PhiN 20/2002: 57




Cornelia Ruhe (Konstanz)



Annett Volmer (2000): Presse und Frankophonie im 18. Jahrhundert. Studien zur französischsprachigen Presse in Thüringen, Kursachsen und Russland. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.



In den letzten zehn Jahren haben Begriffe wie Frankophonie und Interkulturalität eine massive Konjunktur erlebt, die unter anderem dazu geführt hat, dass man sich unter beiden in der Hauptsache Folgen und Produkte einer (post-)kolonialen Zeit vorstellt und auch die Forschung sich zumeist auf diese Gebiete beschränkt hat. Die Tatsache, dass das Französische gerade im Zeitalter der Aufklärung in ganz Europa als Kultursprache fungierte, derer sich eine länderübergreifende République des Lettres bediente, hat dabei bisher wenig Beachtung gefunden. Annett Volmers Untersuchung richtet ihr Augenmerk auf einen Ausschnitt dieses eher vernachlässigten Bereichs: auf den frankophonen Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt in Thüringen, Kursachsen und Russland, durch den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts1 die Ideen der französischen Revolution, aber auch der Gegenaufklärung rezipiert wurden. Dabei geht Volmer davon aus, dass gerade diese Zeitschriften – durch die Wahl der französischen Sprache in ganz Europa einer bestimmten Schicht zugänglich – zu einem kulturellen Transfer von Ideen und Wissen beigetragen haben. Die Auswahl der drei Territorien folgt, so Volmer, "pragmatischen und argumentativen Überlegungen" (14), wobei sie sich insbesondere für die Tatsache interessiert, dass auch fernab von Frankreich ein an frankophonen Zeitschriften interessiertes Publikum vorhanden war, was um so interessanter ist im Falle von Russland, wo ein Pressewesen gerade erst in Entwicklung begriffen war.

Die Arbeit, deren Schwerpunkt weniger auf der inhaltlichen Auswertung als auf der soziohistorischen Untersuchung der thematischen Gewichtung innerhalb der einzelnen Zeitschriften sowie auf herausragenden Herausgeberpersönlichkeiten liegt, gliedert sich in fünf Kapitel. In einem ersten Teil, "Die Presse in Deutschland und Russland im 18. Jahrhundert" (23–66) wird ein detaillierter und kenntnisreicher Überblick über die bisherige Presseforschung gegeben. Die Bedeutung der Presse als Organ für die Propagierung der Ideen der Aufklärung (aber auch der Gegenaufklärung) im 18. Jahrhundert wird herausgestellt, bevor die Presselandschaften der einzelnen Gebiete skizziert werden, innerhalb derer die frankophonen Zeitschriften einzuordnen sind.



PhiN 20/2002: 58


Das zweite Kapitel stellt "Französischsprachige Zeitschriften in Thüringen" (67–163) in den Mittelpunkt. Die besondere Bedeutung des Publizisten Heinrich August Ottokar Reichards, der als Herausgeber für alle drei behandelten Zeitschriften, den Nouveau Mercure de France, das Journal de Lecture und die Cahiers de Lecture verantwortlich zeichnet, steht dabei im Mittelpunkt der Betrachtung. Mit dem Nouveau Mercure wollte Reichard zunächst ein gelehrtes Publikum möglichst breit über aktuelle französische Literaturproduktionen im weitesten Sinne (auch die Naturwissenschaften wurden nicht außer acht gelassen) informieren. Durch Rezensionen, Textausschnitte, Berichte über Theateraufführungen und Modetendenzen gelang es ihm, seine Leser umfassend über das literarische Geschehen in Paris in Kenntnis zu setzen. Mit dem Journal de Lecture entwickelte Reichard dann ein Lesejournal, in dem dem Leser Ausschnitte aus zeitgenössischen französischen Texten aller Gattungen zur Verfügung gestellt wurden. Die Cahiers de Lecture hingegen entwickelten sich in ihrer mehr als zehnjährigen Erscheinungszeit (1784–94, 1796) immer mehr auch zu einem politischen Organ, in dem der frühkonservative Reichard, der ein erklärter Gegner der französischen Revolution war, gegenaufklärerischen Ideen breiten Raum gewährte. In einem Exkurs über "Die Russland-Rezeption in den Cahiers de Lecture" (123–125) wurden den kulturellen Transferprozessen zwischen Frankreich, Deutschland und Russland Rechnung getragen, wobei deutlich wird, dass mit den "Anecdotes russes" ein wenig differenziertes, stereotypes Russlandbild verbreitet wurde.

Die "Französischsprachigen Zeitschriften in Kursachsen" stehen im Mittelpunkt des dritten Kapitels (165–181). Bereits der geringe Seitenumfang dieses Teils verdeutlicht, dass der Anteil frankophoner Zeitschriften in Sachsen weit geringer war und eine gesellschaftlich marginalere Rolle spielte als in der thüringischen oder gar russischen Presse. So hebt Volmer hervor, dass L’Ambigu als "Beweis für die Präsenz und Verbreitung der französischen Sprache in einer Bürgerstadt wie Leipzig [...] nicht überbewertet werden [darf], denn ihre Marginalität ist nicht nur der übergroßen Konkurrenz auf dem Zeitschriftensektor geschuldet, sondern auch der Diskrepanz zwischen Anspruch und Realisierungsvermögen eines originellen Konzepts durch den Redakteur." (172) Auch der Extrait de la littérature de ce temps, der hauptsächlich aus Übersetzungen von Artikeln holländischer und Berliner Rezensionsorgane besteht, konnte weder den Anspruch, einen umfassenden Überblick über den französischen Buchmarkt zu liefern einlösen, noch ein markantes eigenes Profil gewinnen. Allerdings kann die in Merseburg herausgegebene Zeitschrift, so Volmer, als Beleg dafür dienen, dass auch in der Provinz Interesse an frankophoner Lektüre bestand.

Der umfangreiche vierte Teil der Arbeit ist den "Französischsprachigen Zeitschriften in Russland" (183–268) gewidmet. Dabei stellt Volmer einige signifikante Unterschiede zu den bereits beschriebenen Publikationen heraus: Mit der Gazette de Saint-Pétersbourg wird die einzige, zweimal wöchentlich erscheinende Zeitung des Korpus behandelt, die sich jedoch nicht aus eigenen redaktionellen Beiträgen speiste, sondern aus Übersetzungen von Artikeln der Sanktpeterburgskie Vedomosti und der Sankt-Petersburger Zeitung bestand. Mittelbar unterstand sie dem Einfluss der russischen Monarchie, wobei die Akademie der Wissenschaften als ausführendes Organ diente. Von dieser Ausnahme abgesehen werden die russischen Zeitschriften im Gegensatz zu den thüringischen und kursächsischen maßgeblich von eigenen Texten der Herausgeber und Redakteure dominiert.



PhiN 20/2002: 59


Wo die Herausgeber der bisher behandelten Zeitschriften deutscher Nationalität waren, so sind es im Falle der russischen Presseorgane Franzosen, die oft nur vorübergehend in Russland lebten. Mehr noch als in Thüringen war in Russland das Spektrum der einzelnen Zeitschriften recht breit angelegt; von der bereits erwähnten Zeitung über die Autorenzeitschrift Nicolas-Gabriel Leclerc’ La Boussole de Terre reicht das Spektrum von dem auf Unterhaltung ausgerichteten und den russischen Kontext völlig aussparenden Journal littéraire de St. Pétersbourg bis zum Mercure de Russie. Der dem kaiserlichen Kadettencorps nahestehende Mercure stellt das wohl ambitionierteste Projekt dar und behandelt eingehend auch die sich entwickelnde russische Nationalliteratur.

Der fünfte Teil der Untersuchung, "Parallelen, Schnittpunkte, Differenzen" (269–280) schließlich fasst die Ergebnisse der Untersuchungen kurz zusammen: Die untersuchte französischsprachige Presse in Deutschland und Russland ist keinesfalls als der lange Arm Frankreichs zu betrachten, sondern geht aus eigenständigen deutschen bzw. russischen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts hervor, was sich nicht zuletzt daraus ergibt, dass die Herausgeber in Deutschland frankophile Deutsche und keine Franzosen waren. Insbesondere in Russland dienten die Zeitschriften dem regen kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Russland, das sich im 18. Jahrhundert vielfach am großen Vorbild im Westen zu orientieren suchte. Letztlich bildete die frankophone Presse aber, so Annett Volmers abschließende These, eine Grundlage zur Entstehung eigener Nationalliteraturen in Deutschland und Russland, die sich vorübergehend an Frankreich, das in seiner Entwicklung weiter gediehen war, orientierten und sich desselben Mediums – der französischen Sprache – bedienten, um diese Ideen zu transportieren und weiter zu entwickeln.

Nach der Lektüre von Volmers detaillierter und innovativer Untersuchung bleiben dennoch einige Fragen offen.2 Die sehr unterschiedliche Entwicklung des Pressewesens in Deutschland und Russland, auf die in der Arbeit kurz eingegangen wird, macht deutlich, dass die Entwicklung in beiden Territorien sich nur in beschränktem Maß für einen Vergleich eignet. Er wird zudem erschwert durch die Heterogenität der verschiedenen Presseorgane, die jedoch zugleich die Vielfalt der Zeitungslandschaft in den betroffenen Gebieten plastisch vor Augen führt.

Es ist ein großes Verdienst dieser Arbeit, einen neuen und originellen Beitrag zum interkulturellen Wissenstransfer geleistet zu haben, der nicht zuletzt dadurch wenig selbstverständlich ist, dass er Kenntnisse nicht nur des Französischen, sondern darüber hinaus des Russischen erforderlich macht. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens einigen der zahlreichen Forschungsdesiderate (z. B. "Die frankophone Presse fand in der russischen Presseforschung kaum Beachtung und ist bis auf den heutigen Tag in ihrer Gesamtheit nicht eingehender betrachtet worden. [...] Andere deutschsprachige Zeitschriften [...] sind zumindest bekannter als die Journale in französischer Sprache, doch ist die Aufarbeitung dieser interkulturellen Austauschbeziehungen noch nicht in Angriff genommen worden."; 65), auf die Annett Vollmer im Zusammenhang mit ihrer Untersuchung hinweist, tatsächlich nachgegangen wird.



PhiN 20/2002: 60



Anmerkungen

1Nur die sächsische Zeitschrift Ambigu erschien bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts.

2Angesichts des Ungleichgewichts in der Arbeit zugunsten Thüringens und Russlands und zu Ungunsten Kursachsens wäre es möglicherweise günstiger gewesen, dieses von der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung so völlig anders strukturierte Gebiet – wie andere Nebenthemen auch – in Form eines Exkurses zu behandeln.

Impressum