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PhiN 2/1997: 59




Stephan Porombka (Berlin)



Kammer, Manfred (1995): Literarische Datenbanken.
Anwendungen der Datenbanktechnologie in der Literaturwissenschaft
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München: Wilhelm Fink Verlag.



An der Universität von Columbia hat man unlängst eine 20 Millionen Dollar-Investition für den Ausbau der juristischen Bibliothek gestrichen und entschieden, das Geld sei besser in einem Supercomputer angelegt. Der gesamte Buchbestand soll vom Scanner erfaßt und digitalisiert werden, bevor die einzelnen Bände unter den Händen der Nutzer zerfallen. Aber wie muß eine so riesige Datenbank strukturiert sein, damit man sich in ihr orientieren kann? In welcher Form sollen die Texte aufbereitet werden? Soll man die Dokumente in der Datenbank nur abfragen oder auch bearbeiten dürfen? Und soll man neue Texte gleich in die Datenbank hineinschreiben und mit anderen verknüpfen können?

Der Wechsel von einem Medium ins andere, das lehren diese Fragen, ist reich an Voraussetzungen, die genauestens bedacht sein wollen. Denn gewechselt wird mit dem Code auch die Präsentationsform, die Zugriffsmöglichkeit und die Anforderung an den Benutzer. Mit diesen Problemen der Übertragung oder Konversion von Büchern in Computer werden sich in Zukunft nicht nur Informatiker zu beschäftigen haben. In die Pflicht genommen werden auch die, die sich traditionell mit der Informationsstruktur von Texten auseinandersetzen: die Philologen. Manfred Kammer jedenfalls sieht in der Modellierung von Datenbasen für literarische Speichersysteme eines der wichtigsten Aufgabenfelder für den Literaturwissenschaftler in einer Zeit, in der das bedächtige Gewicht der Bücher in die unglaubliche Leichtigkeit von Bits und Bytes verwandelt wird.

Literaturwissenschaftler sind ohnehin längst mit Computern vertraut. In allen Arbeitsgängen sind diese Geräte als Werkzeuge und Merkzeuge im Einsatz. Auf Festplatten werden Quellen gesichert, auf Bildschirmen werden sie präsentiert, mit Hilfe verschiedenster Programme analysiert, interpretiert und bewertet und schließlich über Datennetze weiter vermittelt. Durch die Konzeption von Datenbanken könnten diese Arbeitsgänge gebündelt, zur Edition komplexer historisch-kritischer Ausgaben genutzt und in kleineren und größeren Arbeitszusammenhängen oder eben zur Umwandlung ganzer Bibliotheken eingesetzt werden.

Im anglo-amerikanischen Raum, aber auch in Frankreich wird längst im größeren Maßstab an der Konzentration des literarischen Erbes in elektronischen Speichermedien gearbeitet. Für die deutsche Literatur ist ein gleiches Unternehmen noch nicht einmal in Sicht.


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Kammers Untersuchung gängiger Datenbankstrukturen läßt sich deshalb auch als Präliminarium für eine digitale Nationalbibliothek lesen. Nicht zuletzt aus diesem Grund vermeidet er jenen hellen und bisweilen grellen Klang, der derzeit den Einzug der Computer in die Literaturwissenschaft vielerorts begleitet. Gerade weil es um die Verwirklichung eines längst diskutierten Projekts geht, hält sich Kammer ans Mögliche und Machbare und stellt äußerst lehrreich Schritt für Schritt die Bedingungen für eine Aufbereitung gedruckter Texte in digitaler Form vor.

Volltextdatenbanken, relationale Datenbanken und Hypertextsysteme sind die Standardprogramme, die er auf ihr Potential und Limit hin untersucht. Da für Philologen vor allem ganze Texte als Gegenstände interessant sind, bietet sich die Volltext-Speicherung unmittelbar an. In die Dokumente selbst wird hierbei nicht eingegriffen: Die Datenbankentwickler halten sich mit wertenden Strukturierungen zurück, um den Text so weit wie möglich in seiner ursprünglichen Form zu belassen. Mit solchen Volltext-Datenbanken können sich die Literaturwissenschaftler allerdings nur die Sucharbeit nach Worten und Wortfeldern erleichtern. Die Texte sind untereinander nicht durch Querverweise verknüpft und so bleibt die Rückgewinnung von Information auf das linear Abgelegte beschränkt.

In relationalen Datenbanken dagegen wird dieser Zugriff auf ganze Texte unmöglich gemacht. Die Dokumente gelangen gar nicht mehr ins Blickfeld der Leser, sondern können nur durch Verwendung routinisierter Abfragestrategien und Zugangsformeln für Tabellen aufbereitet werden. Diese Strategien und Formeln sind vorab programmiert; sie können lediglich von denen unterlaufen und erweitert werden, die in der Lage sind, unterhalb der abgebildeten Oberfläche neue Abfragen zu programmieren.

Schließlich beschäftigt sich Kammer mit Hypertextsystemen, die er im Gegensatz zu Volltextsystemen und relationalen Datenbanken unmittelbar in geisteswissenschaftlichen Verfahren und Traditionen verwurzelt sieht. In Hypertexten werden einzelne Informationsbruchstücke untereinander verknüpft, so daß dem Benutzer eine nichtlineare Abfolge, eine Art Netzstruktur präsentiert wird, durch die er sich in selbstgewählter Richtung bewegen kann.

Hypertexte, meint Kammer, eignen sich deshalb zur Abbildung sogenannter memorialer Komponenten, die denen des menschlichen Gedächtnisses äußerst ähnlich sein sollen: denn im Kopf wie auch im Hypertext seien Erfahrungen nur bruchstückhaft gespeichert und so miteinander verbunden, daß sie assoziativ in immer neuen Zusammenhängen abgerufen werden. Assoziative Systeme, wie Hypertexte aufgrund dieser Leistung gern genannt werden, zielen dort, wo sie viele einzelne Gedächtnisleistungen miteinander verknüpfen, tendenziell auf die Verdopplung der Komplexität des kulturellen Gedächtnisses. Texte werden durch die Darstellung von Verweisstrukturen auf dem Bildschirm zu expliziten Kon-Texten, zu Inter-Texten, deren Anfang und Ende nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist.


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Kammer votiert für eine Kombination von Volltext-Speicherung, Relationierung und Hypertextualisierung in einer "Intelligenten Datenbank", in der die Beschränkungen der einzelnen Standardprogramme aufgehoben scheinen. Der Benutzer eines solchen Systems soll damit gleich mehrfach gegen die Überflutung durch Information geschützt sein. Allerdings weiß Kammer auch, daß das Gelingen des Versuchs, durch Speicherung auf Festplatte die Einheit der literarischen Vielfalt symbolisch wieder einzuholen, durch das neue Medium ernsthaft bedroht ist.

Denn unter der Hand wächst sich eine literarische Datenbank zu einer eigenen Form von Literatur aus, die mit den herkömmlichen Vorstellungen von Autor, Text und Leser - die für das eingespeicherte Ausgangsmedium Buch geradezu konstitutiv sind - nicht mehr so einfach zusammenpassen mag. In Datenbanken wird die Autorzentrierung zugunsten einer kollaborativen Autorschaft abgelöst, an der nicht nur die Verfasser von Texten, sondern eben auch die Programmierer und die Entwickler der Datenbasen beteiligt sind. Diese Kollaboration ist darauf angelegt, einen relativ starren - weil gedruckten - Text in Datenmaterial zu verwandeln, das weitgehend der Verformungslust des Rezipienten überlassen wird.

So scheint aber auf dem Weg in den Computer das verloren zu gehen, was man doch eigentlich hinüberretten will: die Texte in ihrer ursprünglichen Form und mit ihren ursprünglichen Anforderungen an den Leser. Ob man den Text nun durch neue Abfragestrategien und -formeln zum Geständnis zwingt oder ob man ihn in eine vermeintlich assoziative Umgebung einbettet, in der er selbst als Texteinheit gar nicht mehr zu erkennen ist - die Datenbank selbst ist immer schon auf der Ebene der Datenbasis und auf der Ebene der Präsentation am Bildschirm Ausdruck einer weitreichenden Interpretation, hinter die der Benutzer nicht zurückblicken kann.

Das ist für Kammer kein Grund, dort alle literaturwissenschaftlichen Begriffe zu verabschieden, wo man mit digitalisierten Texten zu tun hat. Allerdings gibt es auch keinen Anlaß, die Digitalisierung und Aufbereitung von Texten in Datenbanken als Ausdruck der Überlegenheit eines neuen Mediums zu feiern oder mit oft genug bloß herbeigeredeten Sachzwängen zu rechtfertigen. Eine Literaturwissenschaft, die gelernt hat, den Einfluß des jeweiligen Mediums bei der Interpretation mitzureflektieren, sollte sich um so bewußter und kritischer neuen Formen der Literaturzubereitung nähern, die ihren Gegenstand einer grundsätzlichen Revision unterziehen wollen. Freilich sollte sie auch nicht in das andere Extrem verfallen und das Speichermedium Buch als letztes Bollwerk gegen die Unkultur stilisieren.

Es gilt, sich nicht darauf zu beschränken, Philologen heranzuziehen, die in der Lage sind, für verschiedene Standardprogramme mit der von Kammer eingeforderten Redlichkeit Datensätze zurechtschneiden und programmieren zu können. Sondern es muß ein Instrumentarium entwickelt und gelehrt werden, mit dem auch literarische Datenbanken genau wie z.B. Plakattexte und Buchtexte des 18. Jahrhunderts, afrikanische Masken, Achterbahnen oder Fraktale als Artefakte interpretiert werden können, die Auskunft über die kulturellen Verhältnisse ihrer Zeit geben. Dazu müssen die Struktur der Ausgangstexte und die modellierten Datenbasen auf den Festplatten ebenso wie die Datenabbildungen auf dem Bildschirm, die zur Verfügung gestellten Abfragemuster, Verknüpfbarkeiten und Interaktionsmöglichkeiten in die Interpretation einbezogen werden.


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Unter Anwendung solch kombinierter Methodik, die im Schnittbereich von Literaturwissenschaft, Kulturinformatik, Medientheorie und Kunstgeschichte zu verorten ist, kommt dann nämlich nicht nur - wie bei Kammer - die Datenverarbeitung unter einem rein instrumentellen Gesichtspunkt der Repräsentationsmöglichkeit von Texten und den sich daraus ableitenden Möglichkeiten des Information Retrieval in den Blick. Ausmachen läßt sich dann auch, welche Wünsche und Hoffnungen in den konkreten Weisen der Aufbereitung und Aufbewahrung von Dokumenten Ausdruck finden und welche Drohungen und Ängste symbolisch abgewehrt werden sollen.


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