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Christof Decker (München)



Hollywood und der 11. September:
ein Nachtrag zur Rolle des amerikanischen Kinos



Hollywood and 9/11: A Postscript Regarding the Role of American Cinema
The attacks on targets in New York City and Washington D.C. in September 2001 generated, among many things, a renewed interest in the relationship between acts of terrorism and their media representation. One of the questions hotly debated revolved around the issue to what extent the symbolic impact of the burning and collapsing World Trade Center had been modelled on spectacular images of destruction circulating within the fictional universe of Hollywood cinema. Focusing primarily on German contributions to this debate, this essay examines how in some cases the notion of 'Hollywood complicity' was merged in peculiar ways with a long tradition of negative views of American culture, and failed to acknowledge the significant differences of televisual and cinematic images. Contrary to this line of thought, it is argued that in order to reevaluate the role of American film for the representation of destruction, death, and war, a different perspective should be elaborated. To understand and assess the cultural function of American cinema it is necessary to analyze its often ambiguous contributions to a politics of remembrance and to evaluate them as pivotal ways of shaping national self-images.



Mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu den Diskussionen unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September 2001 soll in diesem Beitrag die Frage der Medienberichterstattung des Ereignisses nochmals aufgegriffen werden. Zum einen, weil sie in einer Tradition gesehen werden kann, die auf historisch weit zurückreichende Fremdbilder Amerikas rekurriert; zum anderen, weil es für zukünftige Analysen notwendig erscheint, an einer Differenzierung zwischen unterschiedlichen Bildmedien – vor allem dem Fernsehen und dem Kino – festzuhalten, die häufig pauschalisierend behandelt wurden. Es kann nicht zufriedenstellen, im Umfeld gewaltsamer 'Katastrophen' die Ursachen reflexhaft in einer diffusen Mitschuld der Medien zu suchen, um nach einer kurzen Phase der Empörung diesen Zusammenhang wieder vollständig auszublenden. Vielmehr gilt es, ein Bewusstsein zu entwickeln, wie die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Konkurrenz um Deutungsmacht von unterschiedlichen Medienerzählungen beschaffen ist, um dieses verfeinerte Verständnis zur Grundlage ihrer Bewertung zu machen.




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Einen Anstoß dazu soll dieser dreiteilige Nachtrag geben. Zunächst werden interkulturelle Wahrnehmungsmuster betrachtet, die das Verhältnis zwischen Europa und den USA historisch geprägt haben und für die Wahrnehmung des amerikanischen Films einflussreich sind. Danach geht es um jene Diskussionen, die nach dem 11. September die Frage aufwarfen, ob zwischen den Anschlägen und neueren Hollywood-Produktionen ein Zusammenhang hergestellt werden könnte. Wurde in der damaligen Debatte häufig die Präferenz Hollywoods für das Spektakel der Zerstörung hervorgehoben, soll in diesem Nachtrag die Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt werden, welchen narrativen Zielen die Repräsentation von Zerstörung und Tod dienen kann. Zu diesem Zweck wird im dritten Teil anhand des Kriegsfilms untersucht, auf welche Weise das amerikanische Kino an einer Form von Erinnerungspolitik beteiligt ist, die das historisch Konkrete mit nationalen Mythen verbindet. Wenn man die kulturelle Funktion des amerikanischen Films ergründen will – und dieses Bemühen ist seit den Ereignissen von 2001 wieder verstärkt zu erkennen, muss man neben der spektakulären Qualität des Mediums auch seine narrative Komplexität und andere Aspekte, etwa diese filmische Erinnerungspolitik, berücksichtigen. Simplifizierende Annahmen zum Verhältnis von fiktionaler Imagination, terroristischem Akt und Bildern der Zerstörung werden dem amerikanischen Kino nicht gerecht. Schlimmer noch: Sie verhindern mitunter jene kritisch-differenzierte Auseinandersetzung mit der amerikanischen Populärkultur, die zu praktizieren ein zentrales Anliegen sein sollte.


1 Amerika und Europa: zur Kontinuität interkultureller Wahrnehmungsmuster

Die Äußerungen Donald Rumsfelds über das 'Alte Europa' führten im Zusammenhang des zweiten Irakkriegs im Jahr 2003 zu einem Sturm der Entrüstung. Nachdem den Vereinigten Staaten nach den Anschlägen des 11. September 2001 allseits Solidarität bekundet wurde, kam es zu einer Krise der transatlantischen Beziehungen, die in ihren Polarisierungen eine ähnliche Vehemenz wohl zuletzt in den 1980er Jahren besaß. Warum ärgerten sich viele Europäer über den Begriff 'Altes Europa'? Um dieser Frage kurz nachzugehen, soll zunächst aus Texten der 1920er Jahre zitiert werden. Ein Autor schreibt damals:

'Wir müssen Amerikaner werden,' predigen die einen – und sie meinen damit Maschinen, Fabrikkolosse, die ganze Technik und Rechenhaftigkeit des großindustriellen Kapitalismus. 'Sollen wir wirklich ganz Amerikaner werden?' fragen zagend, zornig die anderen – und sie verstehen darunter die Unterjochung des Menschen durch den Apparat, die Herrschaft des Materialismus und der materiellen Mächte, die Ueberwältigung der Natur und die Zerstörung der Seele. [...] Zunächst: wir werden noch lange nicht Amerika, auch wenn wir uns noch so viel 'amerikanisieren'! [...] wenn wir, weil eine amerikanische Fabrik Deutschland als geeignetes Absatzfeld für ihre Ware ansieht, das widerliche Gummikauen bei uns einführen, zur gleichen Zeit, in der man in Amerika selbst diese Unsitte schon immer mehr zurückdrängt – wir bleiben damit und mit allen anderen der Art doch Europa, nur ein herabgewürdigtes Europa, das von dem, was von draußen kommt, mit verwirrten Instinkten gerade das Schlechte gierig aufnimmt. (Feiler 1926: 15, 16)




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Arthur Feiler, ein Wirtschaftsjournalist der Frankfurter Zeitung, schreibt diese Zeilen im Jahr 1926 im Vorwort seines Reiseberichts Europa-Amerika. Das Buch ist Teil einer intensiven Debatte, die unter dem Schlagwort der "Amerikanisierung" stattfindet und bei der es um die Frage geht, was ein durch den Ersten Weltkrieg, aber auch durch die Instabilität der Weimarer Republik geschwächtes Deutschland von den USA lernen könnte. Das Gefühl einer allgegenwärtigen Schwäche bezieht sich auf politische, ökonomische und materielle Belange, aber es hat auch eine psychologische Komponente: Viele Autoren dieser Zeit blicken voller Bewunderung auf das amerikanische Selbstbewusstsein, während sie sich selbst als gedemütigt und niedergeschlagen empfinden (cf. Kerr 1925, Rundt 1926, Feiler 1926, Hensel 1928).

Blickt man auf diese Amerikanisierungsdebatte der 1920er Jahre, wird deutlich, dass sich im Vergleich zur heutigen Zeit an den Grundmustern der interkulturellen Wahrnehmung nicht allzu viel verändert hat. Gerade für die deutsche Öffentlichkeit gilt, dass sie mit ihrem Amerikabild noch stark in jenen Mustern verhaftet ist, die nach dem Ersten Weltkrieg entstehen. Gleich hinzuzufügen ist allerdings, dass die Wahrnehmung Nordamerikas schon viel früher – besonders intensiv seit dem 18. Jahrhundert – der Selbstdefinition Europas gedient hat. Phasen eines intensiven Pro- oder Antiamerikanismus waren daher immer auch Phasen einer innereuropäischen Krisenstimmung. Der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase (1992) bezeichnet Amerika in diesem Sinn als Erfindung in unserem Kopf; als Projektionsfläche, die dazu dient, eigene Konturen und Identitäten zu schärfen.

Diese Unterscheidung in Zivilisation und Kultur zusammen mit der Implikation, dass Zivilisation in Nordamerika zu Hause, Kultur aber den Europäern vorbehalten sei, zieht sich wie ein roter Faden durch viele Texte. Gleichzeitig versuchen einige Autoren jedoch, diese Gegenüberstellung hinter sich zu lassen, denn sie beobachten, dass Europa längst ebenso modern wie Amerika zu sein versucht. Rudolf Hensel, ein Mitarbeiter der Allianz-Versicherung, der die Schlagworte ablehnt, in Amerika herrsche die Jagd nach dem Dollar, zähle nichts als das Geschäft, gebe es keine Kultur, schreibt dazu 1928:

[...] eine Zivilisation von der Intensität der des heutigen Amerika, die sich an alle wendet, keinen ausschließt [...], auf dem Wohlstand der ganzen Nation aufgebaut ist, bewußt auf Massenwohlstand und Massenkonsum aller Güter hinarbeitet, und an der alle Schichten der Bevölkerung und alle Individuen teilhaben, [...] eine Zivilisation, die in einer Quantität und Universalität auftritt wie die amerikanische, und Leistungen aufzuweisen hat, wie noch keine der hohen Kulturen irgendeiner Zeit vor ihr, eine solche Zivilisation wird Kultur [...]. (Hensel 1928: 272, 273)




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Auch Alfred Kerr, der berühmte Theaterkritiker, lehnt die Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation ab. Er plädiert im Jahr 1925 vielmehr für eine Angleichung Europas: "Ach, für eine Weile sollten in der Alten Welt ... zwar beileibe nicht jeder Einzelmensch, doch etliche Völker im Gesamtumriss amerikanisch werden. Ballastlosigkeit erwerben! Den minderverzwickten, den starken, klaren Strich wiederfinden!" (Kerr 1925: 173) Und als Ausblick fügt er hinzu, was passieren könnte, wenn Amerikas Zukunft halte, was sie verspreche:

Dann wird es für das alte Europa, das verbissen, verbockt, verbohrt ist, zerfletscht und zerfleischt, vergiftet und zerklüftet ... Dann wird es für diesen pensionsberechtigten Erdteil gut sein: die helfend-heilende Hand dieses lachenden, nicht abgekämpften, gesünderen Bruders zu packen – der in frischem Winde lebt. (ebd.: 206)

Bereits 1925 existiert also das Bild des 'Alten Europa', nur wird es nicht von amerikanischer Seite formuliert, sondern es ist ein Teil der deutschen Selbstwahrnehmung, die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzt. Jugendlichkeit, Stärke, Unverbrauchtheit, Selbstbewusstsein – all diese Attribute werden mit dem positiven Amerikabild der damaligen Zeit assoziiert. Ins Negative gewendet werden daraus Kulturlosigkeit, Vermassung, Seelenlosigkeit, Heuchelei. Nach dem Zweiten Weltkrieg vertiefen sich diese pro- und antiamerikanischen Wahrnehmungsmuster, zumal nun die amerikanische Nation mit Maßnahmen von Entnazifizierung und Umerziehung unmittelbar zur Demokratisierung Deutschlands beizutragen versucht. Die Hoffnungen Kerrs, sich dem Vorbild anzugleichen, werden nun quasi zur offiziellen Kulturpolitik, auch wenn sich damit die antiamerikanischen Ressentiments nicht in Luft auflösen (cf. Schwan 1986, Behrmann 1986, Diner 1993).

Viele Vorstellungen, die heute mit Hollywood assoziiert werden, lassen sich besser einordnen, wenn man die Amerikanisierungsdebatte der 1920er Jahre berücksichtigt. Als der berühmte Metropolis-Regisseur Fritz Lang im Jahr 1924 die amerikanische 'Traumfabrik' besucht, stellt er angesichts eines filmhungrigen Publikums fest: "Dieser Hunger des ungeheuren Landes ist nur durch Massenspeisung mit einer fabrikmäßig hergestellten Ware zu stillen." Er fügt hinzu: "Amerika arbeitet nicht nach Manuskripten, es arbeitet nach Rezepten!!" (Lang 1924: 213)




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Auch wenn diese Bemerkungen eine starke Ablehnung nahezulegen scheinen, ist Lang von der amerikanischen Filmindustrie tatsächlich sehr angetan. Zehn Jahre später wird er vor den Nazis ins amerikanische Exil fliehen. Aber seine Wahrnehmung Hollywoods veranschaulicht, wie stark auch er in der Amerikanisierungsdebatte verhaftet ist: In der "fabrikmäßig hergestellten Ware", die er konstatiert, steckt die Faszination an der Modernität des Landes, aber auch der europäische Vorbehalt gegen die 'Seelenlosigkeit' der damit verbundenen Kultur. Diese nach dem Ersten Weltkrieg aufkommende Wahrnehmung der amerikanischen Kultur und des amerikanischen Films lässt sich als Grundmuster bis in heutige Tage verfolgen und prägte auch die Diskussionen nach dem 11. September 2001.


2 Hollywood als 'Weltmacht'?

Nach den Anschlägen auf das World Trade Center wurde viel zur Macht der Bilder und zum symbolischen Gehalt terroristischer Aktionen gesagt und geschrieben (cf. Sielke 2002). Eine Idee erwies sich dabei als besonders suggestiv: die Behauptung, dass die Bilder der Anschläge aus dem Kino bekannt gewesen seien, weil zahlreiche Filme in den vergangenen Jahren das Eindringen von Flugzeugen in die Twin Towers oder Bilder der Zerstörung und Panik in New York City gezeigt und damit quasi vorweggenommen hätten (cf. Scheffer 2003, Seeßlen/Metz 2002). Von den Bildern des brennenden Hochhauses in The Towering Inferno (1974) über die Zerstörungsorgien in Independence Day (1996) oder die Militarisierung des zivilen Lebens in The Siege (1998) bis zur Omnipotenzfantasie der jungen Männer von Fight Club (1999), das zerstörerische Spektakel einstürzender Hochhäuser auslösen zu können – an vielen mehr oder weniger prominenten Stellen in den Filmerzählungen Hollywoods werden Querverweise, Analogien oder auch Vorbilder für die Anschläge des 11. September vermutet.

Häufig erscheinen diese Ausführungen nicht mehr als traditionelle Interpretationen, d.h. als Versuche, Einzelphänomene in einen größeren narrativen Zusammenhang zu stellen und in ihrer Bedeutung zu bewerten. Sie geraten vielmehr zu polemischen Auseinandersetzungen mit einer Industrie, die einer entfesselten Logik der audiovisuellen Überwältigung zu gehorchen scheint. Die den Medien zugeschriebene Fragmentierung und Nivellierung von 'Wirklichkeit' wird mit einer selektiven Wahrnehmung ihrer Produkte beantwortet – einer assoziativen und impressionistischen Lektüre. Der 11. September stößt damit neben vielem anderen eine neue Debatte zum Verhältnis von Fiktion und Realität an. Unbestreitbar geht von den Bildern der einstürzenden Hochhäuser – trotz aller Trauer um die Toten – eine makabre Faszination aus, die sonst Bestandteil eines Vergnügens am Spektakel in Actionfilmen ist, weshalb die Fernsehsender sie in eine permanente Wiederholungsschleife stellen. Doch die Diskussion um das Verhältnis von Hollywood-Produktionen und den terroristischen Anschlägen geht über diesen Spektakelcharakter der Bilder hinaus.




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Ein Beitrag, der mit dem Schrecken des 11. September beginnt und überrascht feststellt, das sei ja wie im Film, endet damit, Hollywoods Weltherrschaft zu beklagen (cf. Scheffer 2003). Aus der Frage, wie die Anschläge und ihre mediale Verbreitung eingeordnet werden können, wird eine Kritik an der Übermacht Hollywoods mit seinen "unterkomplexen" Darstellungsformen und seiner Funktion als "Opium für das Volk". Die Überlegungen zu den Anschlägen und Bildern vom 11. September münden hier also in die Vision, dass die Angriffe auf Amerika ein Resultat von Katastrophenfilmen der hauseigenen Traumfabrik gewesen sein könnten, die sie selbst hervorgebracht, wenn nicht gar herbeigesehnt hätte. Angesichts seines scheinbar ungeheuren Einflusses ist nun von einer "Weltherrschaft" des Films die Rede, für den eine Mitschuld an den Geschehnissen suggeriert wird.1

Diese eigentümliche Wendung der Diskussion von den Anschlägen auf einzelne Ziele in den USA zur Weltherrschaft des amerikanischen Films ist wohl nur nachvollziehbar, wenn man sie als Teil der Amerikanisierungsdebatte versteht. Die Angriffe auf New York und Washington, die die Terroristen mit maximaler symbolischer Kraft versehen, um ihrem Hass auf die westliche Welt Ausdruck zu geben, scheinen auch bei den Angehörigen dieser westlichen Welt Fantasien freizusetzen, warum man die Vereinigten Staaten hassen könnte.2 Und mit dieser Frage greifen jene historischen Wahrnehmungsmuster, die für die 1920er Jahre skizziert wurden. Wenn deutsche Beobachter von einer Weltherrschaft des Films sprechen, dann scheint es also weniger um eine tatsächliche Analyse filmischer Erzählformen als um eine Kritik des amerikanischen Kinos und der amerikanischen Kultur zu gehen. Wird dem Kino eine Mitschuld an den Anschlägen gegeben, so setzt diese Annahme eine manipulative Kraft seiner Bilder voraus, und mit dieser manipulativen Kraft kann Hollywood als globaler Machtfaktor erscheinen. Die Denkfigur einer Weltherrschaft des Films lässt sich damit als Teil der negativen Amerikanisierungsdebatte verstehen, d.h. wie nach dem Ersten Weltkrieg als Angst vor einer Überfremdung und kulturellen Eroberung durch einen übermächtig wirkenden Gegner.

Mit dem 11. September gewinnt dieser pauschalisierende Gestus auf eigentümliche Weise wieder an Einfluss, als hätte der terroristische Akt mit seiner weltweiten Resonanz vor allem die Beschäftigung mit globalen Beherrschungsfantasien freigesetzt. Für eine differenzierte Betrachtung filmischen Erzählens ist diese Diskussionslinie jedoch wenig ergiebig, weshalb sie an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden soll. Denn tatsächlich gibt es natürlich eine propagandistische oder manipulative Funktion des Kinos, die es vor allem in Kriegszeiten immer wieder unter Beweis gestellt hat, und die es kritisch zu reflektieren gilt, ohne sie für antiamerikanische Ressentiments zu instrumentalisieren.




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Der französische Medientheoretiker Paul Virilio (1989) hat dieses Verhältnis in seinem Buch Krieg und Kino ausgiebig untersucht, und er kommt zu dem Ergebnis, dass das Kino wie der Krieg auf eine aggressive Sichtbarmachung hinarbeitet, die für moderne Waffen eine Vorstufe der Zerstörung darstellt. Sehen und Töten erscheint als Parallelentwicklung, bei der das Kino immer jenen neuen Bildern und Eindrücken nachhastet, die der technisierte Krieg mit immer ausgefeilteren Waffensystemen generiert. Zwischen Luftaufklärung und Filmkamera zieht Virilio eine direkte Linie, weil er sie als Bestandteile einer neuen "Logistik der Wahrnehmung" versteht.

In den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, vor allem dem Zweiten, waren Filme Bestandteil der psychologischen Kriegführung. Was Leni Riefenstahl mit der Glorifizierung von Hitler betrieb, nahmen sich die Alliierten zum Feindbild, aber in Fragen der ästhetischen Gestaltung auch zum Vorbild. Regisseure und Schauspieler aus Hollywood – etwa Frank Capra oder William Wyler – traten in Regierungsbehörden ein; das Disney-Studio produzierte im Jahr 1943 zu 94 % kriegsbezogenes Material (cf. Doherty 1993). Die gut dokumentierte Zusammenarbeit von Regierung und Filmindustrie diente unter anderem dazu, den Krieg zu erklären und zu legitimieren, die Moral der Soldaten zu heben sowie Feind- und Freundbilder zu schaffen (cf. Koppes/Black 1987, Doherty 1993). Es ist also durchaus notwendig, über propagandistische Funktionen des Kinos nachzudenken, aber für die Ereignisse des 11. September trifft zu, was bereits den Golfkrieg der frühen 1990er Jahre oder den Vietnamkrieg kennzeichnete: Für Fragen der tagesaktuellen Propaganda spielt das Kino nur noch eine untergeordnete Rolle, da diese Funktion vollständig auf das Fernsehen und andere Massenmedien übergegangen ist. Man kann sogar noch weiter gehen: Weil das Fernsehen im modernen Informationskrieg von so zentraler und alltäglicher Bedeutung ist, kann das Hollywood-Kino wieder neue erzählerische und reflexive Spielräume gewinnen, die im Fernsehjournalismus gerade nicht gegeben sind.

In der Diskussion um die Anschläge schreiben Georg Seeßlen und Markus Metz:

In der Welt als Kino-Bild zerfallen alle Ereignisse in zwei Aspekte, nämlich in den des Effektes, der auf möglichst heftige Art Empfindungen erzeugt, und in den Aspekt der ewigen Wiederkehr. Was uns offensichtlich zwischen Hysterie und Apathie in unserer Medienwelt abhanden kommt, ist ein Gedächtnis, das Geschichte konstituiert. So verwundert es nicht, daß zwar ständig davon die Rede ist, 'die Welt' habe sich durch den Anschlag in New York geändert, aber so gut wie nie davon, die 'Geschichte' könne sich durch ihn verändern. Die Welt, die sich in Kino-Bildern auflöst [sic] verliert ihre Geschichte. (Seeßlen/Metz 2002: 28, 29)




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Dieser Verlust eines historischen Bewusstseins trifft jedoch viel eher für die Dominanz des Präsentischen in der Fernsehberichterstattung als für das Kino zu: Gerade das amerikanische Kino versucht, einen Begriff von Geschichtlichkeit zu retten, der im Fernsehen keine Rolle mehr spielt. Um Medienprozesse differenziert zu betrachten, ist es also notwendig, zwischen den Darstellungs- und Erzählformen in Fernsehen und Kino zu unterscheiden sowie ihren jeweiligen Anteil an der Ästhetik der Zerstörung oder einer problematischen Form von Desinformation zu bestimmen. Was im allgemeinen als komplementäres, sich verstärkendes Miteinander von Fernsehen und Kino erscheint, hat historisch betrachtet eher den Charakter eines Konkurrenzverhältnisses. Paul Virilio schreibt ein Buch zum Thema Krieg und Kino, aber im (ersten) Golfkrieg heißt seine Fortsetzung bezeichnenderweise Krieg und Fernsehen (cf. Virilio 1993). Es besteht aus Tagebucheinträgen, die parallel zur Kampfhandlung entstehen, denn das Nachdenken über das Fernsehen muss sich der Dynamik des Mediums anpassen, und das heißt vor allem einer unglaublichen Beschleunigung von Eindrücken. Virilio bezeichnet dieses Phänomen als "Tyrannei der Echtzeit". Andere Autoren sehen darin ein verändertes Geschichtsbewusstsein, das sie als "instant history" charakterisieren (cf. Gerbner 1993).

In beiden Fällen geht es um die gleiche Problematik: Wenn das Fernsehen in Echtzeit von kriegerischen Schauplätzen berichten kann, werden alle – Zuschauer, Journalisten und Militärs – in einen Ereignisstrudel hineingezogen, der Geschichte als Reflexionsprozess auflöst. Weil die Spanne zwischen Ereignis und Reaktion immer kürzer wird, geht zum einen jene Zeit verloren, die eine gründliche Reflexion von Handlungsoptionen ermöglichen würde. Zum anderen wird es für die Zuschauer immer schwieriger, die Bilder und Erklärungen, die auf sie einströmen, zu perspektivieren oder zu hinterfragen. Mit der Beschleunigung des Ereignisstrudels gleicht sich für Virilio die Fernsehberichterstattung am Ende einer militärischen Logik an, denn für moderne Kriege ist es entscheidend, wie schnell die Auswertung umfangreicher Datenströme zu einem Gegenschlag führen kann.

Der Begriff "instant history", der nach dem (ersten) Golfkrieg geprägt wurde, umschreibt daher tatsächlich einen Verlust an Geschichtsbewusstsein, da mit diesem Bewusstsein ein Reflexionsprozess und eine narrative Struktur von Ereignissen verbunden wird. Darüber hinaus deutet "instant history" an, dass in Zeiten des Fernsehkriegs 'Geschichte' auf wenige visuelle Eindrücke eingefroren wird. Wenn Seeßlen und Metz beobachten, dass in der Medienwelt ein Gedächtnis abhanden kommt, das Geschichte konstituiert, dann kann man also diese Beobachtung vor allem auf das Echtzeitprogramm des Fernsehens beziehen, bei dem ein Ereignis durch das nächste überlagert und schließlich ausgelöscht wird. Für den Film gilt dieses Motiv der "instant history" hingegen nicht, wie auch die Propaganda des Zweiten Weltkriegs mit der des Fernsehens nur entfernte Ähnlichkeiten hat. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sich das amerikanische Kino gegen die Konkurrenz des Fernsehens in den 1990er Jahren gerade durch den Versuch einer Rehistorisierung nationaler Themen zu behaupten versucht, auch wenn die Ergebnisse dieser Bemühungen höchst unterschiedlich ausfallen.




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Anders als in den Diskussionen um die Anschläge suggeriert, liegt die zentrale und höchst ambivalente Funktion des amerikanischen Kinos demnach weniger darin, konkrete Handlungen zu initiieren, als Teil einer kulturellen Selbstverständigung zu sein, in der das Verhältnis von individuellem Sterben und nationalem Selbstbild oder, anders ausgedrückt, die Legitimation des Todes im Namen der Nation ausgehandelt wird. Wenn die Ereignisse des 11. September eine verstörende Wirkung für die Reflexion über das amerikanische Kino besitzen, dann weniger bezüglich der Tatsache, dass es seine Erzählungen mit spektakulären Elementen versieht, als hinsichtlich der neuerlich zu stellenden Frage, wie das Spektakel der Zerstörung mit Versuchen einer 'nationalen Sinnstiftung' verknüpft wird. Nach dem 11. September werden diesbezüglich vordringlich Actiongenres diskutiert, doch die Ästhetik der Zerstörung wird am prägnantesten – und problematischsten – im Kriegsfilm entfaltet, der sich historisch auch am stärksten in den Dienst patriotischer Anliegen hat nehmen lassen. Der Begriff der Erinnerungspolitik soll daher im Folgenden primär auf die filmische Repräsentation kriegerischer Konflikte bezogen werden.


3 Erinnerungspolitik als kulturelle Funktion des Kinos

Das amerikanische Mainstream-Kino zielt auf Popularität seiner Produktionen durch Zustimmung eines möglichst breiten Publikums. Seine Geschichten sollen allgemeinverständlich sein, und es wendet sich zumeist 'normalen' Menschen zu, die über sich hinauswachsen und damit zu Heldenfiguren werden können. Seit seinen Anfängen ist der Hollywood-Film damit Ausdruck eines demokratischen Kulturverständnisses, auch wenn diese kulturelle Basis nicht im Sinn einer ungebrochenen Fortschrittsgeschichte verklärt werden sollte. Zudem ist Hollywood, wie schon Fritz Lang mit dem Hinweis auf eine "fabrikmäßig hergestellte Ware" bemerkt, eine Industrie: Es erzählt seine Geschichten im Rückgriff auf wiederkehrende Formeln, die in Genrekonventionen gebündelt werden, weil damit eine arbeitsteilige Produktionsweise und hohe Produktivität möglich sind. In den 1940er Jahren wurden diese Phänomene von der Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor Adorno (1988/1942: 128–176) abwertend als "Kulturindustrie" bezeichnet. Doch von den Filmen Hollywoods geht weltweit ein ungebrochener Reiz aus, der nicht zuletzt mit dem Anspruch erklärbar ist, auf eine demokratische, d.h. nichtelitäre und mehrheitsorientierte Kunst hinzuarbeiten.3




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Auf der anderen Seite dienen bestimmte Genres – vor allem, wenn sie historische Ereignisse aufgreifen – ausdrücklich der nationalen Sinnstiftung. Beim Kriegs- oder Antikriegsfilm umfasst dies den Sinn und Zweck kriegerischer Konflikte, Helden- und Feindbilder, aber vor allem den Begriff der Nation, für die es sich zu kämpfen und zu sterben lohnen soll. Solche Produktionen versuchen immer zweierlei: Sie wenden sich im Sinn des demokratischen Anspruchs den konkreten Erfahrungen 'einfacher Leute' zu. Und sie verbinden diese Erfahrungen mit bestimmten amerikanischen Mythen. Gerade für historische Stoffe kann dieses Vorgehen heikel sein: Auch wenn konkrete Erfahrungen gezeigt und in realistischer Form erzählt werden, besteht die Gefahr, historische Konkretheit durch mythische Verklärung oder ideologische Vereinfachung zu überdecken. Diese Tendenz ist dem Hollywood-Kino in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen worden, aber auch hier muss man bestimmen, welche Mythen zu welcher Zeit für die Selbstwahrnehmung des Landes wichtig werden.

Für den Begriff der Erinnerungspolitik im Kriegsfilm lässt sich auf jeden Fall zweierlei festhalten: Erstens, indem Filme konkrete historische Ereignisse mit nationalen Mythen zusammenführen, tragen sie zu einer Neu- oder Umschreibung von Geschichte bei. Im Extremfall überlagert der Mythos – eine transhistorische, ins Allgemeine gewendete Struktur – historische Konkretheit. Zweitens gilt es, diesen Prozess des Umschreibens von Geschichte auf die aktuelle kulturelle Situation des Landes zu beziehen, denn Erinnerung unterliegt bestimmten Interessen, die politische Funktionen annehmen können oder ihnen dienen. Im Fall des Kriegsfilms muss daher die Frage erörtert werden, zu welchem Zeitpunkt ein zurückliegender kriegerischer Konflikt filmisch dargestellt wird und wie dieses kulturelle Umfeld auf die Darstellung einwirkt. Dabei sollte klar sein, dass der Begriff der Erinnerungspolitik nicht per se als manipulatives Verfahren zu verstehen ist. Denn im Anschluss an Richard Slotkin (2001) kann man feststellen, dass sich jede Nation aufgrund ihrer ethnischen und religiösen Heterogenität in ihrem Selbstbild zu einem großen Teil erfinden muss, und dass zu diesem Zweck bestimmte Gründungsmythen tradiert werden – in den USA beispielsweise der Frontier Myth, also der Mythos, dass sich die amerikanische Nation in der Entdeckung, Eroberung und Besiedelung des Westens herausbildete. In diesem Sinn trägt das Kino zu einer kulturellen Praxis bei, die auch in anderen Medien vorgenommen wird: Es erfindet ein (fiktives) Bild, mit dem sich die Nation als kohärente Gemeinschaft imaginieren kann.

Um diesen Prozess zu veranschaulichen, sollen zwei Beispiele zum Zweiten Weltkrieg thematisiert werden, die durch ihre Gemeinsamkeiten, aber auch ihre signifikanten Differenzen aufschlussreich sind: Sahara (Zoltan Korda, 1943) und Saving Private Ryan (Steven Spielberg, 1998). In beiden Fällen wird auf ein konkretes historisches Ereignis – den Zweiten Weltkrieg – Bezug genommen, aber je nachdem, wann die Filme produziert werden, dient die Darstellung einem unterschiedlichen Selbstbild als kämpfende Nation.




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Gerade der Kriegsfilm arbeitet mit sehr emphatischen Bildern: er heroisiert Figuren, die für ihr Land sterben wollen, und arbeitet auf ein patriotisches Ideal der Nation hin. Herausgehobene Szenen, die fester Bestandteil des Genres sind, widmen sich daher ausdrücklich der Erklärung oder Legitimation von Kampfhandlungen.

Sahara kommt im Jahr 1943 in die Kinos. Der Film nimmt daher auf Kriegshandlungen Bezug, die zu diesem Zeitpunkt noch voll im Gange sind. Saving Private Ryan ist demgegenüber im Jahr 1998 in den Kinos zu sehen. Er blickt aus einer über 50-jährigen Distanz auf das Geschehen zurück, und diese zeitliche Distanz ist wichtig, wenn man seine spezifische Erinnerungspolitik verstehen will. Die Geschichte von Sahara spielt in der Wüste Afrikas. Versprengte Soldaten unterschiedlicher Herkunft formieren sich zu einer neuen Einheit und besetzen eine Wasserstelle. Diese verteidigen sie unter hohen Verlusten gegen anrückende deutsche Truppen, bis die letzten beiden Überlebenden – darunter Humphrey Bogart – durch englische und amerikanische Einheiten entlastet werden. In Saving Private Ryan ist zunächst die Landung alliierter Truppen an der Atlantikküste zu sehen. Dann wird eine kleine Einheit amerikanischer Soldaten abgestellt, sich auf die Suche nach einem Soldaten namens Ryan zu machen. 'Private Ryan' entstammt einer Familie, aus der vier Brüder in den Krieg gezogen sind; nur er ist noch am Leben. Um der Mutter weiteres Leid zu ersparen, soll der vierte Sohn von der Front abgezogen werden. Als man ihn schließlich findet, nimmt er jedoch teil an der Verteidigung einer strategisch wichtigen Brücke und kann als einer der wenigen Beteiligten dieses Kampfes überleben.

Beide Filme weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf: Sie erzählen von einem letzten Gefecht – der Verteidigung von Wasserstelle und Brücke, bei dem die kämpfende Einheit angesichts eines hartnäckigen Gegners langsam dezimiert wird. Und sie implizieren, dass der aussichtslose Kampf ein Selbstopfer für die Nation darstellt, das den höheren Zielen des kriegerischen Konflikts dient. Sie legitimieren und idealisieren das Sterben für die Nation und stellen die Bereitschaft zur Selbstaufgabe als Voraussetzung für heldenhaftes Verhalten dar.4 Doch die Legitimation dieses Selbstopfers nimmt eine ganz andere Form an. In Sahara wird eine Zusammensetzung der kämpfenden Einheit präsentiert, die von einer bestimmten Idee durchdrungen ist: der Internationalität. Die Soldaten kommen aus Südafrika, England, Irland, den Vereinigten Staaten sowie aus Frankreich, und alle scheinen sich in den plastischen Erinnerungen des Franzosen wiederzufinden, den die Nazis mit Greueltaten in den Widerstand trieben.




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In der politischen Rhetorik des Films von 1943 kann der anstehende Kampf – und damit der Krieg insgesamt – nur gewonnen werden, wenn sich eine internationale Allianz zusammenschließt, die gemeinsam gegen die europäischen Diktatoren vorgeht. Für das Kinopublikum der frühen 1940er Jahre macht dieser Film deutlich, dass Amerika zwar die Führung der Kampfhandlungen innehat, dass das Land aber in einem breiten Bündnis agiert.

Was lässt sich in dieser Hinsicht über Saving Private Ryan aussagen? Zunächst sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Film für die Sequenz der ersten zwanzig Minuten bekannt geworden ist, die detailliert und verstörend die Landung der alliierten Truppen in der Normandie nachstellt. Angesichts dieses wahllosen Gemetzels mag verwundern, dass der spätere Auftrag darin besteht, ein einzelnes Menschenleben zu retten, denn mit dem Anfang wird impliziert, dass im modernen Krieg das einzelne Leben praktisch nichts mehr zählt. Doch gerade in dieser Wendung lässt sich eine Grundstimmung des Films erkennen, der zur Kategorie des sentimentalen Melodramas zu rechnen ist. Er betrauert die Wertlosigkeit des Einzelschicksals und erzählt trotzig eine Geschichte, in der ein einfacher Soldat eben doch nicht nur eine anonyme Figur, sondern ein herausragendes Individuum ist.

Für die Erinnerungspolitik der 1990er Jahre, in denen der Film zu sehen ist, dominiert also zunächst eine Trauer über die Toten des Zweiten Weltkriegs, an die mit einem über 50-jährigen Abstand erinnert wird. Gleichzeitig findet auch hier – wie in Sahara – im letzten aussichtslosen Gefecht eine Heroisierung der Soldaten statt. Aber wie an einer Schlüsselszene mit General George C. Marshall – einer historischen Figur – zu erkennen ist, spielt das Thema der Internationalität des Kriegs keine Rolle. Für die Legitimation der Kampfhandlungen hat vielmehr fast eine 180-Grad-Wendung stattgefunden, denn General Marshall zitiert aus einem Brief, den Präsident Abraham Lincoln der Witwe Bixby geschrieben haben soll, als diese im Bürgerkrieg ihre Söhne verloren hatte.

Während in Sahara der Kampf als internationale Allianz legitimiert wird, findet in Saving Private Ryan eine Überblendung des Zweiten Weltkriegs mit den Erfahrungen und Lektionen des amerikanischen Bürgerkriegs statt. Der Krieg in Europa wird in den historischen und mythischen Rahmen eines inneramerikanischen Konflikts transformiert. Folgerichtig hängt im Büro von Marshall ein Porträt George Washingtons: Der Zweite Weltkrieg und General Marshall sollen in einer Linie mit dem Bürgerkrieg und Abraham Lincoln sowie den Unabhängigkeitskriegen und George Washington stehen.




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Neben der Trauer um die Opfer und einem trotzigen Festhalten an der Einzigartigkeit des einfachen Soldaten ist die Erinnerungspolitik von Saving Private Ryan also dadurch gekennzeichnet, dass der Zweite Weltkrieg aus internationalen und europäischen Bezügen herausgelöst und in eine inneramerikanische Abfolge kriegerischer Konflikte gestellt wird. Vom internationalen Kampf in Sahara zur Sorge um das Leiden der amerikanischen Nation in Saving Private Ryan hat sich ein beachtlicher Wahrnehmungswandel des Zweiten Weltkriegs vollzogen.

Was könnte das erinnerungspolitische Interesse der 1990er Jahre daran sein? Der Bürgerkrieg steht im allgemeinen dafür, die Spaltung der amerikanischen Nation abgewendet und das Ende der Sklaverei besiegelt zu haben. Er hat die amerikanische Nation geeint und war Voraussetzung für ihren stetigen Aufstieg im 19. Jahrhundert. Ähnliches wird für die 1990er Jahre vermutet: Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die USA unbestrittene Supermacht. Filme wie Saving Private Ryan tragen dieser Position Rechnung, indem sie den Zweiten Weltkrieg nicht mehr als internationale Anstrengung verstehen, sondern als Indiz nationaler Stärke reinterpretieren (cf. Kodat 2000). Wenn George Marshall sich auf Abraham Lincolns Worte des Trostes besinnt, wird ein inneramerikanischer Opferdiskurs bemüht, der den Heldentod als Vorbedingung für größere nationale Einheit und Stärke ansieht. Saving Private Ryan impliziert, dass der Aufstieg Amerikas nach verlustreichen Kämpfen gestärkt voranschreiten kann.

Man sieht also, dass das Selbstbild der Nation, d.h. die Art und Weise wie die Nation imaginiert wird, trotz Bezugnahme auf das gleiche historische Ereignis in beiden Filmen sehr unterschiedlich ausfällt und könnte aus vielen anderen Beispielen weitere Elemente hinzufügen. Gerade das Jahr 1943 ist für das amerikanische Kino wichtig, denn die kämpfenden Einheiten der amerikanischen Armee werden immer häufiger als multiethnisches platoon gezeigt, und diese Erweiterung um afro- oder hispanoamerikanische Soldaten kann durchaus als multikulturelle Demokratisierung verstanden werden (cf. Basinger 1986, Slotkin 2001). Dennoch stellt sich die Frage, ob in den 1990er Jahren mit dem für Saving Private Ryan beschriebenen Verfahren, das historisch Konkrete im Sinn nationaler Mythen umzuschreiben, nicht jene Mentalität des Unilateralismus zum Ausdruck kommt, die heute als besonderes Problem im politischen Handeln der USA verstanden wird.




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Schaut man sich andere Kriegsfilme der jüngeren Zeit wie Pearl Harbor (Michael Bay) aus dem Jahr 2001 an, so kann man erkennen, dass der Zweite Weltkrieg noch kurz vor den Anschlägen des 11. September dazu dient, das fanatische Selbstopfer als Kamikazeflieger für die amerikanische Nation zu glorifizieren, und dass Hollywood in den 1990er Jahren tatsächlich auf neue Märtyrerbilder opferbereiter junger Männer hinarbeitet.5


4 Herrliche Räubergeschichten?

Das Hollywood-Kino kann demnach eine nationale Sinnstiftung und Selbstimagination vornehmen, die zutiefst patriotisch und affirmativ ist. Aber mit Bezug auf andere kriegerische Konflikte hat es im Allgemeinen eine gegenläufige Erinnerungspolitik unterstützt: Der Erste Weltkrieg etwa ist der klassische Bezugspunkt des Antikriegsfilms, wie auch die Darstellung des Vietnamkriegs eher von Legitimationskrisen und Antihelden als von patriotischem Elan erzählt. Die Filme aus der 'Traumfabrik' bieten also Aufschluss über Selbstbilder der amerikanischen Nation, mit denen eine gefühlsmäßige Bindung an ihre Werte und Traditionen erfolgen soll. Sie stellen vielfältige Versuche dar, eine Nation in kohärenter Gestalt zu imaginieren, lassen sich aber weder ästhetisch noch ideologisch zu einem widerspruchsfreien oder eindimensionalen Bild vereinheitlichen. Vielleicht ist es gerade die Hollywood-typische Mischung aus Affirmation, Ambivalenz und Kritik, die für europäische Beobachter so verstörend wirkt. Denn sie ist das Resultat einer Industrie, der es gelingt, kulturelle Zeitströmungen so umgehend aufzugreifen, dass das Kino mit der Popularität und Zugänglichkeit seiner Geschichten zum streitbaren Ausdruck einer demokratischen Kultur wird.

Schon die Reiseberichte der 1920er Jahre registrieren die Zeitgemäßheit des amerikanischen Kinos, etwa wenn Fritz Lang im Jahr 1924 bemerkt: "Fast unerreichbar sind die Amerikaner, wo sie Themen mitten aus ihrem ureigensten Leben verfilmen." (Lang 1924: 213) In seinen Aufzeichnungen bekennt der deutsche Regisseur seine Vorliebe für jene Hollywood-Filme, die heute dem Actiongenre zugerechnet würden: "Ich sitze im Kino, lasse mir anderthalb Stunden lang durch eine herrliche Räubergeschichte alles Europäisch-allzu-Europäische aus dem Kopf blasen und bin hinterher vergnügt und guter Dinge und irgendwie erfrischt." (ebd.: 212) Achtzig Jahre später sind aus den Räubergeschichten immer ausgefeiltere Katastrophenfilme geworden, denen nicht mehr die gleiche Harmlosigkeit zugestanden wird wie bei Fritz Lang.




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Die Kritik am Spektakelcharakter Hollywoods, die nach den Anschlägen des 11. September geäußert wurde, erscheint rückblickend jedoch als überzogen. Was im Strudel von Katastrophenbildern als Verlust eines historischen Bewusstseins beklagt wurde, trifft eher auf das Echtzeitprogramm des Fernsehens zu, nicht aber auf das Kino.

Im Rahmen dieses Nachtrags wurde daher argumentiert, dass zwischen den Erzählungen in Kino und Fernsehen differenziert werden sollte. Für den Film lässt sich die Ästhetik der Zerstörung – etwa im Kriegsfilm – als Teilaspekt einer kulturellen Erinnerungspolitik verstehen. Auch die Individualisierung von Gewalt, die terroristische Züge trägt (etwa am Ende von Fight Club), sollte nicht voreilig als ihre Verherrlichung entlarvt, sondern zunächst im größeren narrativen und generischen Kontext verständlich gemacht werden. Für das Fernsehen richtet sich hingegen die Aufmerksamkeit auf jenen Bereich, den Pierre Bourdieu (1998) mit polemischer Schärfe als 'journalistisches Feld' erörtert hat. Eine entscheidende Rolle in modernen Kriegen kommt dem Fernsehjournalismus zu: die dramatisierte Dynamik des countdown in Nachrichtensendungen, die Ästhetik der Zerstörung in Echtzeit, die institutionelle Verquickung von Journalisten und Militärs – all diese Phänomene setzen Entwicklungen fort, die für die traditionelle Propagandaforschung im Filmmedium begannen, dort aber an Bedeutung verloren haben.

Trotz oder wegen der Ungeheuerlichkeit der Anschläge vom 11. September kann man davon ausgehen, dass es in den kommenden Jahren Filme geben wird, die sie thematisieren. Diese Filme werden spektakulär sein, aber gleichzeitig werden sie versuchen, das, was im Fernsehen als Echtzeitprogramm ablief, in einen größeren narrativen Zusammenhang zu stellen. Die Konkurrenz zwischen Kino und Fernsehen wird dazu führen, dass die Fernsehberichte mit den Flugzeugen und den brennenden Hochhäusern innerhalb der Filme zu sehen sind, dass am Ende aber das Kino als Forum für eine nationale Sinnstiftung zu triumphieren versucht.




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Die Anschläge vom 11. September waren so drehbuchartig und filmgerecht, dass sie zwanglos in bestehenden Kriegs- und Katastrophengenres dargestellt werden könnten. Wichtiger als die Frage nach ihrem möglichen Vorbildcharakter ist aber vielleicht der Umstand, dass diese Genres für eine Reaktion auf die Geschehnisse als skriptartige Vorlage zur Verfügung standen. Sie enthielten Handlungsmuster und Rollenmodelle, mit denen den traumatisierenden Erfahrungen begegnet werden konnte, um sie als kulturelle Erzählung verfügbar zu machen, auch wenn ein derartiges Ereignis tatsächlich nach einer weniger stereotypen und genregesteuerten Reaktion verlangen mag.

Mit dieser prinzipiellen Erzählbarkeit, die, wie angedeutet, immer einer kritischen Reflexion unterzogen werden muss, scheint der Terrorismus vom 11. September noch stärker dem 20. als dem 21. Jahrhundert verhaftet zu sein, für das er stehen soll. Denn was über den Zweiten Weltkrieg gesagt wurde und was auch für den Ersten gilt, ist, dass hier die Ereignisse und Kampfhandlungen in einer Form nachvollziehbar waren, die für eine filmische Darstellung grundsätzlich erschließbar schien. Wenn man Paul Virilios Thesen zum modernen Krieg von heute folgt, stellt sich die Frage, ob er mit den bestehenden Mitteln des Kinos überhaupt noch erzählbar ist. Wenn Waffensysteme vom Bildschirm aus gesteuert werden, Raketen sich ihre Ziele selbst suchen, Satelliten die Truppenbewegungen überwachen, wenn also die Kriegführung vollständig technologisiert und automatisiert ist, können dann die vertrauten Erzählmuster noch greifen? Es wurde der Satz zitiert, dass eine Welt, die sich in Kinobildern auflöst, ihre Geschichte verliere. Vielleicht ist es jedoch schlimmer, wenn es für ein Nachdenken über Geschichte keine Kinobilder mehr gibt.


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Anmerkungen

1 Den Begriff der 'Weltherrschaft' verwendet Bernd Scheffer (2003) in einer frühen Version seines Beitrags. Er bemüht sich insgesamt zwar um eine differenzierte Analyse, verfällt aber vor allem bei der Betrachtung des Hollywood-Kinos auch in der aktuellen Version in einen pauschalisierenden Gestus, der dieses Bemühen stellenweise unterläuft.




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2 Am intelligentesten formuliert Jean Baudrillard (2003) diese ambivalente Dynamik terroristischer Anschläge, dieses radikale Oszillieren zwischen Abscheu und Zustimmung.

3 Zur Geschichte des Hollywood-Kinos cf. Bordwell/Thompson/Staiger 1988, Schatz 1988, Musser 1990, Bowser 1990.

4 Vgl. zur Geschichte des Kriegsfilm-Genres Basinger 1986.

5 Die kritische Einschätzung jüngerer Produktionen ließe sich mit weiteren Beispielen ergänzen: Black Hawk Down (Ridley Scott, 2001) setzt beispielsweise die historische Funktion des Kriegsfilms fort, die zerstörungswürdige Andersheit des 'Feindes' durch seine rassistische Überzeichnung zu suggerieren.

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