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Burkhard Pohl (Göttingen)


Susanne Igler und Roland Spiller (Hgg.) (2001): Más nuevas del imperio. Estudios interdisciplinarios acerca de Carlota de México. Frankfurt/M.: Vervuert. (= Lateinamerika-Studien, 45).


Obgleich nur von kurzer Dauer, hat die Regentschaft des Kaiserpaars Maximilian von Habsburg und Charlotte von Belgien in Mexiko (1864-67) Zeitgenossen und Nachwelt immer wieder in den Bann gezogen. Von Napoleon III. zur Übernahme der Kaiserwürde gedrängt, stand Maximilian bald auf verlorenem Posten zwischen der mexikanischen Nationalbewegung unter Benito Juárez und den Interessen der europäischen Imperialmächte. Das tragische, in der Tat romanhaft anmutende Schicksal der Monarchen – Maximilians Hinrichtung, Charlottes Geistesverwirrtheit – hat Historiker wie Künstler gleichermaßen angeregt, wobei die politische Leistung des Segundo Imperio Mexicano kontrovers diskutiert wurde und Legende und Historie eine oft kaum noch trennbare Verbindung eingingen.

Die Beiträge des von Susanne Igler und Roland Spiller vorgelegten Sammelbandes schlagen in dieser Diskussion nun ein neues Kapitel auf. Sie spiegeln das nach wie vor breite Interesse, das dieser historischen Episode aus verschiedenen Disziplinen entgegengebracht wird. Während aber die Geschichtsschreibung traditionell zumeist vom männlichen Herrscher Maximilian ausgegangen sei, so die Herausgeber im Vorwort, steht nun Carlota/Charlotte im Vordergrund, die nach ihrer 1866 erfolgten Rückkehr nach Europa noch sechzig Jahre in geistiger Umnachtung lebte. Siebzehn auf Spanisch abgefasste Beiträge widmen sich der zur Ikone gewordenen Kaiserin Carlota aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Mehrzahl der Artikel (acht) entstammt der Literaturwissenschaft, wobei zugunsten des interdisziplinären Konzepts des Bandes nur ein kleiner Teil der unzähligen literarischen Adaptationen des historischen Motivs aufgenommen werden konnte; unerwähnt bleiben musste z.B. ein Carlos Fuentes1, aber auch zeitgenössische deutschsprachige Übernahmen etwa bei Franz Werfel oder Karl May.

Einen Schwerpunkt bilden Analysen zur Verarbeitung des historischen Stoffes in der mexikanischen Literatur. Susanne Igler untersucht beispielsweise den hierzulande kaum bekannten Romancier und Theaterautor Vicente Leñero, der Carlota zur Heldin seines Dramas Don Juan en Chapultepec (1997) macht, einer metaliterarischen "versión alternativa" (172) der Realhistorie: Carlota führt eine Dreiecksbeziehung mit Maximilian und dem spanischen Dramaturgen José Zorrilla, der sich seinerzeit am Kaiserhof aufhielt und das Nationaltheater leitete. In ihrer Interpretation von Leñeros Stück fokussiert Igler die "Humanisierung" des Kaiserpaares, das jenseits der politischen Leistung in das kollektive Imaginäre Mexikos eingeschrieben wird. Leñero nimmt damit eine versöhnliche Neubewertung von Carlota und Maximilian vor, die im offiziellen historiographischen Diskurs meist als imperialistische Antipoden des Nationalhelden und Befreiers Benito Juárez hingestellt wurden.



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Ähnlich geht Homero Aridjis vor, der in seinem Drama Adios, mamá Carlota (1983) Maximilians Tod zur historischen Integration des Kaiserpaars in die mexikanische kollektive Identität ausdeutet. Die Analyse von Thomas Stauder zeigt, wie Aridjis aus einem ökologisch engagierten Blickwinkel den Bogen von den 1860er Jahren bis zur Erzählgegenwart spannt, indem er Maximilian als Repräsentanten und Opfer europäischer Kolonialpolitik ansieht, als historisches Exempel für die Zerstörung der natürlichen Weltordnung durch den Menschen.

Der Umgang mit den ausländischen Herrschern bei Aridjis und Leñero entspricht damit einer Sichtweise, die prägnant in Fernando del Pasos epochalem Roman Noticias del Imperio (1987) entwickelt wurde. Dieses Werk, bald nach Erscheinen zum Referenztext der "Nueva Novela Histórica" erhoben,2 führt am Beispiel der Carlota von Mexiko paradigmatisch die antihegemonialen Strategien des postmodernen Romans lateinamerikanischer Ausprägung vor: Metafiktion, Fiktionalisierung und Verzerrung von Geschichte bzw. Historiographie, Polyphonie sowie das Register der von Bachtin definierten Karnevalisierungsstrategien. Entsprechend seines kanonischen Rangs überrascht es kaum, dass allein drei Artikel des Bandes sich mit del Pasos Roman befassen, der folgerichtig auch zum intertextuellen Namensgeber der Sammlung (Más nuevas del imperio) wurde.

Vittoria Borsó liest del Pasos Roman als Dekonstruktion der mexikanischen Nationalmythen und -geschichtsschreibung. Ausgehend von Seymour Mentons einschlägiger Darstellung zur Nueva Novela Histórica, die den Roman als "sinfonía bajtiniana" (Menton 1993: 129) charakterisiert, zeigt Borsó die Dimensionen der Entmythisierung von Historiographie, Literaturgeschichte und Kultur in Noticias del Imperio auf. Gegenüber der dualistischen Logik des liberalen Befreiers Benito Juárez, dessen Figur und Entscheidungen bei del Paso als durchaus ambivalent erscheinen, formuliert die Ich-Erzählerin Carlota die Utopie eines "encuentro" der mexikanischen und europäischen Kultur. Darin, so Borsó, liege aber kein neuer Nationalmythos, sondern ein metahistorisches Ideal; del Paso vollziehe eine "emancipación epistemológica" (122), um die großen (europäischen) Erzählungen von Universalhistorie und Fortschrittsglauben in Mexiko zu entsorgen. Die Studie von Fátima Gallego stellt komplementär die interkulturelle Integrationsleistung der Carlota in Noticias del Imperio in den Mittelpunkt. Als Reisende zwischen Raum und Zeit, als "transterrada" – einem für das spanische Bürgerkriegsexil von José Gaos geprägten Begriff – zeigt sich die Regentin aufgeschlossen für das Mexikanische und überwindet so einen europäisch-alteritären Blick auf das Fremde: In dem als Wahnsinn etikettierten Diskurs Carlotas zeigt sich exemplarisch die Vielstimmigkeit konfliktiver Welten, und damit eine Heterotopie, die sich als wahre Identität Mexikos erweise (155).



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Ingeborg Nickel schließlich rückt den Text von del Paso zunächst in die Nähe von Dependenztheorie und Befreiungstheologie und betont damit zeithistorische Bezüge zum Emanzipationsdiskurs und zur lateinamerikanischen Identitätssuche. In ihrer Darstellung greift sie einzelne Bedeutungsaspekte des Romans auf – die machtpolitische Funktion von Informationsmedien ("noticias"), die symbolische Deutung des weiblichen Körpers als Herrschaftsgebiet, die Funktionalisierung des Wahnsinn-Motivs zum Zwecke der Enttabuisierung –, und identifiziert ebenfalls die Relativierung der Geschichtsschreibung als dessen zentrale Aussage. Alle drei Interpretationen sehen Noticias del Imperio somit in erster Linie als eine historiographische Metafiktion, einen die nationale Geschichtsinterpretation generell in Frage stellenden Roman.3 Unter den Tisch fallen leider mögliche Ausführungen zum ebenfalls im Romantext angelegten antiimperialistischen, tagespolitischen Diskurs, der eine Kontinuität vom Frankreich Napoleons III. zu den USA als amerikanischer Hegemonialmacht des 20. Jahrhunderts herstellt.

In der Zusammenschau der Werke von Aridjis, Leñero und del Paso erscheint die mexikanische Gegenwartsliteratur um historische Gerechtigkeit gegenüber dem europäischen Herrscherpaar im Sinne einer Aneignung des Fremden bemüht. Vor allem Carlota wird nicht mehr in Kategorien der Alterität als Repräsentantin imperialer Macht definiert. Im Lichte aktueller Theoriebildung rückt sie vielmehr als interkulturelle Grenzgängerin in den Mittelpunkt, darüber hinaus als Frau, die die ihr zugewiesene Rolle als Kaisergemahlin aufgibt und ihre geschlechtlichen Rollengrenzen überschreitet.

Während Noticias del Imperio einen Widerspruch zur offiziellen Historiographie formuliert, steht eben diese Disziplin im Vordergrund der sieben Studien im ersten Teil des Bandes von Igler/Spiller. Offenbar ist die Forschung noch sehr mit der moralischen und historischen Beurteilung des dreijährigen Imperiums sowie generell mit der Faktenklärung beschäftigt, da manche Archive erst jetzt zugänglich gemacht werden. Dabei bleibt es leider nicht aus, dass in einigen Beiträgen recht biographistisch über eheliche Zerwürfnisse oder Treue, über Geldgier und persönlichen Ehrgeiz des Herrscherpaars diskutiert wird und dass die Untersuchung stellenweise nicht über die Paraphrase der zitierten Primärquellen hinausgeht.

Einen spannenden Einblick in die Forschungspraxis liefert Verena Teissl: Ihr Arbeitsbericht zur Recherche und Quellenstudie an einem fälschlicherweise Carlotas Verfasserschaft zugeschriebenen Brief weist nach, wie sehr Fiktion und historische Wahrheit in den überlieferten Zeugnissen aufeinandertreffen. Erika Pani analysiert in einer sehr anregenden Studie das Carlota-Bild in einer zeitgenössischen liberalen Satirezeitschrift und kommt von der gender-Perspektive aus zu einem komplexen Befund. Der gerade von Frauen getragene konservative Protest gegen die Religionsgesetze Maximilians bewirkt auf liberaler Seite misogyne Gegenattacken, in denen antiklerikale Positionsnahmen mit höchst traditionellen Frauenbildern einhergehen; auch für die mexikanischen Progressisten blieb die Frau das personifizierte Laster und "viciada de origen" (25). Zwei Beiträge befassen sich mit der politischen Reichweite des Zweiten Imperiums: Jaime del Arenal analysiert den bislang unbeachtet gebliebenen Entwurf einer liberalen Verfassung, der im Manuskript von Carlotas Hand überliefert ist; er entlarvt das Projekt als (wohl von Napoleon initiierte) politische Finte ohne praktische Relevanz (51). Auch Patricia Galeana spürt, unter Auswertung des bisherigen Forschungsstandes, den ideologischen Positionen des Herrscherpaares nach. Sie kommt zum Schluss, dass Carlota durchaus Ansätze einer "roja" gezeigt habe, dass aber auch Maximilian ein durchaus progressiveres Programm vertreten habe als häufig angenommen.



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Weitere Themenblöcke des Bandes sind die internationale literarische und die anderweitige künstlerische Verarbeitung des Carlota-Maximilian-Stoffes. Zwei Beiträge behandeln die zeitgenössische italienische literarische Rezeption (Adrian La Salvia zu vier Dichtern des Ottocento) sowie die Wiederkehr der historischen Figuren im Werk von englischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts (Beatrix Taumann zu D.H. Lawrence, Lowry, Zollinger). Roland Spiller beobachtet an dem bereits 1880 verfassten Schauspiel Juarez ou la guerre de Mexique von Alfred Gassier eine Aneigung für republikanische Ziele und eine Kritik am napoleonischen Frankreich – folgerichtig wurde das Stück kurz nach seiner Aufführung 1886 verboten.

Abschließend stehen zwei Artikel aus den Nachbarkünsten Malerei und Musik. Beim US-amerikanischen Komponisten Robert Avalon klingt die anhaltende Faszination der Kunst für das Sujet Carlota an: sein Ziel ist es, ausgehend von Gerüchten um eine Schwangerschaft Carlotas im Jahre 1867, "the thinking of one of history’s most intriguing figures" (275) musikalisch zu interpretieren. Avalons opulente, christliche und indigene Mythenwelt zusammenführende Inszenierung orientiert sich in ihrem Libretto vor allem an Texten von Sor Juana, einer weiteren "marvelous woman" (275) der mexikanischen Geschichte. Für den Beitrag von Esther Acevedo, die nicht weniger als 25 zeitgenössische Carlota-Porträts vorstellt – die dankenswerterweise reproduziert sind –, wäre eine tiefergehende Analyse des hochinteressanten Materials wünschenswert gewesen. Dies gilt zum Beispiel für den im Text versteckten Hinweis, dass in der Konkurrenz neuer und alter Medien die Photographie gegenüber der Malerei eine andere Herrscherfigur entwirft (282) – Carlota wird als Bürgerdame inszeniert –, der mediale Wandel somit zu einem Wandel im Bild von kaiserlicher Macht führt.

Wissenschaftliche Sammelwerke und Tagungsbände haben oft mit der Heterogenität der darin versammelten Beiträge zu kämpfen. Dieser Band macht eine wohltuende Ausnahme und zeichnet sich durch seine Interdisziplinarität bei gleichzeitiger thematischer Homogenität und Kohärenz aus. Er bietet somit eine vielschichtige Einführung in sein Thema, sowohl was die Realhistorie als auch ihre literarische Verarbeitung angeht; schließlich ermöglicht er einen Einblick in die Bandbreite der wissenschaftlichen Herangehensweise und Methodologie bezüglich eines weit rezipierten historischen Stoffes.


Bibliografie:

Igler, Susanne (2003): "Erotik und Horror: Verführung durch die Eva podrida in Carlos Fuentes' Aura und Tlactocazine, del jardín de Flandes", in: Müller, Eva Katrin, Holger Siever und Nicole Magnus (Hgg.): Alterungsprozesse: Reifen – Veralten – Erneuern. Beiträge zum 18. Nachwuchskolloquim der Romanistik. Bonn: Romanistischer Verlag, 101–117.

Menton, Seymour (1993): La Nueva Novela Histórica de la América Latina, 1979–1992. México: FCE.



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Pope, Randolph (1996): "The Spanish American novel from 1950 to 1975", in: Roberto González Echevarría und Enrique Pupo-Walker (Hgg.): The Cambridge History of Latin American Literature. Vol. 2: The Twentieth Century. Cambridge: Cambridge University Press, 226–277.

Shaw, Donald L. (1999): Nueva narrativa hispanoamericana. Boom, Posboom, Posmodernismo. Sexta ed. ampliada. Madrid: Cátedra.


Anmerkungen:

1 Zu Carlos Fuentes vgl. Igler (2003).

2 Die Cambridge History würdigt ihn als "best example" der "new historical novel" und "as ambitious and encyclopedic as any of the masterpieces of the Boom." (Pope 1996: 288).

3 Anders Shaw, der bei del Paso historiographische, jedoch nicht dekonstruktivistische Ambitionen vermutet: "Noticias del Imperio [...] no intenta deconstruir la historia oficial." (Shaw 1998: 210).

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