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Peter Roessler (Wien)



Robert Musils dramaturgische Reflexionen zu Theater und Kritik



Robert Musil's dramaturgic considerations on theatre and critics
What characterizes Robert Musil's writing on theatre most is the tendency to move beyond the occasional towards more substantial thoughts on the subject. Daily reviews thus may grow into a larger essay, while certain positions from his essays will in return show up in his critical columns. The following investigation is especially concerned with the relation between criticism and the theatre as it is implicitly or explicitly thematized by Musil. It will be shown that this relation serves as an essential point of departure for Musil's critical diagnosis of the theatre and the dramatic writing of his times. Musil's observations are always made from a real or imaginary counter-habitual perspective. It is precisely his non-dramatic position as a prose writer and a philosophically inclined intellectual, which allows Musil to critically analyse theatrical phenomena.




I.

Robert Musils Schriften zum Theater sind für Fragen einer wissenschaftlichen Dramaturgie, die den Vergleich zwischen den Medien ebenso wie zwischen der Dramen- und Theatersituation verschiedener Länder in den Blick nimmt, in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Erstens hat sich Musil wiederholt zum Verhältnis von Theater und Kritik sowie zu Form und Inhalt des Genres Theaterkritik geäußert, zweitens war der Schriftsteller Musil selbst als Theaterkritiker tätig, wie die meisten Kritiker aus Gründen des Broterwerbs. Drittens hatte Musil als Beobachter des Theaters stets mehr als die Dramatik eines Landes vor Augen. Schließlich ist – viertens – Musils Schreiben über Theater davon geprägt, dass er beständig den singulären Anlass überschreitet und zu substantielleren Überlegungen übergeht. Die Tageskritik kann sich zum Essay weiten oder Gedanken der Essays finden sich stenographisch in der Tageskritik wieder. Die Arbeit an den Essays und die Arbeit als Kritiker laufen bei Musil weitgehend parallel.1

Musils Theaterkritiken und -essays sind bereits wiederholt Gegenstand eingehender Betrachtung gewesen.2 Im theaterwissenschaftlichen Kontext, diesen aber überschreitend und damit auch die theaterhistorischen Fragen eigentlich in ihren Möglichkeiten erst fruchtbar machend, seien in erster Linie die Arbeiten von Paul Stefanek und Monika Meister genannt. Zwei methodische Momente lassen sich dabei zunächst hervorheben. Einerseits haben die beiden Musils Schreiben über Theater einer philosophischen Betrachtung unterzogen und damit theoretisch ernst genommen. Die genaue Analyse der oft flüchtigen und scheinbar nebensächlichen Schriften hat dabei zu weitreichenden Kenntnissen über Kritik und Essay sowie über die zeitgenössische Theatersituation im Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung geführt. Dadurch geriet die Beschäftigung mit Kritik und Essay nicht zum Referat von isoliert betrachteten Positionen, sondern wurde als Teil einer Totalität wahrgenommen.



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Andererseits wurde aber vermieden, die Betrachtung dahingehend auszuweiten, dass man den Tagesanlass ignorierte und aus den verstreuten Schriften Musils gewaltsam eine Art philosophisches Lehrgebäude schuf, wodurch eine so nicht vorhandene Homogenität konstruiert worden wäre. Hier die Bewegung und die Widersprüche nicht aus dem Blick zu verlieren, gelang durch Theoretisierung und Historisierung des Materials.

Ziel der folgenden Ausführungen kann es nicht sein, die existierenden Untersuchungen zu überbieten, sondern an diese anknüpfend einige Stellen aus Musils Schriften in den Blick zu nehmen, in denen über das Verhältnis von Theater und Kritik gesprochen oder in einer Weise über Theater gehandelt wird, die mit deren publizistischer Reflexion in näherem Zusammenhang steht. Dabei werden sowohl Äußerungen Musils, die sich direkt auf Theaterkritik und -publizistik beziehen als auch solche, bei denen ein Bezug zu dieser Thematik für uns herstellbar ist, herangezogen. Letzteres ist durch die Einschätzung Monika Meisters angeregt, die für Musils Kulturessays das "Konzept einer rezeptionspsychologischen Ästhetik konstatiert." (Meister 1979: 5). Als Teil von Rezeption, wenn auch keineswegs diese allein repräsentierend, kann eben die Theaterpublizistik betrachtet werden.


II.

Die Problemstellung führt zu einigen Themen und Beobachtungen aus den drei großen Theateressays "Symptomen-Theater I und II" sowie "Der 'Untergang' des Theaters". In ihnen sind Musils Erfahrungen als Kritiker gleichermaßen kondensiert wie aufgehoben. Die Grenze zwischen Essay und Kritik ist besonders beim ersten Aufsatz – "Symptomen-Theater I" (Juni 1922) fließend. Wunsch des Herausgebers des "Neuen Merkur" Efraim Frisch war zunächst ja die regelmäßige Publikation einer "wertvollen Theaterübersicht" "für Wien" (zit. n. Musil 1987b: 1817) und Musil montierte auch seine Besprechung der Burgtheater-Premiere des "Kain" von Anton Wildgans, die er drei Wochen zuvor in der "Prager Presse" veröffentlicht hatte, in seinen Essay ein. Besser gesagt, er fügt diese und andere Besprechungen seinem zunächst ins Allgemeine gehenden Essay an. Tageskritik war hier, wie Adolf Frisé festgehalten hat, nicht die Absicht Musils. Die Argumentation geht zwar gleich ins Allgemeine, der Einstieg erfolgt aber über die Kritik an einem Kritiker.

Musil nimmt eine Position ein, die sich als Anti-Habitué-Haltung bezeichnen lässt und grenzt sich von einem Beitrag eines "angesehene(n) Wiener Kritiker(s)" der "Neuen Freien Presse" ab. Dabei unterlief ihm, wie Murray G. Hall entdeckte, ein Fehler, der allerdings sehr aussagekräftig ist. Musil bezeichnete den Kritiker als einen alten Herrn, der schon zu seiner, Musils, Geburt "gescheite Bemerkungen unterschiedslos zu guten und schlechten Stücken" geschrieben habe. Musil verwechselt, da der Beitrag in der "Neuen Freien Presse" nur mit Initialen signiert ist, den Kritiker Paul Wertheimer mit dem viel älteren Hugo Wittmann. Diese Verwechslung, so lässt sich interpretieren, zeigt doch, dass es einen typischen Duktus des liberalen Wiener Theater-Feuilletons gab, der die Jahre überdauerte und von wechselnden Publizisten tradiert wurde.



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Die Formulierungen ließen sich unterschiedslos auf die jeweiligen Aufführungen anwenden und brauchten nicht aus der Sache selbst entwickelt zu werden. Beim Wiener Kritiker Wertheimer ist es die Phrase "Temperament und Theater", die Musil an dessen Besprechung der "Morituri"-Einakter von Sudermann kritisch hervorhebt, und er fügt hinzu: "Ich glaube nicht, dass ein Berliner Kritiker sich das zu schreiben gestatten würde." Mit "Temperament und Theater", so Musil noch immer der Verwechslung der Kritikernamen erliegend, habe sich der Kritiker "von allem, was zwischen 1880 und heute geschah, nur gerade soviel vom Platz bewegen lassen, als unvermeidlich war." (Musil 1987a: 1095). Eine alte Phrase also, die auch die Theatermoderne überdauerte, sich mit ihr versöhnte und wechselweise bei ihrer Vereinnahmung wie Abwehr in der Theaterkritik Verwendung fand.

Die Anti-Habitué-Haltung Musils erweist sich als gegen ein Theater gerichtet, das bloß auf sich selbst bezogen bleibt, sie trifft auch die dazugehörende Theaterkritik, die als Maß nur die theatralen Effekte kennt und Theater bloß auf Theater beziehen kann. Dass solche Beschränkung auf den inneren Kreislauf natürlich auch ihre externen Ursachen, ihre gesellschaftliche Basis hat, ist evident. Musil beschreibt aber mehr die Symptome einer Krankheit, diese allerdings markant. Hervorzuheben ist, dass er die Praxis des leeren "Bühnentemperaments" "mit der Selbstentzündung von Versammlungsrednern" vergleicht, "einem Zustand, dessen Charakteristikum weniger die stets bereite Möglichkeit des 'Abschminkens' ist als seine Banalität" (Musil 1987a: 1096). Die Akklamation dessen, was als "Temperament" gefeiert wird, ist hier in seltener Eindeutigkeit zurückgewiesen. Das hängt eng mit dem als Anti-Habitué-Haltung charakterisierten Gestus' Musils zusammen. Denn dem Habitué, wenn man ihn als einen Stammgast begreift, der sein Urteil aus der Gewohnheit nimmt, und das Betrachtete gar nicht mehr befragt, wird das Temperament wohl als eine Art Naturerscheinung gelten, deren Stärke über die Wirkung des Abends entscheidet. Dem Antipoden des Habitués muss solch unbefragte Messung, die stets auf Kosten der inhaltlichen Substanz – bei Musil des "Geistigen" – geht, ein Missstand sein. Es wäre gewiss eine überzogene Interpretation, wollte man Musils Vergleich mit dem "Versammlungsrednertum" als eine Prophetie der Koinzidenz von faschistischer Versammlung und den überrumpelnden Effekten von Inszenierungen samt ihrer Apologie durch die Theaterpublizistik erkennen. Eher kann man den Vergleich aus der Distanz Musils zur Politik sowie aus seiner in den Argumenten variierenden Entgegensetzung von Individuum und Kollektiv, wobei die Dichtung stets der Seite des Individuums zugeschlagen wurde, erklären. Musils antipolitische und antikollektive Haltung schloss auch seine Ablehnung der Indienstnahme von Literatur für die Kämpfe und Ziele der Sozialdemokratie wie sie von Josef-Luitpold Stern betrieben wurde, ein.3 Die Distanz von Geist und Kultur zur Politik wird sogar noch ein Thema von Musils Vortrag vor dem Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935 sein, wofür er dort heftig kritisiert wurde. (Musil 1987a: 1259–1269).4



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Dennoch bleibt festzuhalten, dass in späteren Jahren die Analogie zwischen einem auf Überwältigung angelegten Theater und den auf Suggestion aufgebauten Massenveranstaltungen wiederholt von antifaschistischen Schriftstellern und Theaterleuten mit zumindest ähnlichen Worten wie denen Musils konstatiert wurde, allerdings ohne dessen generelle Distanz zur Politik. Auf die "Führerschaft" des Regisseurs bezogen, wird Karl Kraus sechzehn Jahre später in seiner "Dritten Walpurgisnacht" den Vergleich zwischen Bühneneffekt und politischer Demagogie ziehen. Nach 1945 sind es vor allem Berthold Viertel und Fritz Kortner, beide aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt, die den Zusammenhang zwischen Nazi-Propaganda und Bühnenstil konstatieren müssen.

Musil betreibt seine Kritik an der Formel von "Temperament und Theater" freilich von einer Position aus, die ihre eigene Problematik hat: Seine Kritik erwächst aus der Reklamierung des "Geistigen". Die Analogie zwischen "Bühnentemperament" und "Versammlungsrednertum" sowie die Ablehnung von beidem erfolgt bei Musil aus einer individualistischen Haltung, die sich eben auf die Erzeugung einer "geistigen Bedeutung" beruft. Auf der einen Seite das zeitgenössische Theater – leeres Temperament, Suggestion, Stoffe aus Zeitung und Kolportageroman – , auf der anderen Seite die Position des Geistigen, der diesem Temperaments-Metier fremd gegenübersteht. Die geistige Bedeutung wäre für Musil am ehesten über die Dramatik ins Theater zu bringen. Musil sieht ein Versagen der Dramatiker und tritt deshalb auch in erster Linie als Kritiker des zeitgenössischen Dramas auf (vgl. Meister 1979).

Das Talent, ein Erlebnis so zu formen, dass ein großer Teil der Erregung, die es auf Dichter und Hörer überträgt, nicht aus ihm selbst, sondern aus den rings herumliegenden öffentlichen, dem Schutze des Publikums empfohlenen Gefühlsanlagen zuströmt, ist die spezifische Gabe des auf unseren Theatern erfolgreichen Dramatikers. Er richtet, um bloß ein Beispiel zu geben, über Leben und Tod seiner Figuren nicht mit der tiefen Gewissenhaftigkeit, mit der er wahrscheinlich seinen eigenen Tod bedenken würde, sondern mit den flüchtigen Gefühlen, die beim Lesen von Zeitungen über Todesfälle geäußert werden. Er findet sich sozusagen gar nicht in einer individuell psychologischen, sondern in einer der massenpsychologischen ähnlichen Erregung. Was so der Zug eines Aktes, der Bogen einer Szene, der Knall eines Schlusses wird, ist in diesem Strohfeuer geschmiedet, das auf seiner anderen Seite eine muffige Situation der Massensuggestion schafft, die aus sonst mehr oder minder vernünftigen Menschen ein 'Publikum' macht, das die größten Albernheiten als komisch oder erhaben hinnimmt und die Beschränktheit, welche dem Autor erlaubt, sein Benehmen für ernst zu nehmen, übersieht oder für dramatisch fachkundige Beschränkung hält. Dieses Theater ist nichts als der durch eine höhere Schule der Baumeisterei gegangene Bruder des Kolportageromans. Wichtiger als der Fall des Routiniers ist dabei der des echten Dichters, der sich vom Metier nicht leiten, sondern nur ableiten lässt. Er arbeitet von innen nach außen, aber schon die ganze Art, wie sich sein Inneres gruppiert, ist von dem Rahmen bestimmt, in den es hinein soll; man mache den Versuch, aus unseren berühmtesten Dramatikern der Gegenwart die geistige Bedeutung zu extrahieren, und man wird sehn, wie erschreckend wenig dieses Markes der Dichtung sie enthalten. (Musil 1987a: 1096).



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Die Substanzlosigkeit eines solchen Theaters ist prägnant beschrieben, wie aber verhält es sich mit Musils Vorstellung von der "geistige(n) Bedeutung"? Vom Expressionismus, der den Geist, mehr noch die Ideen auf seine Fahnen geschrieben hatte, hält er in diesem Punkt nichts. "Der Expressionismus", so Musil, sei "nur in der Form bereichernd" gewesen, "während er im geistigen Wesen banal blieb und nicht über die Evokation ohnedies schon bekannter Ideen hinauskam." (Musil 1987a: 1097). Man kann Musils Überlegungen als eine Kritik an der Anti-Intellektualität des Theaters lesen: Geistfeindlichkeit legitimiert durch den Rekurs auf das immer schon Übliche als Ideologie einer verstockten Handwerklichkeit. "Überschätzung des Gewohnten" führe dazu, dass "das theatralische Mittel [...] an erster Stelle und der menschliche Sinn an zweiter" Stelle stünde (Musil 1997: 1099). Es läge darüber hinaus nahe, Musils Betrachtungen von 1922 dahingehend zu interpretieren, dass hier eine frühe Kritik am Irrationalismus auf dem Theater geleistet sei. Musils Kritik am Anti-Intellektualismus des Theaters lässt sich allerdings nicht ohne Umschweife als Irrationalismus-Kritik bezeichnen. Dies vor allem deshalb nicht, weil Musils Begriff des Geistes selbst eine zumindest irrationale Konnotation hat. Er bleibt im "Symptomen-Theater I" im Ungefähren und nimmt Anleihen an der Lebensphilosophie. Das zeigt sich an Musils Berufung auf Wilhelm Dilthey:

Vor die Wahl zwischen Impressionismus und Expressionismus gestellt, würde ich mich für den zwischen Deutschen von heute so wunderlich wirkenden toten Dilthey entscheiden, der die Sendung des großen Dichters in einer Linie mit der der Propheten, Denker, Weisen, Religionsbildner und anderen großen Gestalter des Menschengeistes sah. (Musil 1987a: 1097).

Die Passage ist aufschlussreich, denn in der Tat lassen sich wohl – sieht man vom Naturalismus ab – die bedeutendsten Neuerungen der Dramatik am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den beiden genannten Richtungen in Beziehung setzen. Der Rückgriff auf den Diltheyschen "Geist" ist dann so etwas wie der philosophische Ausweg Musils. Wiederum wäre das ein Indiz für die prononcierte Anti-Habitué-Haltung, denn mit den theaterfernen Schriften Diltheys wird nicht nur der theatrale Fundus kritisiert, es werden auch die epochalen Neuerungen der Moderne auf ihre geistige Substanz befragt. Aus dem Aufsatz ist der ironische Duktus nicht wegzuinterpretieren, die Ironie, könnte man sagen, hat mit dem Zustand des zeitgenössischen Theaters ihren Stoff gefunden oder der Stoff fordert zur Ironie heraus. Musils spezifische Ironie verhindert, dass den Ausführungen linear Bekenntnischarakter zuzuschreiben wäre, so als würde hier die Erneuerung des Theaters aus Diltheys Geist gefordert. Die Einführung Diltheys wird vom Essayisten Musil auch bloß en passant unternommen. Dennoch scheint es geboten, über die Implikation der Nennung Diltheys nachzudenken.

Man hat bekanntlich Dilthey als den Begründer der "geisteswissenschaftlichen Methode" bezeichnet und seine Kritik am zeitgenössischen wissenschaftlichen Leben mit seinen positivistischen Erscheinungen und seiner Verstrickung in leeren Akademismus war in vielem treffend. Die mit ihm verbundene "geistesgeschichtliche Wende", die das Kunstwerk fortan als Ausdruck eines einheitlichen Geistes fasste, hatte jedoch Seiten, die zu eigentümlichen Mystifikationen und Irrationalismen führten.



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Eine grundlegende Tendenz der Philosophie Diltheys geht dahin, dass in ihr das Leben mit dem Erlebnis in eins gesetzt und die Empfindung des Subjekts für die Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit genommen wird. Auf dem Gebiet der Literatur führte das zur Gleichsetzung von Erlebnis und Dichtung (Dilthey 1910), die beide weitgehend der begrifflichen Bestimmung entzogen wurden. Damit verknüpft war eine Erkenntnistheorie, die in ihrer Hypostasierung des betrachtenden Subjekts eine philosophische Untermauerung der elitären Vorstellung von geistigem Prophetentum bot. Gerade diese genannten Züge wurden in der Rezeption der Diltheyschen Philosophie besonders wirksam.

Wenn Musil Dilthey ins Spiel bringt, dann ist das ein – wenn auch ironisch formulierter – Rückgriff auf eine Philosophie, die ihre größte Wirkung in der Vorkriegszeit entfalten konnte, und die angesichts der späteren Wege der "Geistesgeschichte" in ihren Axiomen sich durchaus noch ambivalent, wenn nicht gar widerstrebend zeigt. Ambivalent ist jedenfalls Musils Verteidigung des "Geistes" gegenüber dem Theater. Zwar bedeutet der Rekurs auf den "Geist" die Einforderung des Substantiellen gegenüber dem Effekt oder die Betonung der Wirklichkeit gegenüber einem hermetisch abgedichteten Theater. Dabei aber wird das Leben zum Geistigen mystifiziert, damit auch entmaterialisiert und irrationalisiert. Diese Ambivalenz muss unterstrichen werden, da Musil bereits, wie etwa Ernst Fischer hervorhob, als Kritiker des späteren Irrationalismus eines Oswald Spenglers aufgetreten ist.5


III.

Man kann das Postulat des Geistigen deutlicher vielleicht noch in seinen verschiedenen Funktionen in Musils Essay "Symptomen-Theater II" (Dezember 1922/Februar 1923) verfolgen. Der Essay hebt wiederum mit der Kritik an der Kritik, will heißen am Gestus des Wiener Feuilletonismus an.

Wien hört sich gern eine Theaterstadt nennen: seine Feuilletonisten wiederholen es ihm so oft, wie sich nur ein Feuilletonist wiederholen kann; in Wahrheit ist es eine Schauspielerstadt. Wenn man zuhört, was vom Glanz vergangener Zeiten erzählt wird, sind es Namen von Schauspielern, niemals Theaterdirektoren [...]. (Musil 1987a: 1103)

Musil geht in der Folge auf die Bewertung der Schauspieler durch die Theaterkritik ein und bemerkt, wie die Gewohnheit zum Maßstab des Gelungenen genommen wird und neue Wege abgewertet oder übersehen werden. Die für Wien neue Sicht des Jago aus Shakespeares "Othello" als "Durchschnittskerl", so eines der Beispiele, sei getadelt worden, während eine "mit den ältesten Salben geschmiert[e]" Darstellung der Rolle bei den selben Kritikern Lob gefunden habe. Dieser in die Anbetung der Konvention führende hermetische Betrachtung des Theaters wird der Topos vom "geistigen Leben" entgegengehalten:



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Um es kurz zu sagen: es handelt sich um den Unterschied zweier Prinzipien. Nach deren einem ist das Theater als ein Stück geistigen Lebens zu behandeln, vornehmlich auf dem Weg über die Literatur zusammenhängend mit allen Kräften des Lebens bis zur Quantentheorie, zur Religion oder zur Politik, während das andere im Theater etwas Besonderes sieht, – das Theater. Die Theaterleistung wird bei diesem zweiten, in Wien zur Höhe gebildeten Prinzip immer wieder nur auf Theaterleistungen bezogen: die des X. erinnert immer nur an die des Y. oder ist ihr ebenbürtig oder untergeordnet. (Musil 1987a: 1104)

Hier ist die Vorstellung vom "geistigen Leben" zwar lebensphilosophisch geprägt, dennoch funktioniert sie als wirksames Kriterium der Kritik an einer bloß immanenten Beurteilung von Theater. So ergibt an dieser Stelle das Zusammenfließen der Begriffe von "Geist" und "Leben" Sinn. Die besonders für die Wiener Rezeption von Theater konstatierte Manier wird als realitätsfern sowie antiintellektuell kritisiert und die aus dem Theater beziehungsweise bei dessen Betrachtung verbannte Wirklichkeit eingeklagt. Musils Diagnose trifft das Wiener Theaterleben sowie das Feuilleton, attackiert wird eine durch Berufung auf Tradition legitimierte Theater-Haltung der Abgeschlossenheit. Diese lässt sich gleichermaßen als ideologisch wie als vorideologisch bezeichnen. Ideologisch ist sie im Sinne eines falschen Bewusstseins, das von der Illusion einer der Wirklichkeit entrückten Welt, die nur ihr eigenes Maß kennt, ausgeht. Vorideologisch ist sie, da diese Vorstellung quer durch die Ideologien geht, mit der das übrige Leben betrachtet wird, sich also nicht zwangsläufig aus einer politischen Haltung ableiten lässt. Musil ordnet demnach die von ihm kritisierte Betrachtung von Theater auch keiner politischen Richtung zu, sondern identifiziert sie einfach als weithin dominierende Haltung. Das entspricht seiner radikalen Kritik an der Situation des Wiener Theaters sowie der Theaterpublizistik und hängt mit seiner Anti-Habitué-Haltung zusammen. Aus dieser Theater-Misere bleibt nur mehr ein 'geistiger' Ausweg. Allerdings entzieht sich auch der schwankende Begriff des "geistigen Lebens" als dem zeitgenössischen Theater entgegengesetzte Universalvokabel jeglicher Festlegung, er schwebt gleichsam ungetrübt über der theatralen und politischen Realität.

Die lebensphilosophische Berufung auf das "Geistige" kann Fragen nach sozialen Inhalten absorbieren, das ist auch bei Musils Dualismus von Geist und Theater häufig der Fall. Keinesfalls geschieht dies aber zwangsläufig, und so kann Musil wiederholt zu sehr wesentlichen Einschätzungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhänge kommen. Auch die Kritik an Erscheinungsformen des Theaters vom Standpunkt der Dichtung aus erschöpft sich nicht in der Kritik seiner mangelnden Geistigkeit. Die Kritik an der gängigen Schauspielkunst etwa greift deren Manier auf, sich mit der Darstellung allgemeiner Gefühle zu begnügen und sich vom konkreten Leben fernzuhalten.



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Er [der Schauspieler] will gut sein, böse sein, traurig, wild, heroisch, neidig, grausam, edel – alles in einem Ausmaß, das ihm sein privates Leben nicht bietet, er will wirken können, oder, wie man kurz sagt, in seinem Element sein. Nun sind wir aber im Leben nicht gut sondern gutmütig. Nicht böse, sondern geschäftstüchtig. Wir sind nicht traurig, sondern schlecht aufgelegt. Nicht wild, sondern nervös oder ohne Gleichgewicht. Das Element des Schauspielers besteht also aus Elementen, die es nicht gibt. Diese elementaren Ausbrüche ergreifen in der Tat nicht das Gemüt, sondern im Zuschauer bereitliegende Vorstellungen vom Gemüt und erst mit dieser ergriffenen Vorstellung die Zuschauer selbst, und ebensowenig kommen sie direkt aus der Person des Schauspielers. [...] Man spielt Kettenauffassungen und Effekttraditionen, nicht Leidenschaften, sondern Leidenschaften spielende Schauspieler, nicht Menschen, sondern Spiegelmenschen und im Ganzen irgendeinen träg kreisenden Zustand der Tradition. (Musil 1987a: 1106).6

Für einen Dichter, der nach Musil "neue Inhalte mit dem Instrument der Bühne verwirklichen" (Musil 1987a: 1107) möchte, und als solchen sah sich der Autor selbst, kann der Schauspieler deshalb zum Problem oder gar zum "Widersacher" werden. So wird der Dualismus von "geistigem Theater" und dem ungeistigen Theater der Konvention durch den Dualismus von Dichter und Schauspieler personifiziert. Wie Paul Stefanek mit Hegelschen Kategorien und an Helmut G. Meier anknüpfend festgehalten hat, lässt sich der Begriff der Dichtung als Ausdruck des Geistes bei Musil aber nicht nur auf das "gedruckte Wort", sondern auch auf die "szenische Versinnlichung" anwenden, "sofern sie freilich die Entfremdungs- und Erstarrungsform des objektiven Geistes, sprich Intuition, refelektorisch aufheben kann" (Stefanek 1992b: 371). Die meisten Dramen sind für ihn folgerichtig nicht Dichtung, denn Musil kritisiert ja die zeitgenössischen Dramatiker, dass sie sich dem konventionalisierten Theater und dessen Schauspielkunst unterwerfen. Musils Kritik an der schauspielerischen Routine mündet jedoch nicht in pauschale Abwertung, sondern in die Skizze einer Phänomenologie oder Theorie des Schauspielers. Diese sei hier kurz beleuchtet, da man dabei das eigentümliche Einfließen der Lebensphilosophie studieren kann, das sich bei Musils Erörterungen in einem spezifischen Schwanken zwischen Irrationalität und Rationalität ausprägt:

Eingespannt in fünftausendjährige, niemals zuendegeführte Überlegungen der Fern- und Nahwirkung unzähliger, zu jedem Ereignis möglicher Standpunkte ausgesetzt, wie es gerade die kräftigsten, am wenigsten einfältigen Geister unter uns sind, erlöst zuweilen nichts als den Geist schweigen zu heißen und sich darauf zu besinnen, dass man als Körper, als Ding unverantwortlich, einmalig und absolut ist wie eine wandernde Wolke oder der Kreis, den ein Habicht in der Luft gezogen hat. Indem wir die Achseln zucken statt zu denken, fühlen wir uns in eine innerste Umwallung zurückkehren. Die Planeten kreisen, die Elemente vereinigen sich nach Gesetzen, die wieder mit anderen Gesetzen zusammenhängen; aber in jedem Gesetz, das wir kennen, kommt ebenso wie in uns etwas vor, das eben so ist, wie es ist, irgend eine Konstante, eine Tatsache, ein irrationaler, einmaliger, unbekümmert selbstseiender Teil, und das Irrationale der Mimik berührt sich mit diesem Pantomimischen der Welt; Abenteuer und Ignorabimus vereinigen sich in der Sekunde einer gelungenen Gebärde. (Musil 1987a: 1110).



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Die Schauspielkunst wird für Musil also nicht nur negativ als Widersacher des Geistigen bewertet, sie ist ihm zugleich Ausdruck des Lebendigen, und da – im Sinne der Lebensphilosophie – dem Geistigen durchaus überlegen. Es hat etwas Resignatives, wenn Musil von einem "tödliche(n) Gegensatz" zwischen Dichter und Schauspieler spricht, und aus der eben zitierten Schauspieler-Theorie gewissermaßen die faktisch wirksame Überlegenheit des Schauspielers über den Dichter ableitet.

Wir haben weit mehr bedeutende Schauspieler als Dramatiker, und wie die Dinge liegen, beherrscht der Schauspieler nicht mit Unrecht die Bühne; die Kehrseite davon ist aber, dass er nicht nur den Dichter, sondern auch die Dichtung überschattet, die Stücke verdrängt, welche dem Theater neue Antriebe geben könnten, und jene geradezu konsumiert, welche wie Alkoholmissbrauch erst einen großen Gebärdenrausch hevorrufen und mit der Zeit die geistige Zerstörung. (Musil 1987a: 1111).

Die Resignation mündet in einen Pragmatismus, der so oft und in verschiedenen Zusammenhängen das Schreiben über Theater prägt, wenn die jeweilige Theatersituation irgendwie akzeptiert und von dieser prinzipiellen Akzeptanz aus geschrieben wird. Solcher Pragmatismus kann freilich in verschiedene Richtungen laufen. Bei Musil liest sich das so:

Man ziehe also, wo man will, noch eine zweite Linie, die Linie, an der die Dinge liegen, 'wie sie in Wirklichkeit sind', das heißt, an der sich Geist und Ungeist verträglich gelagert haben, und nehme an, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte sei; man sollte längst dafür die irrationale Gebärde des Mir kann es recht sein erlernt haben. (Musil 1987a: 1111).

Da scheint sich der strenge Dualismus Geist versus Schauspielerei aufgelöst zu haben. Aber was wie das Bekenntnis eines Theaterkritikers klingt, der seine philosophische Bildung und das, was ihm Geist war, zu Gunsten des Faktischen der Theatersituation aufgibt, zeigt sich doch geknüpft an eine pessimistische Perspektive. Musil bezieht diese aus Friedrich Nietzsches Diktum vom goldenen Zeitalter der Schauspieler. Wie immer verbindet sich bei Nietzsches Kritik, die als sogenannte Kulturkritik konzipiert und rezipiert wurde, die verbildlichende Diagnose von Phänomenen der Gegenwart mit antidemokratischen Vorstellungen. Nietzsche hatte bekanntlich dekretiert, dass in "Niedergangs-Kulturen" – als die ihm Zeitalter galten, in denen "den Massen die Entscheidung in die Hände fällt" – die "Echtheit überflüssig, nachteilig, zurücksetzend wird" und nur der Schauspieler die "große Begeisterung" erwecke (Nietzsche 1979: 371). In der Anwendung durch Musil ist wieder das Motiv der Koinzidenz von "Versammlungsrednertum" und "Bühnentemperament". Nun aber derart verbreitert, dass öffentliche Lüge und Schauspielerei nahezu in eins fallen oder fallen können. Den lebensphilosophisch gedeuteten Schauspieler, der das "pantomimische der Welt" verkörpert, will Musil allerdings davor geschützt wissen.

Er [Nietzsche] meinte den Expressionär jener Gefühle, die nicht eigene Gefühle sind, sondern die der Väter, Urväter oder aller Welt. Sie sind es ja auch sonst, mit denen die Günstlinge der öffentlichen Meinung deren Liebe erwerben, mit ihnen wird Moral gemacht und wird – worüber zu sprechen ich noch Gelegenheit suchen werde – gerade auch dort gedichtet und gekritikt, wo alles wie neu aussieht. Möge unser Schauspieler vor diesem Schauspieler besser behütet bleiben, als er es im Grunde seines eigenen Wesens ist. (Musil 1987a: 1111).



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IV.

Die Thematisierung des Gegensatzes zwischen Echtheit oder Eigenem und der als jeweils neu verkauften Schablone spielt auch in Musils Aufsatz von 1924 "Der 'Untergang' des Theaters" eine große Rolle. In diesem, als dem bedeutendsten Theater-Essay des Autors, geht es erneut wiederholt um das Verhältnis von Theater und Theaterkritik. Musils Aussagen zur Kritik lassen sich auch hier nur dann verstehen, wenn man sie nicht aus dem Ganzen des Textes und dessen Voraussetzungen löst. Paul Stefanek hat auf die in diesem Aufsatz praktizierte "soziologisierende Auffassung" hingewiesen und sie unter anderem aus der Reaktion auf die Wiener Theatersituation der 20er Jahre erklärt, die wenig Raum für Utopien des Theaters ließ, so dass Musil "die allerorten mythisierte Welt der Bühne als einen den Marktgesetzen unterworfenen Vergnügungsbetrieb begriff." (Stefanek 1992b: 370). Der "soziologisierende" Zug unterscheidet nach Stefanek den "Untergang"-Aufsatz von den beiden "Symptomen"-Aufsätzen.

Das "Soziologisieren", das deduziert und daher nur partiell zu einer Soziologie wird, ist wohl am deutlichsten kenntlich an Musils – bei allem Essayismus und bei aller Ironie – doch sehr linear festgeschriebener Behauptung von den zwei zeitgenössischen Krisen: der "Krisis des Vergnügens" und der "Bildungskrisis". Die Krisis des Vergnügens wird durch die Bindung des Vergnügens an den Markt, nach der endgültigen Lösung aus den feudalen Bestimmungen, erklärt.7 Bemerkenswert hieran ist weniger die Herleitung aus dem Markt (die zum Teil trifft, aber namentlich in Wien nicht das Ganze des Theaters treffen kann), als die Beschreibung eines Phänomens des modernen Theaters, nämlich das der "Psychotechnik der Reklame" und ihrer "zwei Eigenschaften", dem Sensationellen und dem Banalen. "[D]as Theaterpublikum, so Musil, "lässt sich [...] von kleinen Variationen des längst Dagewesenen schläfrig befriedigen, erweist sich aber auch dankbar für starke Reize, ohne sie ernst zu nehmen." "Einerseits" werde das Theater "immer planer, platter und glatter". "Auf der anderen Seite dagegen forder(t)e die Entwicklung, dass das Theater immer knalliger und schreiender wurde." (Musil 1987a: 1119f.) Das Phänomen des Knalligen wird dabei durchaus auch auf die Theatermoderne ausgedehnt, die zwar der alten "Kultur des Starspiels" vorgezogen, aber nicht als wirkliche Alternative betrachtet wird. Erneut zeigt sich hier Musils Anti-Habitué-Haltung, seine reale oder angenommene Theaterfremdheit, die ihre Heimat im Wunsch nach einem geistigen Theater hat.

Für die Untersuchung hier ist die Verknüpfung der "Krisis des Vergnügens" mit dem Habitus der Theaterkritik relevant. Und diese Verbindung führt zu einem rigorosen Urteil. Wohl lässt Musil die Existenz "vorzügliche[r] Kritiker mit persönlicher Anschauung all dieser Probleme" gelten, die "Durchschnittskritik" allerdings sieht er einer "Dramaturgie des Vergnügens, eine[r] Geschäftsdramaturgie, eine[r] Dramaturgie der Ermüdung" anheimgefallen, die nur mehr die Wirkung eines Theaterabends registriert:



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Ungemein selten trifft man bei uns die Erörterung der geistigen Bedeutung eines Theaterstücks an, eine Diskussion seiner Gedanken, Leidenschaften oder gar Atmosphäre; dagegen sehr oft betont die Auffassung, dass die dramatische Dichtung für das Theater geschrieben werde und in das Theater münde oder keinen tieferen Ursprung und kein höheres Ziel habe als zu wirken. Man findet solchen Wirkwarenkritiker immer in Erinnerungen an Figuren und Stücke, die auf ihn gewirkt haben, und da ihm für geistige Ordnung Wille und Fähigkeit fehlen, vergleicht er sie nach den sinnfälligsten Erscheinungen, äußerlichsten Ähnlichkeiten und dem gröbsten typologischen Signalment der Figuren und Szenen. Das scheinbar positive 'Wirken' verschiebt alles in eine Sekundärsphäre; was im Leben verdächtig ist, wird dadurch zur obersten Anforderung im Theater gemacht: auf Wirkung bedacht sein, statt Ur-Sache zu sein. (Musil 1987a: 1120f.).

Die Absage an ein Theater der bloßen Wirkung ist einer der Leitgedanken Musils, der hier neu entfaltet und präzisiert wird. Das Eigentümliche dieser Analyse ist nun, dass von einem geschlossenen System ausgegangen wird. Angeprangert wird nicht eine Kritik, die das Theater missversteht, sondern umgekehrt, könnte man überspitzt sagen, ein Zuviel an Verständnis mit dem Machen, ein Theater-Spezialistentum, das sich auch im Gewerbe des Kritikers niederschlägt und zum Einverständnis mit dem Vorgefundenen wird. Musil spricht von der Vorstellung einer "unter besonderen Ausnahmegesetzen lebenden[n] Welt, vor deren Schwelle alle Erfahrungen der gewöhnlichen Welt zurückbleiben." (Musil 1987a: 1121) Eine Art Immanenz-Ideologie des Theaters wird vom Autor demnach gleichermaßen im Betrieb wie in dessen kritischer Besprechung entdeckt. Diese Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Theater und Theaterpublizistik wird wohl grundsätzlich von einer pessimistischen Sicht getragen. Dass hier so vehement Marktgesetze und Reklame ins Spiel gebracht werden, also das ganze im Rahmen einer allerdings schematischen Kapitalismuskritik artikuliert wird, unterscheidet Musil von Arthur Schnitzler. Musil, der in manchem Schnitzlers Verachtung der Kritik nahekommt (Schnitzler 1967), wie dieser vom verfehlten Beruf ausgeht und es auch nicht versäumt, in seinen eigenen Theaterkritiken das Metier des Kritikers lächerlich zu machen,8 geht doch nicht wie Schnitzler von einer gewissermaßen anthropologisierenden Absage an den Kritiker aus. Er muss daher auch nicht dem Genre in toto eine Absage erteilen, kann Ausnahmen gelten lassen und seine negativen Urteile explizit auf die "Durchschnittskritik" beziehen (Musil 1987a: 1120). Was er bekämpft, ist die falsche Ideologie des Gesamten, eine hauptsächlich auf Wirkung ausgerichtete Ungeistigkeit bei Theater und Kritik.

Das hängt für Musil nun mit der allgemeinen "Bildungskrisis" und dem Verlust der von der Aufklärung her tradierten möglichen Verankerung des Theaters im Bildungsbegriff zusammen: Die Krise des Theaters wird also als Teil der Bildungskrisis verstanden. Als deutlichstes Phänomen einer Entwicklung, deren ausführliche Entfaltung hier nicht vorgeführt zu werden braucht, wird das Eindringen des Journalistischen in die Dramatik und ins Theater konstatiert. Mit dieser Feststellung gibt es nun allerdings eine Berührung mit Schnitzlers Urteil von einer Dramatik, die sich dem Journalismus anverwandelt.



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Den unmittelbarsten Ausdruck des Bildungsüberdrusses zeigt deutlich die 'antiliterarische' Einstellung, welche in der Diskussion von Theaterfragen so oft zu spüren ist. Befreiung des Theaters vom Bildungsballast, Wiedererweckung des reinen Übermuts spielerischen Bedürfnisses, Stegreif, Theater der Schauspieler sind bekannte Überschriften, deren Einfluss von dem nur auf schauspielerische Leistungen zugeschnittenen Spielplan bis zu ernsten Versuchen reicht, das Stegreifspiel des Barock wieder heraufzuführen. Nach allem schon Gesagten braucht dem nichts hizugefügt zu werden. Meiner Ansicht nach kann das nur dazu führen, die Literatur der Literaten durch die der Journalisten zu ersetzen, welche der Schauspieler täglich in der Zeitung liest.
Das besorgt aber ohnehin schon ein Teil unserer Dichter selbst. Man hat sich beim Verteidigen und Bekämpfen von Richtungen gar nicht Rechenschaft darüber gegeben, dass die einflussreichste und allgemeinste und alle Schulen umfassende Richtung der Bühnendichtung die auf ihre Journalisierung ist. Anregbarkeit, fixe Rundung, Temperament, sparsam geschickte Pointierung, wirkungsvolle Aufmachung, auf dem laufenden sein und einige andere sind die Tugenden, welche der begabte dramatische Journalist seinem Kollegen von der Zeitung entlehnt, und es gibt auf diesem Gebiet wirkliches Talent. (Musil 1987a: 1128).

Die Schärfe des Urteils ist verknüpft mit einem Purismus, der sich totalisierend gegen den Theaterbetrieb zu richten scheint. Dabei entsteht der Eindruck, dass die explizite Ferne zum Betrieb mit einer ebenso deutlichen Ferne zu kulturellen Erscheinungen der Gegenwart verbunden ist. Denn das obige strike Urteil wird nicht an einzelne dramatische Richtungen oder theatrale Programmatiken gebunden, sondern sieht die verschiedensten Richtungen als Teil einer umfassenden Journalisierung des Theaters. Solch Generalurteil ließe sich aus Musils erfolglosen Versuchen ableiten, als Dramatiker zu reüssieren. Und die Frage wurde ja auch diskutiert, ob das seltsam Schwebende seiner Dramen, an denen man vielleicht am ehesten noch Musils Vorstellung vom 'geistigen' Theater exemplarisch studieren könnte, mehr einer philosophischen Haltung oder einer gewissen Bühnenfremdheit entsprach. All das spielt sicherlich eine Rolle, sollte allerdings Musils Analyse der Theaterverhältnisse und seine Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Theater und Journalismus nicht als Resultat enttäuschten Liebeswerbens entwerten. Eher ist hier die letzte Konsequenz eines Weitertreibens des Schreibens von der Tageskritik zum Essay erreicht. Dieses Weitertreiben, das zugleich eine Überwindung der doch im Falle der Theaterkritik immer irgendwie erheischten Anpassung an den Betrieb bedeutet, heißt auch, dass Musil bei seinem Schreiben über Theater mit dem abrechnet, was ihm Indizien solcher "Journalisierung" sind. Er bricht mit den publizistischen Versatzstücken, die von der Feierung der Scheinaktualität bis zum Kultus der Persönlichkeit reichen (vgl. Musil 1987a: 1129f.).


V.

Dennoch gab es Kritiker, die Musil gelten ließ. Dass er mit Polgar und Kerr zwei lobte, die ihrerseits sein Werk gelobt hatten, ist dabei nicht eine der letzten Ursachen und sagt viel über den Mechanismus von Wertschätzung in der literarischen Welt. Der ihm stets nützliche Oskar Maurus Fontana gehörte ebenfalls zu den Akzeptierten. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit der Kritik gab, die Musils Ansprüchen genügte, und er dafür Begründungen suchte, dann war es wohl eine, in der die Kritik Züge von Dichtung annahm oder zur Dichtung wurde.



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Die positive Äußerung zu Alfred Polgar und Alfred Kerr kann man so interpretieren. An Polgars kritischen Skizzen rühmte er das prägnante Beschreiben von Vorgängen und das Zusammenbringen scheinbar weit auseinanderliegender Elemente. Er verwendete hierfür das Wort von der Simultaneität, meinte aber damit nicht ein "nur den Eindrücken Hingegebenes", sondern betonte das Strukturierte von Polgars kritischen Schriften. Bei Polgars Kritiken fand Musil dann sogar einen Sinn in Aspekten des Journalistischen.9 Kerrs auf sich selbst gemünztes Wort vom "Kritikerdichter" ließ Musil nicht nur als Charakteristik von dessen Arbeit zu, er nutzte es zur Feststellung, "dass es überhaupt bei allen Unterschieden keine bedeutende Kritik gibt, die nicht Dichtung wäre, und von reiner Lyrik abgesehen, keine bedeutende Dichtung, die nicht Kritik wäre."10 Es ist eine radikale Auffassung, die Musil hier vertritt und wiederum ein Unterschied zur Position Schnitzlers, für den eben Kunst und Theater- oder Literaturkritik prinzipiell geschieden waren. Musil stand Kerr nicht unkritisch gegenüber, aber er rühmte dessen "Kritikerdichtung" als Ausnahmeerscheinung der deutschen Literatur, "gedichtete Kritik", die er in diesem Punkt mit den Schriften Heinrich Heines verglich. Das hat mit einer bestimmten Stellung zur Wirklichkeit zu tun, Musil spricht dabei ja immer vom "Leben". Bei beiden, Polgar und Kerr, ist es die Beziehung zum Leben, die Musil hervorhebt und die ihm zum Kriterium von Qualität wird: bei Polgar die "Unfestheit des Lebens", die sich in Form und Inhalt seiner Skizzen widerspiegelt und bei Kerr die Prüfung der Literatur nicht an anderer Literatur, sondern am "Urmaß des Lebens".

"Kritikerdichter" ist ein Attribut, das allerdings seine eigene Ambivalenz hat, wenn man es im Falle der Verwendung durch Musil auf die konkrete historische Situation bezieht. Arthur Schnitzler, wie gesagt, hatte den aktuellen Versuchen einer Gleichstellung von Literatur und Kritik eine Absage erteilt. Kritik als Dichtung war eine seit der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert wirkmächtige Selbstdefinition von Theater- und Literaturkritik. Es sollte zum Ruf einer sich der Modernität verpflichtenden Kritik werden, war allerdings ein nicht wirklich neues Konzept, man findet es bereits in der romantischen Kunstkritik. Neu aber war die Verbindung des Kritikergestus' mit Elementen des Impressionismus, die eine starke Subjektivierung von Kritik erzeugte, eine Kritik, die den Eindrücken mehr als den Argumenten hingegeben war (Fliedl 1999). Der Terminus "impressionistische Kritik" entstand in diesem Zusammenhang, je nach Haltung mit positiver oder negativer Bedeutung unterlegt. Oft verbarg sich hinter dem "Impressionismus" nicht viel mehr als Willkürlichkeit im Urteil, eine Subjektivität, die von der Attraktion des eigenen Stils lebte und keine Kritierien außerhalb ihrer selbst kannte. Musil fügte etwa seinem Lob Alfred Polgars gleich hinzu, dass dessen Kritiken nicht zum "Impressionismus" gehörten und grenzte ihn damit von den bloß auf ihre Empfindungen gestützten Kritikern ab (Musil 1987a: 1157f.). Dabei wäre an Polgars Methode, die Kritiken zu kleinen stimmungsreichen Erzählungen zu formen, durchaus ein impressionistisches Signalement zu entdecken gewesen. Bei Kerr wiederum betonte Musil dessen Verbundenheit mit der Theatermoderne, sein Wegbereitertum, er hätte aber sehr wohl die forcierte Subjektivität Kerrs, dessen willkürliche Setzungen als Indiz für einen dem impressionistischen Gestus folgenden "Kritikerdichter" nehmen können.



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Der Begriff des "Kritikerdichters" berührt auf vielfältige Weise die Frage von Modernität. Die Situation, in der sich die moderne Kritik befindet, ist vorwiegend die einer Verwobenheit mit den Bewegungen des Betriebs. Diese Verwobenheit kann aus der Fetischisierung des Neuen bestehen, die Modernität von Kritik wird dann an die Akklamation dominierender aktueller Tendenzen geheftet. Sie kann aber ebenso am Festhalten an einstmals für gut Befundenem und nunmehr Konventionalisierten bestehen. Auf dichterische Weise hat Musil die Lage des zeitgenössischen Kritikers beschrieben, die in diesem Sinn zum Dilemma werden kann. Im Kerr-Beitrag ironisiert Musil jene Kritik, die nur den "berühmten Anschluss an die Zeit zu verpassen" fürchtet und jene, die sich bloß ans "Gewesene" klammert. Im Unterschied zu Arthur Schnitzler spricht Musil von der Möglichkeit der Krise des Kritikers angesichts moderner Entwicklungen, die ihre eigene Widersprüchlichkeit haben: "Die Entscheidung in solchem Fall ist, wenn man nicht mehr die Anpassungsfähigkeit des selbst noch Unfertigen hat, in Wahrheit eine schwere Krisis, die nicht nur Kritiker, sondern auch Dichter, aber Kritiker besonders hart trifft." (Musil 1987a: 1187). Das am Fall Kerr zu diskutieren lag nahe, da dieser als Befürworter von Ibsen und Hauptmann sich in den zwanziger Jahren einer neuen und mit vielen Banalitäten behafteten Theatermoderne gegenübersah, auf die er reagieren musste. Die Thematik, die Musil wie nebenbei aufgreift, und der mit Bezug auf die Kritiken Kerrs im einzelnen hier nicht nachgegangen werden kann, berührt Fragen des Ethos von Kritik zwischen Apologie des Neuen und regressiver Abkehr vom Betrieb. Sie kann daher nur an einem Kritiker wie Kerr diskutiert werden, den Musil schätzte, und bei dem er eine über die Tagesmode hinausreichende Haltung voraussetzte.

Noch schärfer hatte Musil die Problematik von Apologie und Distanz – auf seine eigene dichterische Weise – im Polgar-Porträt zur Sprache gebracht. Dabei erscheint Polgars Distanz zum Betrieb und zur Kaste der Etablierten als Voraussetzung seiner Qualität. Der Wiener Polgar wird als Antipode der Wiener Kulturgesellschaft charakterisiert:

Immerhin scheint es bei solcher Beschreibung nicht unangebracht zu sein, ein bürgerliches Sittenzeugnis beizubringen. Hier folgt es: So viel dieser Kritiker mit dieser Idee des genius loci zu schaffen hat, so wenig mit ihren Konkretinismen. Denn konkret ist der Geist dieser Stadt – und vornehmlich sprechen wir ja von der Literatur, insonderheit vom Theater – in der Macht von Anpassungsfähigen, welche in irgendeinem Punkte alle feine und begabte Menschen sind, aber es freiwillig übernommen haben, volle Begabung nicht aufkommen zu lassen. [...]



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In solcher Umgebung wird man ein großer Mann, indem man sich dorthin stellt, wo große Männer verkehren. Man hebt ihnen die Asche auf, wenn sie rauchen und eines Tages steht man mit der großen Zigarre da, auf die gebeugten Rücken jüngerer herabblickend. Von dieser erfolgverbürgenden Gesellschaft mit haftender Beschränktheit hat sich Polgar sein Leben lang in stummem Protest ferngehalten und ist in kleine Montagsblätter geflohn, um möglichst selten mit der Literatur in Berührung treten zu müssen. Eine solche Verneinung, jahrelang in Reinheit festgehalten, hat, wenn sie auch schweigend ist, die Kraft eines großen Beispiels und wird in einer Stadt, wo mit dem Erfolg das Verdienst kommt, vielen Menschen gezeigt haben, dass es auch anders geht. (Musil 1987a: 1156f.)

Musils Beschreibung der Publizistik zweier so unterschiedlicher Kritiker wie Polgar und Kerr lässt sich in manchem auf seine eigene Arbeit als Theaterkritiker münzen. Solche Kriterien sind die "gedichtete Kritik" und das Maßnehmen nicht bloß am Betrieb, sondern am "Leben", besonders aber wohl jene zuletzt zitierten Worte über Polgars Distanz zu der "erfolgsverbürgenden Gesellschaft." Musils Kritiken selbst sind von dieser Distanz geprägt, die an keine Richtung geknüpft ist und gerade aus dieser Unabhängigkeit heraus ihr Ethos erhält. In der Praxis des Schreibens führte das zur Methode der Ironie, die Musil zusammen mit "Witz" und "Humor" auch an Polgars Kritiken hervorhebt. Pathos und Ironie kann man unter den Bedingungen der zwanziger bis in die dreißiger Jahre als die zwei extremen Möglichkeiten der Theaterpublizistik bezeichnen. Der pathetische Weg war meist mit einer Programmatik verknüpft. So konnte er von einem expressionistischen Individualismus geprägt sein, mit dem das Bestehende überwunden werden sollte oder sich politisch Artikulieren, wie in Teilen der sozialdemokratischen Publizistik. Musils Ruf nach dem "geistigen Theater" hatte durchaus pathetischen Charakter, man kann hier von einem individualistischen Pathos sprechen. Das zog sich auch durch seine Theaterkritiken. Daneben aber gab es für ihn die Methode der Ironie, die das Gesehene beschrieb, ihm nichts entgegensetzte, es scheinbar hinnahm, dabei aber an seiner eigenen Widersinnigkeit auflöste.

Ernst Fischer hat bereits 1957 die Ironie in Musils literarischen Werken dargestellt und sie mit den besonderen österreichischen Verhältnissen in Beziehung gebracht, die er als "ein(en) Zustand, der zur Ironie herausforderte" bezeichnete. Fischer sah mit Blick auf dessen Literatur Musil als nicht von Anfang an zur Ironie geneigt, und erst mit der "melancholisch-ironischen Analyse des Habsburgerstaates" im Mann ohne Eigenschaften – also durch die Wahl des Stoffes könnte man sagen – wirklich zu dieser Schreibweise gekommen (Fischer 1957: 252). Dem ist zuzustimmen. Allerdings wird man bei Musils Theaterkritiken die Konturen etwas anders setzen. Hier ist die Ironie bereits von Beginn an da, und das hängt freilich mit dem Thema zusammen. Die abgeschlossene Welt des Wiener Theaters, die, wie gezeigt, Musil besonders in seinen Essays auch pathetisch durch Berufung auf Geist und Leben überwinden wollte, diese abgeschlossene Welt erscheint bei ihm als ein zeitfernes Gebilde, in dem sich gleichwohl die Eigenarten der Gesellschaft und Kultur Wiens – und nicht nur Wiens – verdichteten. Die Ironie, mit der dabei von den Theaterabenden berichtet wird, nimmt die Hermetik des theatralen Vorgangs hin und macht diesen durchsichtig, in dem sie gerade über die immanenten Motive etwa der guten Rolle, des Effekts, der Handlungsschablone erzählt. Das muss nicht zu einem negativen Urteil führen, Musil war nicht der Kritiker, der bloß verspotten wollte. Seine ironischen Referate beschreiben die Elemente des Abends und können dabei den Aufstand des einen gegen das andere, der Regie gegen das Drama, der Schauspielkunst gegen die Regie usw. bemerkbar machen.11



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Die Ironie mit ihrer distanzierenden Wirkung fungiert als Möglichkeit, dem Sog des Pragmatischen zu entkommen, in den vielfach Theaterkritik gerät, wenn sie die routinierte Aufführung immer irgendwie gut heißt, um das Schreiben darüber zu legitimieren. Noch die albernste Aufführung bleibt in Musils Kritik dadurch interessant, dass sie als Symptom genommen wird: "[...] man muss das Theater dort ernst nehmen, wo es nicht ernst zu nehmen ist", heißt es in einer solchen Kritik (Musil 1987b: 1613). Die Ironie kann, wenn bei einer Aufführung nur mehr das Symptomatische übrigbleibt, zur Satire werden. Ohnehin ist die Grenzlinie zwischen Ironie und Satire nicht wirklich zu ziehen, und ist bei Musil am ehesten als Steigerung, als Übergang zum Angriff erkennbar, die Wahl von Ton und Bildern, lässt das Besprochene nicht mehr nur fragwürdig, sondern lächerlich erscheinen. Das ist bei Dramen der Fall, die im weitesten Sinne der Heimatkunst entstammen und bei denen Musil eine satirische Provinzialismus-Kritik betreibt.12

In Wien wirkte ein Kritikerdichter, der die Satire zur bevorzugten Methode machte und zugleich dem Theaterbetrieb sein eigenes "Theater der Dichtung" entgegensetzte, indem er seine auf den geistigen Gehalt des Dramas gerichteten Ein-Mann-Leseabende abhielt: Karl Kraus. "Theater der Dichtung" war bekanntlich die Bezeichnung, die Kraus seit dem Oktober 1925 seinen Lesungen dramatischer Werke unter anderem von Shakespeare, Goethe, Hauptmann, Nestroy, Gogol und natürlich Offenbach gab. Zu Kraus allerdings fand Musil nicht nur keine Nähe, er war als Theaterkritiker selbst Zielscheibe des Satirikers Kraus geworden.13 Kraus hat wiederholt generell Kritisches über Theaterkritik formuliert, zuletzt in der "Dritten Walpurgisnacht", geschrieben zu einem Zeitpunkt, da Theaterkritik durch die NS-Herrschaft ausgelöscht oder instrumentalisiert wurde.


Bibliographie

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Corino, Karl (1988): Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg.

Dilthey, Wilhelm (1910): Das Erlebnis und die Dichtung. 3. Erw. Aufl. Leipzig.

Fischer, Ernst (1991): Von Grillparzer zu Kafka. Von Canetti zu Fried. Essays zur österreichischen Literatur. Auswahl und Nachwort von Karl Markus Gauß unter Mitarbeit von Ludwig Hartinger. Frankfurt a. M.

Fliedl, Konstanze (1999): "'Come here, good dog'. Literaturkritik der Jarhhundertwende", in: Schmidt-Dengler, W. und Nicole Katja Streitler (Hgg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis. Innsbruck, Wien, 57–77.



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Musil, Robert (1987a): Gesammelte Werke 8. Essays und Reden. Hg. v. Adolf Frisé. 2. verb. Auflage. Reinbek b. Hamburg.

Musil, Robert (1987b): Gesammelte Werke 9. Kritiken. Hg. v. Adolf Frisé. 2. verb. Auflage. Reinbek b. Hamburg.

Meister, Monika (1979): Der Theaterbegriff Robert Musils. Diss. Wien.

Meister, Monika (1980): "Robert Musils Zeitgenossen im Spiegel der Kritik", in: Maske und Kothurn. 26. Jg., H. 3–4, 271–285.

Meister, Monika (1981): "Zur Theaterkritik Robert Musils", in: Freese, W. (Hg.): Philologie und Kritik. Klagenfurter Vorträge zur Musil-Forschung. München, 149–176.

Nietzsche, Friedrich (1979): Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem, in: ders.: Werke III, hg. von Karl Schlechta. Frankfurt am Main, Berlin, Wien.

Roth, Marie-Louise (1965): "Musil als Kritiker", in: dies. (Hg.): Robert Musil. Theater. Reinbek b. Hamburg, 197–209.

Schnitzler, Arthur (1967): Aphorismen und Betrachtungen. (Bd. 3: Über Kunst und Kritik. Materialien zu einer Studie, Methoden und Kritisches). Hg. v. Robert O. Weiss. Frankfurt a. M.

Stefanek, Paul (1992a): "Theater zwischen Krise und Utopie. Zur Theaterkritik und -ästhetik Robert Musils", in: ders. (Hg.): Vom Ritual zum Theater. Gesammelte Aufsätze und Rezensionen. Mit einem Vorwort von B. Marschall. Wien, 107–133.

Stefanek, Paul (1992b): "Musil und das Theater – 60 Jahre nach dem Essay 'Der Untergang des Theaters'", in: ebd., 367–386.

Streitler, Nicole Katja (1999): "Bemerkungen zum Stil Robert Musils in den Literatur- und Theaterkritiken", in: Schmidt-Dengler, Wendelin und Nicole Katja Streitler (Hgg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis. Innsbruck, 79–94.

Tiebel, Ursula (1993): Theater von außen. Robert Musil als Kritiker. Theater unserer Zeit Nr. 15, O.O.


Anmerkungen

1 In der Werkausgabe werden die Essays von 1911 bis 1931, die Kritiken von 1912–1930 datiert. Musil arbeitete nur von 1921 bis 1924 als Theaterkritiker im strengen Sinn, hat sich aber danach in seinem kritischen und essayistischen Werk weiterhin zu Fragen des Theaters und der Theaterkritik geäußert. Als Kritiker schrieb er zu Literatur, Kunst und Theater, die Theaterkritik nimmt dabei zahlenmäßig bei weitem den größten Raum ein. Musil verfasste Kritiken für: Prager Presse, Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), Der Abend, Der Morgen, Deutsche Allgemeine Zeitung Berlin, Neuer Merkur. Zur genauen Dokumentation vgl. die Anmerkungen in Musil (1987b: 1855).



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2 Vgl. u.a. Roth (1965); Stefanek (1992a); Stefanek (1992b); Meister (1979); Meister (1980); Meister (1981); Arntzen (1980); Tiebel (1993); Streitler (1999).

3 In Musils Tagebuch findet sich dazu auch die antisemitische Bemerkung von der "jüdischen Arroganz". Vgl. Corino (1988: 270).

4 In der im Exil erscheinenden "Arbeiter-Zeitung" vom 14. Juli 1935 wurde Musil anlässlich seines Auftretens am Kongress als "[E]in 'Kultur'-Sendling des österreichischen Faschismus" beschimpft. Vgl. Corino (1988: 420f.)

5 Vgl. Musils Aufsatz von 1921: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (Musil 1987a: 1042–1059). Ernst Fischer widmet in seinem Musil-Essay der Spengler-Kritik einen eigenen Abschnitt ("Gegen den Irrationalismus"). (Fischer 1991: 262–264).

6 Vgl. auch die zum Teil wortgleichen Überlegungen in Musils Beiträgen: Vom Geiste der Bühne (veröffentlicht in der "Prager Presse", 1922) und Trugschlüsse (veröffentlicht in der "Muskete", 1922). (Musil 1987b: 1563f. und 1610f.).

7 Hierzu wurden aufschlussreiche Vergleiche zu Horkheimer und Adornos Analyse der Kulturindustrie im amerikanischen Exil sowie zu Georg Lukács' "Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas", dessen Einleitungskapitel zehn Jahre vor Musils Essay erschienen war, gezogen. (Vgl. Meister 1979 und Stefanek 1992b).

8 Z.B. in einer Kritik einer Inszenierung von Shaws "Heiliger Johanna" 1924 (Musil 1987b: 1670–1173).

9 Vgl. Robert Musil: Interview mit Alfred Polgar (5. März 1929), (Musil 1987a: 1154–1160). Zum Journalistischen heißt es da: "Will man Polgars Wesensart ganz verstehen, so ist es wohl von Bedeutung, auch daran zu denken, dass er als Journalist begonnen hat und es bis heute geblieben ist. Er hat auch da nicht versucht, revolutionierend zu wirken, sondern behielt seine Schutzfarbe bei, welche zwar nicht hindert, dass sich seine Prosa sofort von der Umgebung abhebt, aber doch auch etwas Verbindendes hat. Man könnte vielleicht sagen, er kommt nicht im Vortragsfrack in die Redaktion (wie unmöglich nimmt sich Lyrik in Zeitungen aus!), sondern in einer schönen und bequemen Strapazprosa: aber der Zusammenhang ist wahrscheinlich doch inniger, denn so unheilvoll die Schwächen der Zeitungen sein mögen, der Wirbel atomisierter Impulse, der täglich durch eine Redaktion fegt, das sich Anhäufen der Tatsachen, die – sit veniam verbo – auf Ordnung gepfiffen kommen und einen lockeren Berg aufschütten, das unablässige Klingeln der Widersprüche an allen Telephonen: im ganzen hat das doch etwas von einem Vulkan, in dem die Zeit ihre Gärung ausspeit."

10 Robert Musil: Heute spricht Alfred Kerr. Ein Porträt des berühmten deutschen Kritikers (31. März 1928), (Musil 1987a: 1188).

11 Da die Ironie ein durchgehender Zug von Musils Theaterkritiken ist, ließ sich für die hier beschriebene Besonderheit unzählige Beispiele anführen. Ein Zitat sollte aber genügen, um zu zeigen, wie ironische Beschreibung die Widersprüche offenlegt und die Hermetik des theatralen Vorgangs durchsichtig macht. "Geteilt war auch der Eindruck der Aufführung. Direktor Beer, der Burgtheaterkandidat, sorgte mit magischem Licht, in der Geisterstunde losbrechendem Klavierspiel, stimmungsvoller Zwischenmusik und ähnlichen Mitteln dafür, dass die schwache Stimmungsgeistigkeit des Stückes auf Kosten seiner kräftigen Wirklichkeit recht deutlich dem Zuschauer zu Bewußtsein komme; seine Schauspieler waren aber so leichtsinnig, einfach gut zu spielen, als beschiene sie die Sonne und nicht der Schein tieferer Bedeutsamkeit." Robert Musil: Wiener Theater. Christa, die Tante (3. Dezember 1922), (Musil 1987b: 1613). (Die Kritik bezieht sich auf die Inszenierung von Rolf Lauckners "Christa, die Tante" 1922 am Raimund-Theater).



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12 Auch hierfür möge ein Beispiel genügen: "Gegrüßt sei mir das Land der Mostschädel, ob der Enns, wo die Knechte Jacken mit braunen und violetten Würfeln tragen, das Messer im Lederarsch steckt, und die Kriminalstatistik am Sonntag einen fröhlichen Aufschwung zeigt, aber die Wiesen voll Himmelsschlüssel sind, der Boden in sacht-grünen Stufen dahinsteigt, rotweiße Hagrosen an der Brust und mit blauen Wasserbüscheln obenauf geschmückt. Bald rauft der Most, bald seimt er." Robert Musil: Der Knecht. (20. Oktober 1924). (Musil 1987b: 1668).

13 Es ging dabei um Musils Besprechung einer Aufführung von Nestroys "Liebesgeschichten und Heiratssachen" am Raimund-Theater in der "Prager Presse". Vgl. dazu Corino 1988: 280f. Zum Thema Musil über Kraus siehe z.B. die Anmerkungen von 1928 anlässlich eines Wiener Vortrags von Alfred Kerr, in dem Musil sich auch ironisch mit Kerr auseinandersetzt: "Der Vortrag, den er in Wien hielt, schien mir kaum Wesentliches beizutragen. Es war ein sehr gescheiter Barnum & Bailey Vortrag: hier seht ihr Alfred Kerr, den größten Kannibalen (Anthropoetaphagen) aus Berlin West, von einer Seite wo er auch niedlich sein kann. Er hatte wohl an die Stadt Arthur Schnitzlers gedacht. Und vergaß, dass er sich in der Stadt Karl Krausens befand, der das Messer wetzt, wenn ein andrer Ich sagt." Vgl. Robert Musil: Nachtrag zu einem Vortrag. (Musil 1987a: 1406).

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