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Rolf Kailuweit (Heidelberg)



Kerstin Blume (2000): Markierte Valenzen im Sprachvergleich: Lizenzierungs- und Linkingbedingungen. Tübingen: Niemeyer.



Die Dissertation von Kerstin Blume widmet sich im Rahmen eines an Dowty (1991) und Primus (1994/1999a, 1999b)1 orientierten Proto-Rollen-Modells markierten morphosyntaktischen Realisierungsmustern. Geht man von einer Kasushierarchie

Nominativ/Absolutiv > Akkusativ/Ergativ > Dativ > oblique Kasus

aus, folgen zweiwertige Verben markierten Mustern, wenn sie ihr erstes Argument nicht als Nominativ/Absolutiv und/oder ihr zweites Argument nicht als Akkusativ/Ergativ realisieren.

Die Arbeit beginnt, nach einer kurzen Vorstellung des Datenmaterials (Kap. 1), mit einer Einführung in die Valenztheorie (Kap. 2), die vor allem auf das multidimensionale Valenzkonzept von Jacobs (1994)2 Bezug nimmt. Hinsichtlich der markierten Kasusmuster stellt Blume mit Hilfe dieses Ansatzes fest, dass markierte Valenzen, namentlich Nominativ-Dativ-Valenzen, mit bestimmten semantischen Verbklassen (Interaktionsverben, psychologischen Verben, Besitzverben oder symmetrische Verben des Ähnelns und Gleichens) korrelieren. Im dritten Kapitel wird gezeigt, dass dabei jedoch der Dativ nicht durch eine bestimmte semantische Rolle motiviert ist. Das vierte Kapitel kreist um die Frage, inwieweit der Dativ ein struktureller Kasus im Sinne der generativen Grammatik ist. Es wird gezeigt, dass er lediglich in dreiwertigen Konstruktionen als struktureller Kasus anzusehen ist, in zweiwertigen dagegen als lexikalischer. Generativistische Arbeiten leisten allerdings keine befriedigende Bestimmung der lexikalisch-semantischen Eigenschaften der Verben, die eines ihrer zwei Argumente als Dativ realisieren. Es zeigt sich, dass hierfür eine umfassende Theorie prototypischer semantischer Rollen erforderlich ist. Am unmarkierten Realisierungsmuster ist festzuhalten, wenn in semantischer Hinsicht die beiden Argumente als prototypischer Agens und prototypischer Patiens erscheinen, das markierte wird lizenziert, wenn dies nicht der Fall ist.

Kapitel fünf ist einer kritischen Diskussion der Ansätze von Dowty und Primus und der Entwicklung eines eigenen Modells gewidmet. In Kapitel sechs wird dies fortgesetzt, wobei Blume über Dowty und Primus hinausgehend Engelbergs (2000)3 Zergliederung komplexer Sachverhalte in verschiedene Teilsituationen für die Bestimmung prototypischer semantischer Rollen nutzt. Im letzten Kapitel der Arbeit wird dann gezeigt, dass das Linkingverhalten von Verben verschiedener Sprachen, die markierte Valenzen aufweisen, mit Hilfe des Modells erklärt werden kann.




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Von besonderem Interesse erscheint Blumes Revision von Dowtys Proto-Rollen-Modell, das in der linguistischen Diskussion um semantische Rollen und ihre syntaktische Realisierung im letzten Jahrzehnt viel beachtet worden ist. Im folgenden soll deshalb vor allem Blumes Weiterentwicklung des Proto-Rollen-Modells vorgestellt werden.

Aufgrund des Anspruchs, nur semantischen Rollen theoretischen Status zuzubilligen, die die syntaktische Realisierung von Argumenten beeinflussen, reduziert Dowty die Zahl der semantischen Rollen auf einen Proto-Agens und einen Proto-Patiens, die als prototypische Konzepte durch folgende offene Listen von Eigenschaften gekennzeichnet sind (Dowty 1991: 572):

Proto-Agens-Eigenschaften (PAE)
  • Volitional involvement in the event or state
  • Sentience (and/or perception)
  • Causing an event or change of state in another participant
  • Movement (relative to the position of another participant)
  • (Exists independently of the event named by the verb)
Proto-Patiens-Eigenschaften (PPE)
  • Change of state
  • Incremental theme
  • Causally affected
  • Stationary relative to another participant
  • (Existence not independent of the event)

Unter dem bei Dowty nur angedeuteten und bei Primus ausgearbeiteten Aspekt der Abhängigkeit der PPE von den PAE reduziert Blume die PPE auf drei. Alle PPE setzen das Auftreten entsprechender «potenter», d.h. stark gewichteter, PAE voraus. Ferner werden zwei schwach potente PAE angenommen, denen keine PPE entspricht. Die Eigenschaften werden dabei an die von den Prädikaten bezeichneten (Teil)-Situationen (S) gebunden:

PAE:

  • A kontrolliert S (Kontrolle);
  • A verursacht in S die Zustandsveränderung (einschließlich Hervorbringung bzw. Zerstörung) mindestens eines Partizipanten (Ursache);
  • A ist in S selbständig aktiv/erfüllt eine festgelegte Funktion/einen Zweck (Aktivität/Funktion);
  • A verfolgt in S eine bestimmte Absicht/hat in bezug auf S ein. best. eigenes Interesse (Interesse, wenig potente PAE);
  • A ist S einschließlich aller Partizipanten bewußt/A nimmt in S etw. wahr/empfindet etw. (Bewußtheit, wenig potente PAE)




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PPE:

  • P wird in S von A kontrolliert (kontrolliert);
  • P wird in S von A verändert, hervorgebracht oder zerstört (verändert)
  • P wird in S durch As Aktivität physisch oder mental betroffen (betroffen) (136f)

Der Kontrollbegriff ist an Primus angelehnt. Kausativität wird dagegen anders als bei Primus als Relation zwischen Teilsituationen begriffen. Dabei gelte:

(1) Für alle lexikalischen Situationsstrukturen S und für alle Teilsituationen si in S gilt: si bewirkt si+n kausal (i 1) gdw. in si+n ein Partizipant P involviert ist, für den in si Proto-Patiens-Eigenschaften impliziert sind (174).

Für töten nimmt Blume eine Teilsituation s1 an, in der x auf y aktiv einwirkt, eine Teilsituation s2, in der y stirbt und eine Teilsituation s3, in der y tot ist. Für beobachten wird eine Teilsituation s1 präsupponiert (präs), in der y aktiv ist, und eine Teilsituation s2, in der x y aktiv und kontrolliert wahrnimmt:

(2a) töten SIT-R: s1 [xakt, ybetr] > s2 [yth] > s3-ZST [yth] (173)

(2b) beobachten SIT-R: s1 [ypräs-akt] <> s2 [xkontr,akt, yth] (174)

Nach der Regel (1) liegt bei töten Kausativität vor, bei beobachten dagegen nicht. Verursachung wird damit zu einer sekundären PAE, die stets Kontrolle und/oder Aktivität im ersten Teilereignis voraussetzt.

Die PAE «Interesse» hält Blume für erforderlich, um folgenden Kontrast zu erklären:

(3) Mein Opa/?die Waschmaschine wäscht mir die Kochwäsche (136)

Ferner weise stehen seinem Dativ-Komplement die PAE «Interesse» zu:

(4) Der Anzug steht dem Kunden / *Der Deckel steht dem Topf (ibd.)

Die Argumentation ist nicht vollauf überzeugend. Für die Lizenzierung von Benefizienten reicht m.E. die PAE «Kontrolle» aus. Bei stehen ist die Selektionsbeschränkung nicht von syntaktischer Relevanz und sollte nicht durch Proto-Rollen erklärt werden.

Primus (1999b: 141) hatte eine PAE "x verfügt über etwas" angenommen. Diese PAE wird von Blume aufgegeben, da sie für das Linking irrelevant sei: haben oder besitzen realisieren das x-Argument im Nominativ, gehören dagegen das y-Argument. Der schwach potenten PAE «Bewusstheit» entspricht keine PPE. Argumente, die in einer Teilsituation weder PAE noch PPE besitzen, erhalten in dieser Teilsituation die Rolle Thema.




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Hinsichtlich der Linkingprinzipien ist Blumes Ansatz im Bereich der unmarkierten syntaktischen Valenzen (Nominativ-Akkusativ) so erklärungskräftig wie die Ansätze von Dowty und Primus:

(5) Universelles Linkingprinzip

Für alle Sprachen L, alle disambiguierten Verben V in L und alle Kasus kas1, kas2, kas3... in absteigender Rangfolge der Kasushierarchie (wobei kas1 der ranghöchste Kasus in L ist) gilt:

1.Wenn V in L die syntaktische Valenz SYN-VAL = /kas1/kas2..., die semantische Repräsentation SEM-VAL = 1 2 ...s[K (1, 2, ...)] (K = Prädikatskonstante) und die Situationsstruktur SIT-R hat, dann ist die Koindizierung der Stellen von SYN-VAL mit den Stellen von SEM-VAL nur dann wohlgeformt, wenn gilt:

a) Wenn /kasi (i = 1, falls L eine Akkusativsprache, i = 2 falls L eine Ergativsprache) mit i koindiziert ist, dann gibt es kein anderes Argument k und keine Teilsituation sj, für die gilt:

Für k sind in sj potente Proto-Agens-Eigenschaften impliziert, und sj liegt vor jeder Teilsituation si, in der für i potente Proto-Agens-Eigenschaften impliziert sind.

b) Wenn /kasi (i = 2, falls L eine Akkusativsprache, i = 1 falls L eine Ergativsprache) mit j koindiziert ist, dann gibt es in SIT-R kein Argument k (j k), für das insgesamt mehr Proto-Patiens-Eigenschaften und weniger oder ebensowenig Proto-Agens-Eigenschaften spezifiziert sind wie für j.

2. Wenn die SYN-VAL eines disambiguierten Verbs V nicht sowohl kas1 als auch kas2 enthält, dann ist die Koindizierung der Stellen von SYN-VAL mit den Stellen von SEM-VAL nur dann wohlgeformt, wenn gilt:

Wenn eine Argumentstelle j mit /kasi (kasi = ranghöchster Kasus in SYN-VAL) koindiziert ist, dann gibt es kein anderes Argument k und keine Teilsituation sj, für die gilt: Für k sind in sj potente Proto-Agens-Eigenschaften impliziert, und sj liegt vor jeder Teilsituation si, in der für i potente Proto-Agens-Eigenschaften impliziert sind. (224)




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Die Unterscheidung präsupponierter von implizierten Teilsituationen ermöglicht etwa bei beobachten (Beispiel 2b), dem Beobachter den Nominativ zuzuweisen. Dass der Beobachtete in der s1 die PAE «Aktivität» erhält, ist irrelevant, da s1 lediglich präsupponiert ist. Bei beobachten ist die Aktivität des Beobachteten vorausgesetzt, aber nicht Teil der Verbhandlung. Nur implizierte Teilsituationen wie die Teilsituationen von töten (Beispiel 2a) sind für das Linking relevant. Der Unterschied erklärt auch das Linking von antworten. Hier handelt es sich um eine markierte Valenz, die dadurch lizenziert ist, dass keinem Argument die Protopatiensrolle zugewiesen wird (191–197). «Kontrolle» und «Aktivität» des Fragenden sind lediglich präsupponiert:

(6) antworten SIT-R: s1 [ypräs-kontr.,akt, x präs-th] > s2 [xkontr,akt, yth]

Wie beobachten zeigt, schließt aber die Lizenzierung einer markierten Kasusfolge, nicht das Auftreten der unmarkierten aus.

Die Linkingprinzipien machen für Verben, die keinem ihrer Argumente potente Proto-Rollen-Eigenschaften zuweisen, z.B. Besitzverben oder Verben der unkontrollierten Wahrnehmung bzw. Empfindung, keine Vorhersagen (227). Anders als bei Primus werden damit von Verben wie gehören oder gefallen keine Linkingregeln verletzt. Die schwach potenten PAE sind nur insofern relevant, als in ein und derselben Sprache der oblique Kasus entweder dem nicht potenten Agens oder dem Thema vorbehalten ist. So besitze das Deutsche nur Dativ-Experiencer, aber keine Dativ-Stimulus-Verben, im Tonganischen sei es umgekehrt (228). Offensichtliche Ausnahmen von dieser Regel, wie zürnen oder grollen, sind nach Blume keine Verben unkontrollierter Empfindung, sondern Interaktionsverben, in denen der Stimulus in einer präsupponierten Teilsituation s1 aktiv ist. Ob dies auch für (ver)trauen gilt, ist allerdings fraglich. Dativ-Stimulus-Verben wie zugetan sein oder entgegenfiebern/streben/bangen sind wohl keine Interaktionsverben. Für die PAE «Interesse» weist Blume keine Linkingrelevanz nach.

Aus der grundsätzlichen Irrelevanz der PAE «Bewusstheit» für das Linking folgt, dass nicht-kausative Gefühlsverben mit Nominativ- (lieben), Dativ- (gefallen) und Akkusativ-Experiencer (interessieren) in gleichem Maße den Linkingregeln entsprechen (151). Dies ist unbefriedigend, da für nicht-kausative Gefühlsverben eine Grundabfolge Experiencer-Stimulus anzunehmen ist, was sich auch darin zeigt, dass Nominativ-Experiencer-Verben im Deutschen und Romanischen eine deutlich größere Gruppe bilden als Dativ- oder nicht-kausative Akkusativ-Experiencer-Verben. Primus hatte die semantischen Linkingprinzipien als verletzbare Regeln formuliert, die in einem Optimalitätsmodell mit morphosyntaktischen Prinzipien konkurrieren. Verben wie gehören oder gefallen verletzen Linkingregeln und erscheinen gegenüber besitzen und mögen markiert. Blume vermeidet die Verletzbarkeit ihrer Linkingprinzipien um den Preis, dass über das Linking von lokativen und symmetrischen Verben, von Gefühlsverben und Besitzverben nichts gesagt wird.




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Überzeugt die Arbeit hinsichtlich der semantischen Motivierung der Lizenzierungsbedingungen markierter Valenzen, so bleibt zumindest offen, ob die kargen Aussagen zum Linkingverhalten der entsprechenden Verben diese adäquat beschreiben. Vielleicht ist hier der optimalitätstheoretische Ansatz von Primus vorzuziehen. Dies kann letztlich nur im Sprachvergleich unter der Berücksichtigung großer Datenmengen geklärt werden. Diesbezüglich verspricht Blume etwas mehr als sie halten kann. Ihre Arbeit ist eher allgemein theoretischer als sprachvergleichender Natur. Sie illustriert ihre Überlegungen weitgehend am Deutschen und berücksichtigt andere Sprachen nur punktuell. Es bleibt den Lesern überlassen, sich eingehender mit den Daten aus dem Finnischen, Isländischen, Lateinischen, Polnischen, Rumänischen, Tschechischen, Ungarischen und Polynesischen zu befassen, die Blume in einem ausführlichen Anhang zusammengestellt hat.

Nichtsdestoweniger ist die Arbeit ausgesprochen anregend. Sie korrigiert die Ansätze von Dowty und Primus in einer Vielzahl von Detailpunkten. Die Hauptneuerung gegenüber diesen Ansätzen, die Anbindung der Rollenzuweisung an Teilsituationen, erscheint äußerst fruchtbar. Wer sich in Zukunft mit Fragen des Linkings beschäftigt, darf Blumes Arbeit nicht unberücksichtigt lassen.


Anmerkungen

1 Dowty, David (1991), "Thematic Proto-Roles and Argument Selection", in: Language 67/3, 547–619.
Primus, Beatrice (1994/1999a): Case and Thematic Roles. Ergative, Accusative, Active, Tübingen (Rezension Kailuweit, Rolf in: PhiN 16/2000, 87–92).
Primus, Beatrice (1999b): "Rektionsprinzipien", in: Wegener, Heide (Hg.): Deutsch kontrastiv: typologische und vergleichende Untersuchungen zur deutschen Grammatik. Tübingen, Stauffenberg., 135–170.

2 Jacobs, Joachim (1994): Kontra Valenz. Trier: WVT (Rezension Waltereit, Richard in: PhiN 4/1998, 53–59).

3 Engelberg, Stefan (2000): Verben, Ereignisse und das Lexikon. Tübingen: Niemeyer.

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