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Brigitte Jostes (Berlin)



Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller (2000): Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.


Angestoßen durch institutionell längst verankerte Forschungsaktivitäten wie die angelsächsischen Cultural Studies, die französische Mentalitätsgeschichte und den amerikanischen New Historicism, steht "Kulturwissenschaft" in Deutschland für Modernisierung und Reform der als altbacken verpönten Geisteswissenschaften. Töricht und gestrig, wer vergisst, bei seinem Forschungsprojekt die "kulturwissenschaftliche" Komponente zu betonen. Unter diesem Modernisierungs- und Modernitätsdruck sind es denn auch zumeist ganz moderne Autoren wie Foucault, Geertz, Greenblatt, Butler, Carlson usw., die das verordnete Bedürfnis nach Kultur befriedigen und als Referenzrahmen 'moderner' geisteswissenschaftlicher Forschungen herangezogen werden.

Ist die deutsche Kulturwissenschaft, die zunehmend an den Universitäten auch als Einzeldisziplin erscheint, vielleicht gar ein hektisch zusammengeflicktes Patchwork dessen, was international gerade Furore macht? Einführungen in die Kulturwissenschaft ließen zumindest schon den Eindruck entstehen, dass diese Disziplin für Deutschland im Rückgriff auf die aktuellen internationalen Forschungsparadigmen quasi ex nihilo generiert werden muss – eben brandneu und ohne Geschichte.

Dann aber haben Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller mit ihrer Orientierung eine Einführung in das Fach vorgelegt, die Geschichtlichkeit als wesentliches Charakteristikum von Kultur ins Zentrum rückt und dies – gleichsam performativ – am Beispiel der eigenen Wissenschaft vor Augen führt.

Anders als Friedrich Kittler in seinem ebenfalls 2000 erschienenen Rückblick auf die Geschichte des eigenen Fachs (Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink, 2000), den er mit Giambattista Vico beginnen lässt, konzentriert sich der historische Rückblick im zweiten Kapitel dieser Einführung auf Ansätze in Deutschland. Den Anfang macht hier die Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, deren Ziel es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war, geisteswissenschaftliche Forschungen in kulturanthropologischer Perspektive zusammenzuführen. In den Beiträgen ihrer von 1860 bis 1891 erschienenen Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft analysieren sie Phänomene "gemeinsamen Lebens", wobei nicht nur die Einsicht in die unhintergehbare Geschichtlichkeit der Sprache, sondern auch die Schlüsselrolle, die der Sprachwissenschaft in diesem Projekt zugesprochen wird, das Erbe Wilhelm von Humboldts zutage treten lässt.



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Kulturgeschichtsschreibung in der Tradition Johann Gottfried Herders und auch Johann Christian Adelungs, Kulturphilosophie über Georg Simmel, Ernst Cassirer, Arnold Gehlen bis hin zu Clifford Geertz, die Theorie symbolischer Formen von Ernst Cassirer und Aby Warburg, Psychoanalyse und Kritische Theorie: Wie die Völkerpsychologie werden auch diese wissenschaftlichen Traditionen, eingebunden in die jeweiligen historischen Gegebenheiten, ins Gedächtnis gerufen.

Das historische Apriori von Kultur wie Kulturwissenschaft führen die Autoren auch in ihrer Darstellung der Arbeitsfelder kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre im dritten Kapitel vor: Als nicht eins unter vielen, sondern zugleich ältestes und immer noch organisierendes Zentrum der Kulturwissenschaft setzen sie die historische Anthropologie. Wie die biologische und die philosophische Anthropologie fragt auch die historische Anthropologie nach dem Unwandelbaren des Menschen, jedoch begreift sie gerade dessen Wandelbarkeit als das zentrale Unwandelbare. Oder, wie der Gründungsvater Johann Gottfried Herder schreibt: "Die Biene sumset wie sie sauget; der Vogel singt wie er nistet – aber wie spricht der Mensch von Natur? Gar nicht, so wie er wenig oder nichts durch völligen Instinkt, als Tier, tut. [...] Stummgeboren; aber –".

Ganz im Stile Herders wird die Frage nach den kulturellen Codierungen der Sinne unter dem Stichwort "Geschichte der Sinne" als ein Untersuchungsfeld der historischen Anthropologie skizziert, die Polaritäten von Gesundheit und Krankheit, von Männlichem und Weiblichem dann als weitere Felder aufgeführt.

Die Untersuchung von Wissenschaftskulturen – als weiteres Arbeitsfeld – geht mit dieser historisch-anthropologischen Fundierung über Wissenschaftsgeschichte im Stile Thomas S. Kuhns hinaus: Nicht nur, dass über die wissenschaftsinterne Perspektive hinaus nach den Funktionen in der Gesamtkultur gefragt wird (womit implizit die Kritische Theorie aufgerufen wird), auch wird der Frage nachgegangen, wo zurückgebliebene und ausgeschiedene Traditionen ein Asyl finden.

Die Präsentationen weiterer Arbeitsfelder – Kulturgeschichte der Natur, Erinnerung und Gedächtnis, Kulturgeschichte der Technik, mediale Techniken – machen verständlich, warum es für solch einen weiten Wurf eines Kollektivs von drei Autoren bedurfte: Jeder der Abschnitte führt fundiert und reflektierend in das Arbeitsfeld ein, jeweils ohne die Ausführungen um die historische Dimension und die Divergenzen zwischen verschiedenen Forschungsansätzen zu verkürzen. So etwa im Abschnitt zu medialen Techniken, wo nicht nur mit dem biblischen Bilderverbot begonnen wird, auch geht der Blick weit genug über Berlin hinaus, um der Darstellung des technologischen Ansatzes der Medientheorie eine Darstellung des phänomenologischen Ansatzes von Vilém Flusser gegenüberzustellen.

Naturgemäß stellen umfassende Überblicke Auswahlen dar. Ein Arbeitsfeld kulturwissenschaftlicher Forschung, das noch im Kapitel zur Geschichte kulturwissenschaftlicher Ansätze ganz prominent erschien, taucht in dieser Auswahl nicht auf: die Sprache.



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Gegen die Vorstellung von einer 'Wissenschaft light' wurde Kulturwissenschaft im Vorwort als "anspruchsvolles Abenteuer" etikettiert: Nicht nur der Reiz dieses Abenteuers wird in dieser Orientierung greifbar, auch die Ansprüche, die mit ihm gestellt sind. Zur Frage nach den Perspektiven der Kulturwissenschaft – gleichgültig ob als Einzeldisziplin oder transdisziplinärer Ausrichtung – hatte bereits die Präsentation der Arbeitsfelder vor Augen geführt, dass ein Kulturwissenschaftler kein 'Universaldilettant' sondern ein 'flexibler Generalist' sein sollte, der neben gründlichen Kenntnissen in einer weiteren Disziplin noch eines gelernt hat: nämlich Verwunderung.

Diese war die zentrale Figur in den ersten europäischen Begegnungen mit der Neuen Welt – das hat Stephen Greenblatt als Vater des New Historicism in seiner Analyse von Reiseberichten der frühen Neuzeit vorgeführt. Sich wundern nicht angesichts des Fremden, Verwunderung vielmehr als habituelle Neigung gegenüber dem Vertrauten: Dies ist die Kernkompetenz des historisch-anthropologisch geschulten Kulturwissenschaftlers.

Wie und wo man das werden kann, darüber kann sich der Leser umfassend im letzten Kapitel informieren: Mit der Zusammenstellung kulturwissenschaftlicher Einrichtungen und Studiengänge, die diesen Band abrundet, wird nach all den historischen und thematischen Orientierungen auch noch eine sehr praktische gegeben.

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