer sowohl ethischen als auch einer ästhetischen, die zwischen Leben und Tod entscheidet. In Anlehnung an Auden könnte man folgern, dass ein (impliziter) Leser, der unter einem Sündenbewusstsein leidet, ganz egal wie sehr er versucht, beim interpretativen Entscheidungsprozeß 'gut' zu sein oder 'richtig' zu liegen, schuldig ist.

17 Vgl. dazu Rajewski (2003).

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