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Christof Decker (München)



Stefan Machura, Stefan Ulbrich (Hgg.) (2002): Recht im Film. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.



Mit Recht im Film legen die Herausgeber Stefan Machura und Stefan Ulbrich einen Sammelband vor, der ein für den deutschsprachigen Raum noch relativ neues Forschungsfeld erschließen soll. Wer an die spektakulären Prozesse der Vergangenheit – etwa von O. J. Simpson – denkt, kann unmittelbar nachvollziehen, daß zwischen Gerichtsverfahren und den dramatischen Konflikten in fiktionalen Geschichten mannigfaltige Überschneidungen bestehen: "Tatsächlich gibt es viele Parallelen zwischen einem großen Gerichtsprozess und einem Theaterstück, insbesondere, wenn dieser vor einem Geschworenengericht und viel Publikum stattfindet." (8) Diese Überschneidungen sind in den letzten Jahren als kulturell aufschlußreiche Konstellationen entdeckt und für die Forschung verstärkt erschlossen worden, auch wenn es zu Teilbereichen – etwa dem court-room drama – immer schon Einzelstudien und Genreanalysen gab. Der Topos 'Recht im Film' greift nicht nur Aspekte der Dramaturgie auf, sondern auch Fragen der Gerechtigkeit, des Rechtssystems, der Gewalt oder der Wahrheitsfindung.

Die Herausgeber betonen, daß Genres wie der Gerichtsfilm aus anglo-amerikanischen Rechtstraditionen mit ihren publikumswirksamen Verfahrensregeln ihre wichtigsten Impulse und Muster erhalten haben. Aus diesem Grund widmen sich mehrere Artikel dem amerikanischen Kino und Fernsehen, aber auch der europäische Film – vor allem aus Italien und Deutschland – wird behandelt.




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Der Band umfaßt die Beiträge: "Evidenz. Die Wahrheit des Films und die Wahrheit des Verfahrens" (Michael Niehaus), "Das politische System Italiens im Wandel: Recht und Justizwesen im italienischen Film der neunziger Jahre" (Michael Strübel), "Braune Leinwand. Antisemitische Rechtspropaganda im Film des Dritten Reiches" (Felix Ecke), "Das Bild der Justiz im NS-Film am Beispiel der Filme Der Verteidiger hat das Wort und Der Gasmann" (Eyke Isensee, Peter Drexler), "Der Mythos des Rechts in Filmen von John Ford" (Michael Böhnke), "Recht und Gerechtigkeit in der amerikanischen Literaturverfilmung: To Kill a Mockingbird und Snow Falling on Cedars" (Susanne M. Maier), "Die amerikanische Militärjustiz im Film: The Caine Mutiny Court-Martial (1988)" (Matthias Kuzina) sowie "Das Recht des Star Trek – eine wissenssoziologische Rekonstruktion" (Matthias Junge).

Der Band – entstanden als Resultat einer Tagung – hat Einstiegscharakter. Weder will er das Forschungsgebiet umfassend abdecken, noch verfolgt er in der Kombination der einzelnen Beiträge eine übergreifende Argumentationslinie. Dazu steckt die Untersuchung der filmischen Repräsentation rechtlicher Fragen in Deutschland noch zu sehr in den Kinderschuhen. Aber er hat sich zur Aufgabe gemacht, die Diskussion über 'Recht im Film' im Sinn einer transdisziplinären Perspektive zu beleben, und dies löst er stellenweise auch ein. Einleitend formulieren die Herausgeber: "Ziel dieses Bandes soll es sein, politische und soziale Hintergründe der erzählten Geschichten, der Filmproduktion und -rezeption, juristisches Verständnis der gezeigten Fälle, Analyse der filmischen Darstellung und ihrer Mittel zu verbinden." (15) Obwohl Machura und Ulbrich betonen, daß die Zusammenführung von Rechtsfragen und Fragen ihrer fiktionalen Repräsentation im Gegensatz zu den USA ein neues, aber stetig wachsendes Forschungsfeld darstellt, fehlt in ihrer Einleitung allerdings ein systematischer Forschungsüberblick, der die verschiedenen theoretischen Richtungen und Forschungsergebnisse zusammenfassend vorstellen würde. Hier muß sich der interessierte Leser mit den Verweisen im Literaturverzeichnis begnügen.

Die Qualität der einzelnen Beiträge ist sehr unterschiedlich, aber insgesamt ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitergehende Fragestellungen. Einige Beispiele seien kurz genannt. Michael Niehaus untersucht das Verhältnis zwischen unterschiedlichen 'Wahrheitsordnungen', die innerhalb der Fiktion aufeinanderprallen: die Wahrheit des juristischen Verfahrens und die davon häufig abweichende Wahrheit, die der Film den Zuschauern durch bestimmte narrative Verfahren nahelegt. Zwischen beiden Ebenen kommt es zu Spannungen, aber im Augenblick einer außerordentlichen Begebenheit können sie sich auch momenthaft treffen – häufig sind dies die dramatischen Höhepunkte. Michael Böhnke untersucht das Rechtsverständnis in den Filmen John Fords und kann zeigen, daß sie durch eine Verschmelzung des Naturgegebenen mit dem Sozialisierenden auf Gründungsmythen der amerikanischen Nation zurückgehen bzw. diese in einer filmischen Form repräsentieren. Felix Ecke widmet sich der Frage, wie der Film des Dritten Reichs – etwa in Jud Süß – die politische Justiz als Waffe für antisemitische Propaganda einsetzt. Auf perfide Weise wird Unrecht filmisch in Szene gesetzt und zur Bekräftigung von Vorurteilen und Ressentiments instrumentalisiert. Matthias Kuzina beschreibt in einer ausführlichen Analyse, wie Fragen der Militärjustiz in der mittleren, theaterorientierten Phase im Filmschaffen Robert Altmans thematisiert werden.




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Das Niveau der einzelnen Artikel ist – wie angedeutet – sehr schwankend, und man hätte sich ein stärkeres editorisches Eingreifen der Herausgeber gewünscht. An den genannten Beispielen zeigt sich aber das weite Forschungsspektrum, das mit dem Titel Recht im Film umspannt ist: nationale Mythen, das Verhältnis von Gewalt und Gesetz, kulturelle Besonderheiten in der Darstellung des Rechtssystems oder divergierende Gerechtigkeits- und Wahrheitsvorstellungen. Insgesamt müßte deutlicher werden, daß für das Kino häufig die Kehrseite – also die Erfahrung von Unrecht und Ungerechtigkeit – das stärkste dramatische und rhetorische Potential entfalten konnte. Dennoch liegen mögliche Erweiterungen der Forschungsarbeit auf der Hand: andere Filmkulturen und Erzählweisen könnten hinzugenommen werden, ebenso andere Genres wie der Dokumentarfilm, der im vorliegenden Band nicht behandelt wird.

Eine Stärke des Sammelbandes ist seine Transdisziplinarität, die aber auch eine Nachteile mit sich bringt. Alle Beiträge sind mit ausführlichen Filmographien ausgestattet, so daß der Einsteiger unmittelbar in eine intensive Phase der Filmsichtung einsteigen kann. Weniger vollständig sind hingegen die Hinweise zur filmgeschichtlichen Literatur. Während einzelne Beiträge gewissenhaft zentrale Texte zu einzelnen Filmen oder Regisseuren auflisten (Böhnke, Kuzina), vermißt man Hinweise auf Standardwerke des deutschen Films, insbesondere des Films der Jahre von 1933 bis 1945 (Ecke, Isensee/Drexler). Einige Autoren stammen aus dem Bereich der Rechtsgeschichte, doch insgesamt widmet sich der Band ausführlicher der Filmanalyse als der Zusammenschau rechtshistorischer oder -theoretischer Fragen, die mindestens ebenbürtig zu behandeln wären – ein Indiz für die Suggestivkraft fiktionaler Formen und die Schwierigkeit, sie tatsächlich in ein fruchtbares Verhältnis zu Grundfragen der Rechtspraxis zu stellen. Plakativ ausgedrückt: Mitunter wünscht man sich mehr Rechts- als Filmgeschichte und insgesamt einen weniger deskriptiven, stärker argumentativen Zugang.

Eine verwandte Problematik steckt in der Einleitung: Die Herausgeber sehen eine "klassische Ära der Heroisierung des Rechts und der Juristen" im Hollywood-Kino von Mitte der 30er Jahre bis Mitte der 60er Jahre; danach würden verstärkt "korrupte Richter" oder "geldgierige Anwälte" gezeigt (10). Damit blenden sie jedoch – abgesehen von den kulturellen Vorformen des Kinos im 19. Jahrhundert – die mannigfaltigen Darstellungen eines korrumpierten Rechtssystems im Stumm- und frühen Tonfilm aus. Die Figur des Anwalts etwa ist immer schon – besonders in den frühen 30er Jahren – eine ambivalente Figur, deren moralische oder amoralische, rechtsstabilisierende oder korrupte Verhaltensweise Aufschluß über die kulturelle Wahrnehmung des Rechtssystems insgesamt gibt. Die Neigung, einzelne Dekaden mit einer 'positiven' oder 'negativen' Darstellung des Rechts zu assoziieren, muß also einer verfeinerten Analyse von Justizfilmen oder juristischen Elementen (etwa der Gerichtsverhandlung) in anderen Genres weichen, wenn es längerfristig zu einer fruchtbaren Analyse von Rechts- und Filmgeschichte kommen soll. Gerade die gegensätzliche Darstellung von Figurenstereotypen in bestimmten Perioden ist ein interessanter, klärungsbedürftiger Umstand.




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Mit Recht im Film liegt ein anregender, in einzelnen Teilen lesenswerter, wenn auch insgesamt ein wenig unausgegoren wirkender Diskussionsbeitrag vor, der für verschiedene Disziplinen – Rechtsgeschichte, Kulturgeschichte, Film- und Mediengeschichte – von Interesse sein dürfte. Einigen Beiträgen gelingt es dabei, die Thematik im Sinn einer transdisziplinären Perspektive zu entfalten. Nun sollten die zahlreichen Anknüpfungspunkte mit weiteren Studien vertieft werden.

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