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Martin Klepper (Hamburg, Berkeley)


Renate Brosch (2000): Krisen des Sehen. Henry James und die Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Tübingen: Stauffenburg.


1 Visual Turn

An einer zentralen Stelle, ziemlich genau in der Mitte des Romans The Wings of the Dove (1902) springt Kate Croy ihrem heimlichen Verlobten, Merton Densher, bei, als dieser auf einer dinner party mit der Frage konfrontiert wird, wie gut er die geheimnisvolle (an diesem Punkt abwesende) Protagonistin Milly Theale kenne: "You're right," sagt sie zu ihm,

about her not being easy to know. One sees her with intensity – sees her more than one sees almost any one; but then one discovers that that isn't knowing her and that one may know better a person whom one doesn't 'see', as I say, half so much. (James 1984: 246)

Diese Reflexion über die potentiell paradoxe Beziehung zwischen Sehen und Kennen, Wahrnehmen und Wahrheit ist im Roman inmitten eines hochkomplexen Szenarios der gegenseitigen Beobachtung situiert: Merton wird von der Gastgeberin Maud Manningham, Kate Croys guardian und Tante, daraufhin ins Visier genommen, ob er weiterhin Interesse an ihrer Nichte zeige oder aber ein potentielles match für Milly sei; Kate steht ohnehin unter der routinemäßigen Beobachtung, oder besser: Observation, ihrer Tante, mit dem Ziel ihre Folgsamkeit, insbesondere im Hinblick auf eventuelle Fehltritte (von denen Merton einer wäre), sicherzustellen; Tante Maud selbst wird mehr oder weniger ängstlich von Kate und Merton im Blick behalten, um sowohl ihren Kenntnisstand als auch ihre kommenden Schachzüge zu kennen; Susan Stringham, Milly Theales Begleiterin, die Kates obige Verteidigungsrede ausgelöst hat und sozusagen als Millys Botschafterin beim Essen anwesend ist, wird von allen Beteiligten daraufhin beobachtet, was hinter Millys Abwesenheit stecken könnte; und Milly selbst wird von den Anwesenden sehr im Sinne von Kates Bemerkung in absentia observiert, was bei Mrs. Stringham eine Vorstellung von Milly als Märtyrerin in einer antiken Arena auslöst: "Milly's anxious companion sat and looked – looked very much as some spectator in an old-time circus might have watched the oddity of a Christian maiden, in the arena, mildly, caressingly, martyred." (James 1984: 246)

Die kurze Textpassage verweist schon auf einen großen Teil der Problematiken, die Renate Brosch in ihrer Habilitationsschrift Krisen des Sehen. Henry James und die Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert behandelt. Die Tatsache, dass eine kurze Textpassage reicht, um die Problemkonstellation eines Buches von über 500 Seiten Länge zu erfassen, sagt einiges über den Untersuchungsgegenstand aus, aber auch über die Untersuchung. Für den Untersuchungsgegenstand, das erzählerische Werk Henry James', sind Fragen der Wahrnehmung, der Beobachtung, des Blickes absolut zentral, ebenso wie dieselben Fragen der Perzeption, der Visualität, ihre Möglichkeiten und Fallstricke absolut zentral sind für das Selbstverständnis und die epistemologische Herausforderung des 19. Jahrhunderts.1




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Broschs Untersuchung verschweigt die Komplexität ihres Gegenstandes nicht, und obwohl sie sich auf Henry James und das Problem des Sehens konzentriert, entfaltet sie von hier aus immer neue Blickwinkel, immer neue Aspekte und Perspektiven der Wahrnehmung. Das Buch offeriert nicht ein Panorama des Sehens, sondern eine Multiperspektive aus Tableaus, 'a house with a million windows', um in James' Bildern zu bleiben, oder, um einen sinnlicheren Ausdruck zu gebrauchen: eine Symphonie der Blicke.

Renate Brosch hat selbst in einer anderen Veröffentlichung von einem "visual" oder "pictorial turn" bei Henry James gesprochen (Brosch 1999), einer Einsicht in die Wichtigkeit visueller Aspekte im Rahmen des Erkenntnisprozesses. Sie hat diese Einsicht in Verbindung gebracht mit unserem eigenen visual turn in der Theoriebildung, mit dem (im Anschluß an bzw. in Reaktion auf den linguistic turn) neuen Interesse an der Frage der visuellen Wahrnehmung, dem man bei Jonathan Crary, Michel Foucault, Martin Jay, Martin Meisel und W.T.J. Mitchell begegnet.2 Renate Broschs Studie partizipiert am visual turn und funktionalisiert die Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Sehen und Bildlichkeit im 19. Jahrhundert für ein tieferes Verständnis von Henry James' Werk. Die Einsicht, dass es bei James kontinuierlich um Wahrnehmung und Beobachtung geht, ist natürlich nicht neu. Über das Problem von Perzeption und Illusion hatte Tony Tanner schon 1985 geschrieben: "... a problem that will occur in much of James's fiction in which perception and illusion feed into each other in the most problematic ways." Und dabei konzentriert sich das Interesse immer mehr auf die Beobachterfigur: "the drama of consciousness of the observer." (Tanner 1985: 11, 16) Krisen des Sehens bindet dieses Drama, das sich in James' Erzähltexten abspielt, an die Kultur der visuality im 19. Jahrhundert zurück. Das Buch lässt dadurch einerseits die Problemkonstellation, die James' Texte verhandeln, viel deutlicher als gewöhnlich hervortreten und lässt andererseits die Texte selbst vor diesem Hintergrund eine neue plastischere Kontur gewinnen.


2 Symptome

Kehren wir noch einmal zur eingangs zitierten Textpassage zurück. Sie wirft eine Menge von Fragen auf, die uns in die Textur von Broschs Untersuchung führt. Was meint Kate, als sie versucht den Blick, zu dem Milly einlädt, zu beschreiben: "One sees her with intensity – sees her more than one sees almost any one ...." Wie sieht man mit Intensität oder ohne Intensität? Wer sind die Beobachter, inwieweit beobachten sie heimlich oder sogar bösartig, wie es das Bild von der Märtyrerin in der Arena insinuiert? Inwieweit beobachten sie wie Zuschauer in einem Zirkus? Inwieweit versuchen sie, den Blick der anderen abzuwehren, wie Millys angebliche Undurchdringbarkeit und Kates Hilfeversuch für Merton andeuten? Wer oder was wird eigentlich beobachtet? Ist es Milly, die als kranke (und ihre Abwesenheit kündet von ihrer Krankheit!) schöne Frau eine klassisch-viktorianische Ansicht vor allem für männliche Blicke abgibt? Oder trifft die Beschreibung nicht vielmehr auf Kate selbst zu, die auf Grund ihres Geschlechts gezwungen ist, ein bestimmtes Bild von sich nach außen zu projizieren, das in der Tat anders ist als das, was sie den Betrachter nicht sehen lässt? Ist das Bild, das wir als Leser in dieser Szene sehen, analog zu Susan Stringhams Vorstellung eines römischen Zirkus: geht es um eine theatralische Szene mit Raubtieren, die aufeinander lauern? Was ist die Konsequenz, wenn sich das Betrachterobjekt, Milly, sozusagen vor dem Auge verflüchtigt, so dass man andere, die man "weniger" sieht, besser kennt? Was besagt dies für uns als Beobachter und für das Beobachten? Und schließlich: wenn das Sehen, so wie Susan es in ihrer Zirkusmetapher charakterisiert, ein Spiel auf Leben und Tod ist, wer hat dann die Macht in diesem Spiel, in dem der Zusammenhang von Sehen und Erkennen offensichtlich nicht mehr gegeben ist?




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All diese Problemkomplexe werden in Broschs Studie ausführlich analysiert und in Beziehung zu insgesamt 27 Texten von Henry James gesetzt. Die Verfasserin geht dabei von einer fundamentalen Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert aus, die in der Tat in vielerlei Hinsicht zu 'Krisen des Sehens' geführt hat. Diese Veränderung drückt sich in unterschiedlichen Symptomen in den verschiedensten Bereichen aus. Jonathan Crary hatte den Wandel schon auf der Basis der Bedeutung bestimmter (heute zum Teil völlig vergessener) optischer Geräte gezeigt: die Wandlung von der camera obscura über das Panorama, das Diorama, die Photographie, die Entwicklung von Thaumatrop, Phenakistiskop, Stereoskop bis hin zum Film (Crary 1996 19, 37–73, 103–140)3. Martin Jay hatte die zunehmende Privilegierung des Sehsinnes in der Philosophie der Moderne nachvollzogen, um, ähnlich wie Renate Brosch, von einer "Crisis of the Ancien Scopic Régime" im 19. Jahrhundert zu sprechen. (Jay 1993: 21–210) Kunstkritiker haben die Verabschiedung der Zentralperspektive in der Wende zum Impressionismus nachgezeichnet, Philosophen die Dynamisierung der Wahrnehmungsvorstellungen bei Bergson und William James. Intellektuelle wie Benjamin und Simmel haben ein neues Raumgefühl in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts beschrieben, das auch in der relativ jungen Wissenschaft der Soziologie reflektiert wurde. Und Physiker haben neue Erkenntnisse über die Relationalität von Wahrnehmung, Raum und Zeit formuliert, die am Ende Einsteins Relativitätstheorie hervorbringen sollten. Diese Phänomene gehen auf denselben Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung zurück, auf dem auch Henry James' Obsession mit Beobachtern und Perspektive gedieh. Renate Brosch beabsichtigt, James' Texte konsequent als literarische Umsetzung dieser neuen Konzepte der Wirklichkeit und der Subjekte der Wirklichkeit zu begreifen und nicht, wie oft in der Sekundärliteratur geschehen, als 'psychologische Romane'. Für James wird das Bewußtsein zum Theater dieses Wandels, indem es mit der Metapher und Metonymie der bildlichen Wahrnehmung und deren Prozeß vorgestellt wird. Damit wird die Wahrnehmung von James' Beobachtern zum zentralen Kreuzungspunkt der moralischen Mission des Meisters, der Psychologie der Figuren und der visuellen Kultur seiner Zeit.

Renate Brosch organisiert ihre Studie (im Anschluß an die Einleitung) in fünf großen Kapiteln: Zunächst geht es um die Möglichkeiten des Blicks: gaze oder glance. Danach um den Betrachter: den imaginären und heimlichen Betrachter, den Konsumenten, den Flaneur, den Fenster- und Balkonschauer. Im dritten großen Kapitel, das die Betrachter-Gegenstand-Relation zunächst abrundet, werden die Wahrnehmungsobjekte analysiert, die bühnenhaften tableaux, die Bildkonstruktionen von Frauen, die viktorianischen Interieurs. Im vierten Block wird die zunehmende Fragmentierung und Verflüchtigung des Sichtbaren untersucht und das letzte große Kapitel wirft einen abschließenden Blick auf das Problem der Macht. Insgesamt entsteht so fast eine kleine Enzyklopädie des Schauens im 19. Jahrhundert, von der man auch, ganz abgesehen von Henry James, einiges lernen kann, aber gleichzeitig auch eine Einführung ins Werk von James, die dessen literarische Kunst vor dem visuellen 'Panorama des 19. Jahrhunderts' entfaltet.


3 Perspektive

Am Anfang steht eine Analogisierung der Zentralperspektive, die in der westlichen Kunst seit Alberti und bis ins 19. Jahrhundert hinein gilt, mit dem (entkörperlichten) auktorialen Erzählen, das Teil des realistischen, illusionistischen Konsenses im 19. Jahrhundert war:




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Wie der implizite Betrachter in der Kunst, so hat der Erzähler des realistischen Textes die Aufgabe, das Medium zu homogenisieren. Er steht außerhalb der dargestellten Welt, aber innerhalb desselben Kontinuums. Seine narrative Perspektive etabliert eine zeitliche Kontinuität zwischen dem Erzähler und dem Erzählten. Damit wird ein ähnliches Potential für Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungszentren geschaffen wie in der auf den impliziten Betrachter ausgerichteten Malerei. Besonders der auktorial erzählte Roman des 19. Jahrhunderts eignete sich für die Vermittlung eines unendlich tiefen Normenraumes, der als Grundannahme hinter den häufig entpersonalisierten Erzählerfiguren stand. Der Normenraum galt nicht primär als persönliche Ansicht dieses Erzählers. Seine entkörperlichte Präsentation verwies auf einen weit über die Welt des Romans hinaus gültigen Wertehorizont.

Der Blick des Betrachters aufs Bild und der Blick des Erzählers oder der Reflektorfiguren auf die fiktionale Welt stehen im Zentrum von Broschs Interesse. Die Geschichte, die sie erzählt, handelt von der zunehmenden Bedeutung der Position des Betrachters: "Die Veränderung des Konzeptes der Wahrnehmung ist durchaus als Weiterführung der Subjekterhebung in der Romantik zu sehen." (36) Diese Autonomisierung des Betrachter-Subjekts bringt eine vermehrte Reflektion auf die Medialität und Zeichenhaftigkeit des Wahrnehmungsvorganges mit sich4, die sich in Bildexperimenten ausdrückt: "Die Heraushebung des vermittelnden Mediums Leinwand und Farbe hob die illusionistische Annahme eines Fensters in eine andere Welt auf. [...] Über eine Verselbständigung der Forminhalte vollzog sich eine Umkehr der Prioritäten, die am Beginn des 20. Jahrhunderts in die Nicht-Gegenständlichkeit führen konnte." (40) Die Betonung der neuen "relativistischen Konzeption des Wahrnehmens" (41) führt letztendlich zu der Einsicht, dass das sehende Subjekt "aktiver Produzent seiner visuellen Erfahrung" ist (42). Künder dieser Geschichte ist unter anderem Manet, der mit teils aperspektivischen Bildern mit impliziten oder expliziten Betrachtern die Reziprozität des Blicks reflektierte, wobei dann auch Machtstrukturen und geschlechtliche Differenzen völlig offensichtlich zu werden beginnen (ein gutes, von Brosch diskutiertes Beispiel ist sein "Bar aux Folies-Bergère (1881/82) http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/manet/manet.bar.jpg).

Die Thematisierung des Betrachters im Impressionismus findet sein Pendant in James' Reflektorfiguren: "Der Wahrnehmungsprozeß wurde problematisiert durch Einschränkungen des point of view durch Zwischenschaltung eines stellvertretenden Betrachters im Text." (43) Auch in der sprachlichen Umsetzung beginnt eine Auseinandersetzung mit dem 'Material': "Die Literatur lotete jetzt stärker die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache aus. Sie rückte damit das Textkonstrukt in den Mittelpunkt und ließ es selbst-referentiell werden." (44) Wie bei Manet treten damit auch die perzeptorischen Implikationen von Macht und Begehren ungeschminkt in den Vordergrund:

Die Veränderung des Verhältnisses zwischen Betrachter, Objekt und Prozeß bedeutet einen Zusammenschluß der Teile, das Subjekt wird untrennbar in der literarischen Darstellung vom Vorgang seiner Wahrnehmung und damit von den Inhalten seines Bewußtseins. Zwischen Subjekt und Objekt entwickelt sich eine komplizierte Vernetzung, die Macht und Begehren auf eine visuelle Ebene verlagert. Man könnte diese Veränderungen in der Literatur als James' phänomenologische Revolution bezeichnen. (45)
Der Schritt von der Zentral- zur eingeschränkten Perspektive bedeutet eine Revolution in der Beobachtung individueller Bewußtseinstätigkeit.




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4 Blicke

Sie ist inzwischen in aller Munde, die Unterscheidung von gaze und glance, die Norman Bryson in die Kunstbetrachtung eingeführt hat. (Bryson 1987: 87-132, vgl. Brosch Krisen: 47ff.) Dabei beschreiben die zwei Begriffe im Grunde eine vierfache Differenz: perspektivisch (Zentralperspektive vs. eingeschränkte Perspektive), historisch (romantischer Gesamt-/Überblick vs. modernistischer Ausschnitt), hierarchisch (Herrschaftsblick vs. subversiver Blick) und geschlechtlich (männlich vs. weiblich). Der gaze, anhaltender, objektiver, vereinnahmender Herrschaftsblick, gehört eher zur 'panoramatischen Wahrnehmung' des frühen 19. Jahrhunderts, der glance, seitlicher, heimlicher, prozesshafter und heteronomer Blick, passt eher zur 'kinematographischen Wahrnehmung' der Jahrhundertwende. (Grossklaus 1993, vgl. Brosch Krisen: 81) James' Obsession mit Blickbeschreibungen und die Häufigkeit, mit der er speziell Blicke auf Gemälde an zentralen Stellen seiner Texte einsetzt, macht einen Vergleich möglich. Und in der Tat sieht Renate Brosch eine analoge Entwicklung:

Nirgendwo sieht man seine Entwicklung deutlicher als in den unterschiedlich gestalteten Momenten vor dem Bild. Die frühesten Beispiele gehen vom Konzept der künstlichen Perspektive aus: Ein urteilsfähiges Subjekt steht vor einem aussagefähigen Bild. Es braucht lediglich den Moment der Zusammenführung beider, um Erkenntnis herzustellen. In diesem ersten Stadium der problemlosen Referentialität wird ein verstecktes Wissen über die dargestellte Person dem Medium Bild entrissen. [Bsp.: "The Story of a Masterpiece", M.K.] In James' mittlerer Phase, die bereits das Interesse stärker auf den Betrachter verlagert, funktioniert das Bild als Handlungskatalysator und Symbol. [Bsp.: The Sacred Fount, M.K.] In den späten Werken liefert das Gemälde Anlaß zu einer höchst zweifelhaften und nur noch in ihrer bewußtseinsmäßigen Konsequenz erfaßten Erkenntnis des Betrachters über sich selbst [Bsp.: Wings of the Dove, M.K.]. (Krisen: 70)

Die Entwicklung von James' Blickweisen vollzieht eine kulturgeschichtliche Entwicklung nach. Der gaze, intensiver, langanhaltender Blick wie der, den Kate Croy im Hinblick auf Milly Theale beschreibt, dringt in den späteren Werken nicht mehr zum Erkennen durch. Der panoptische Blick, der noch im Rundblick des Panoramas von Daguerre und anderen "die vorher ungeordneten Strukturen der Welt" klärte (Krisen: 81, vgl.: http://www.sav.org/e/panorama.html - anchorpan06), fällt der Erkenntnisskepsis zum Opfer.

In James' früher Phase haben die statischen, aussagekräftigen Anordnungen und der appropriierende Blick darauf durchaus noch ihre Funktion. Brosch zeigt an mehreren Beispielen, vor allem aber in einer glänzenden Analyse der Blicklinien in Portrait of a Lady (Kapitel 2.3.), wie James diesen Blick funktionalisiert. Insbesondere Abschnittsanfänge werden oft als immobiles Standbild gestaltet: "wie im tableau vivant wird eine Stille und Immobilität über Figuren und Kulisse gebreitet, die hier als Startpunkt und Anhaltspunkt für die weitere Entwicklung dient." (104) "Jedesmal nimmt der Erzähler Abstand und betrachtet die bereits bekannten und die unbekannten Charaktere wie Figuren in einem Gemälde." (105) Auch die zentralen Momente der Erkenntnis, sei es Isabels 'Erkennen' von Osmonds und Mde. Merles Verhältnis in einer genrebildartigen Anordnung, sei es die Erkenntnis über wahre oder falsche Lebensstile auf seiten der Rezipienten durch den Blick in ein Interieur, über eine Schwelle oder auf ein Gebäude, auch diese Momente führen noch durch den intensiven Anblick direkt zum Erkennen und Verstehen.




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Und doch, so zeigt Brosch, ist ein Umschlagspunkt in Portrait of a Lady angelegt: Isabel wird immer wieder auf Schwellen, an Fenstern – eingerahmt sozusagen – gezeigt und auch ihre eigenen Momente der Erkenntnis finden gerade da statt, wo ihr Blickfeld eingeschränkt ist. Damit erhalten die statischen Ansichten "eine weitere Bedeutung, die James in späteren Werken noch stärker in den Vordergrund treten lassen sollte: Wirkliche Erkenntnis ist nur möglich durch eine radikale Einschränkung des Blickfeldes." (117) Rückzug ist in Portrait positiv und negativ konnotiert: er beschränkt die Freiheit, gleichzeitig ermöglicht er Erkenntnis.

Eine spätere Phase in James' Beschäftigung mit dem Blick wird natürlich durch die Photographien für die frontispieces der New York Edition (1907–09) repräsentiert.5 Fünfundzwanzig Jahre nach Portrait wendet sich James in den Bildern wieder Schwellen (Türen, Tore, Bögen, Fenster, Brücken) zu. Stärker noch als in den narrativen Bildern im Roman von 1884 wirken die Photos stark symbolhaft. Sie unterstreichen das konventionelle, das zeichenhafte des Blicks. Sie markieren den Eingang in den Text. "Die Illustrationen nehmen auf den gerichteten Betrachterblick Bezug und verwenden eines der wichtigsten Symbole des Textes, das auf die Grenze zwischen zwei Welten verweist." (95) Gleichzeitig sind manche Bilder durch Dunkelheit, Nebel oder Belichtung unscharf oder betonen Flüchtigkeit bzw. Dynamik (vgl. http://www.geh.org/alcoburn/htmlsrc/m8121430003_jpg.html)6. Während beim früheren 'panoramatischen' Blick die Wahrnehmung (und die dadurch stattfindende Erkenntnis) noch vom Bildgegenstand aus gedacht wird, wird bei diesen, eher 'kinematographischen' Blicken die Wahrnehmung (inklusive Erkenntnis) eher von einer untrennbaren Betrachter/Objekt-Relation her gedacht. Die cultural literacy – und die Phantasie – der Betrachter wird bewußt eingeplant, sie müssen das nicht Bezeichnete hinzufügen:

Im Laufe seiner Entwicklung hin zum Stil des Spätwerks schuf James eine Sprache, die das Konkrete und Eigentliche vermeidet und das Ungesagte und Verschobene metaphorisch umkreist. Die Photos, die er mit Coburn zusammen erarbeitete, rücken eine solche Verschiebung in den Vordergrund, sie zeigen ein Bemühen, das erwartete Motiv zu vermeiden. Und sie zeigen offensichtlich bewußt nur den Teil des Ganzen ... (94)


5 Voyeur, Flaneur, Aristokrat

Wie die Einstellung des Blicks so unterliegt auch der Betrachter einem Wandel.7 Zunächst muss sich eine Kultur überhaupt über die Beteiligung, die Signifikanz des Betrachters klar werden, um ihm einen eigenen Raum zu geben. Brosch sieht den Auftakt für diese Entwicklung in dem viel diskutierten Gemälde "Las Meninas" von Velázquez (http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/velazquez/velazquez.meninas.jpg).8 James folgt Velasquez in der expliziten Thematisierung des Betrachters: "James' zentrales Thema war Sehen und Erkennen. Das Beobachten liegt daher vielen seiner narrativen Texte zugrunde und führte zu einer besonderen Gestaltung von Betrachtern im Text. ... James hat für die Produktionsästhetik der Literatur ein Bild entwickelt, das die Figur des abseits stehenden Beobachters wiederholt." (122) Auch in der Theorie hat James mit dem Umschlagspunkt "The Art of Fiction" das "historiographische Modell des Romans durch ein perzeptionspsychologisches" ersetzt (123).




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Wie Brosch in einem spannenden Überblick über Wahrnehmungsdiskurse im 19. Jahrhundert zeigt, setzt James damit um, was auch in anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen an die Oberfläche drängte. In den Naturwissenschaften entsprach "Lockes separate Anordnung von Sinneseindrücken, auf die ein cartesianischer Betrachter konzentriert ist" nicht mehr der naturwissenschaftlichen Forschung (127). Ampère zeigte, dass Wahrnehmung auf Gedächtnis beruht. Die Kunsttheorie nahm von der Einsicht individueller, unterschiedlicher Betrachtung ihren Ausgang: "Der Kunstpapst der Viktiorianer, John Ruskin, sah schon in Modern Painters Kunst konsequent als Resultat der Wahrnehmung." (129) Entsprechend rückte die perzeptualistische Kunsttheorie "die Produktivität des Betrachters in den Vordergrund, indem sie einen essentiell initimen und privaten Akt des Malers zum Zentrum der Bildproduktion und -rezeption machte." (131) Kein Wunder, war James doch, wie er in einem Vorwort schrieb, in Bezug auf Protagonisten an "intense perceivers" interessiert. Die verstärkte Interaktion über Blicke hat auch etwas mit der Emergenz der Massenschaftgesellschaft zu tun. Dadurch wird das Sehen immer wichtiger: "An dieser Konzentration auf den Betrachter hatte James nicht unwesentlich Anteil, er machte den Betrachter zu einem 'stock character'. [...] James definierte auch den Realismus neu als betrachterabhängig." (137)

In den frühen Romanen (in denen noch eine externe Fokalisierung dominiert) benutzt James oftmals imaginäre Betrachter, mit Formeln wie: "even the most superficial observer would have perceived ...". Zum Teil gibt es aber auch schon in der frühen wie in den späteren Phasen ganz offen heimliche Beobachter – oftmals (wie in "The Liar") von einem Balkon oder einer Galerie –von deren Warte aus wir die fiktionale Welt betrachten: "Der Betrachter sieht fast immer die Intimität zweier anderer Personen, aus der er ausgeschlossen ist; mit anderen Worten, er erfaßt im Anblick zweier Menschen deren Betrug an ihm selbst. Es ist also fast immer eine schmerzliche Erkenntnis, die aus dem Anblick resultiert. [...] James' voyeurhafte Betrachterfiguren sind Betrogene, denen wie Miles Coverdale in Hawthornes The Blithedale Romance das Beobachten und Verzichten gefällt." (147) Neben dem voyeuristischen Blick des männlichen Beobachters gibt es aber auch genügend heimliche weibliche Beobachterinnen, die allerdings "nicht dieselbe Freude am Schauen als Teilnahmeersatz entwickeln." (155) Fast immer bewirkt der Blick auf eine bestimmte Szene einen Umschwung im Bewußtsein und in The Portrait of a Lady ist er obendrein Auslöser eines Wandels der Erzählsituation: von der auktorialen (omniszenten) zur personalen (center of consciousness). Fast immer ist jener Blick entlarvend: "Das Bild [Osmond and Merle] ist ein Emblem des Betrugs, die Beobachtung einer unzulässigen und den Beobachter ausschließenden Intimität, ähnlich wie es in The Ambassadors, The Wings of the Dove und The Golden Bowl wiederholt wird." (154)

In einem weiteren brillanten kulturgeschichtlichen Überblick nimmt Brosch einen zentralen zusätzlichen Aspekt des Betrachtens im Viktorianismus auf: die entstehende Reise- und Konsumkultur (157–178). Die Verfasserin streift die Erfindung des Kaufhauses (das Bon Marché in Paris, 1869-87), die Erbauung von Passagen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das aufkommende Phänomen des Flaneurs, dessen Erbe (man denke an Poes "The Man of the Crowd"!) schließlich der Detektiv sein wird. Nicht zu unterschätzen für den Wandel der Wahrnehmung war natürlich die Erfindung der Eisenbahn. Für den Reisenden bietet diese Art des dynamischen Betrachtens den absoluten Verlust an Tiefenschärfe: "Es ist das Ende des Vordergrunds." (173)9 Gleichzeitig erschließt die Eisenbahn den Raum für den Konsum: der Tourismus (Thomas Cook lässt grüßen) ist die Folge: "Beides, organisierte Tour und Kaufhaus, sind Erscheinungsformen der Eroberung neuer Räume durch visuelles Erleben. Der Betrachterblick wird aufgewertet. [...] Abgewertet wurden dagegen die Objekte der Wahrnehmung selbst, denen man am besten mit Distanz und Indifferenz begegnete." (177f.)




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Wie sich James – analog zu Künstlern wie Manet oder Caillebotte – an diesen Wandlungen abarbeitet, zeigt Renate Brosch in einer ausführlichen Würdigung von The Ambassadors (1903). Strether verkörpert für Brosch das Drama des modernen Betrachters: "Als Tourist und Flaneur spaziert Strether durch diese Stadt wie durch endlose Schaufensterauslagen, die ihn verlocken und 'demoralisieren'." (179) Brosch zeigt, wie sich drei Weltanschauungen gegeneinander ausspielen, die jeweils von einer bestimmten Betrachterhaltung markiert werden: eine ästhetizistische (Strether), eine puritanische (Woollett) und die neue Konsumkultur. Strether scheitert an seinem Verlangen nach klaren und isolierten Bildern, er "versucht die Welt zu lesen wie einen klassisch-realistischen Text" (186) und sehnt sich nach romantischer Überschau (dem erwähnten panoramatischen Blick): "Wenn das betrachtende Subjekt sich bewegt, wie Strether durch Paris, dann werden die Bilder flüchtig, und James spielt auf die neuen Darstellungskonventionen der Impressionisten an. Erkenntnis ist aber immer nur möglich, wenn Strether in arretierten Positionen verharrt und Distanz zwischen sich und die Wahrnehmungsobjekte legt." (190) Diese Distanz hat er vom Balkon oder vom Fenster, seine Lieblingsposition, weshalb auch die Gestaltung der Penguin-Ausgabe (von 1986) mit G. Caillebottes "Homme nu-tête vu de does à la fenêtre" gut gewählt ist (siehe http://images.amazon.com/images/P/0140432337.01.LZZZZZZZ.jpg).

Caillebottes Bild reiht sich in eine ganze Serie zeitgenössischer Fenster- oder Balkonbilder ein, bei denen auch ein Betrachter repräsentiert ist: "Die komplizierte Situation eines Menschen darzustellen, der, von einem Innenraum betrachtet, durch ein Fenster oder von einem Balkon ins Freie blickt, setzt eine differenziertere Stufe des Verhältnisses zu den Raumschichten und eine komplexere optische Erfahrungswelt voraus. Das Motiv des Innenraumfensters entsteht aus einem neuzeitlichen Bewußtsein der Komplexität des Innenlebens eines betrachtenden Subjekts. Erst seit der Romantik beinhalten diese Gemälde Rückenfiguren, die den Bildbetrachter im Bild vertreten." (197) Freilich bedeutet das, dass Strether in der entlarvenden Szene, in der er Chad und Mde. de Vionnet von einem erhöhten Standpunkt aus sieht, gleichzeitig in der Erfassung seiner bisherigen Blindheit repräsentiert werden muss: "Der Text teilt die Sehnsucht seiner Hauptfigur nach der romantischen Überschau aus erhöhter Perspektive und nach geometrischen Ordnungen der Totale und macht zugleich klar, wieviel schwieriger Erkennen unter den Bedingungen der Moderne geworden ist." (196) James selbst hatte zwar einen Blick für die neue dynamische und öffentliche Kultur des Auges, war aber wohl doch eher einer distinguierten aristokratischen Kultur verhaftet, in der die Wahrnehmung einer privateren und zurückgezogeneren Aktualisierung von traditionellen Codes überlassen blieb.

Ein weiteres zeitgenössisches Bild, Manets "Der Balkon" (http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/manet/manet.balcony.jpg) gemahnt eher an Problemkonstellationen, wie sie in The Wings of the Dove (1902) verhandelt werden. Es geht in Manets Bild ganz offensichtlich um den geheimnisvollen, undurchdringlichen Blick, der den gaze des (männlich codierten) Betrachters abwehrt, oder ihm zumindest standhält: um Blickabwehr also. "Das Besondere am Bild, wie eben auch am Text (The Wings of the Dove, M.K.) von James, ist, dass es die Konvention eines selbstverständlich vorausgesetzten männlichen Betrachters durchbricht." (208) Wie wir schon an der eingangs zitierten Textpassage gesehen haben, werden Blicke in diesem Roman tatsächlich zur fast gladiatorenhaften Schlacht. Mit Wings, so Brosch, analysiert James hierarchische Relationen und kehrt sie um: "Reaktionen auf Observation und Disziplinierung im öffentlichen Raum sind Kommunikationsverzicht und Inszenierung. James gestaltet, wie Manet in seinen Bildern, eine Problematisierung der hierarchischen Blickordnung." (208f.) Betrachter und Betrachtete sind somit zu vollständig aktiven Akteuren geworden.




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6 Szene – Objekt

Es erstaunt so nicht, dass die Verfasserin ihren Abschnitt über die Wahrnehmungsobjekte mit einem Kapitel über das Theater (4.1. "Theatralische Konfigurationen") beginnt. Dieser Schachzug lässt erst gar keinen Zweifel aufkommen, dass Wirklichkeit nicht mimetisch, sondern zeichenhaft zu lesen ist. Brosch interpretiert die Dramaturgiegeschichte des Viktorianismus vor Richard Sennetts Theorie der Wandlung vom öffentlichen Menschen zur Privatperson im Rahmen von Säkularisierung und Verbürgerlichung. Entsprechend wandelt sich auch das Konzept künstlerischer Tätigkeit: Expressivität und persönliche Glaubwürdigkeit werden zu wichtigen Eigenschaften der Schauspieler. Die Gefühlslandschaft wird bei Höhepunkten in expressiven Standbildern ausgedrückt, was wiederum auf die Herkunft auf von James' Tableaus bei Roman- und Kapitelanfängen verweist!

Diese Professionalisierung der visuellen Signale wurde durch technische Dynamisierung (versenkbare Kulissen, Vorhang im hinteren Teil der Bühne) weiter ausgebaut. Gleichzeitig wird der Zuschauer zum reinen Betrachter: "Es bildete sich ein ganz neuer Typus des Zuschauers heraus. Um 1870 war das Publikum gesitteter geworden. War es früher möglich, im Theater fröhlicher Geselligkeit zu frönen und das Bühnengeschehen zu ignorieren, das Dargebotene laut zu kommentieren oder auch durch frenetischen Applaus die Schauspieler zu mehrfachen Wiederholungen einer Szene zu zwingen, so galt nun Reden im Theater als schlechter Stil." (240) Und weiter: "Das ehemals hell ausgeleuchtete Auditorium versank im Dunkel, so dass die Gefühlsregungen der Zuschauer auch dadurch nicht mehr sichtbar wurden. Die Theaterpraxis ist damit geradezu ein Emblem für die von Sennett postulierte Spaltung der Gesellschaft in Akteure und Zuschauer." (242) Seit den 90er Jahre setzt sich (Shaw, Ibsen) das moderne naturalistische Drama durch: "Diese Dramen gingen von einer konventionellen Konstellation aus, die im Laufe des Stücks demaskiert und damit unmöglich gemacht wurde." (243) Damit "endete auch die Mode der tableaux in der Aufführung, d.h. das Prozessuale wurde gegenüber dem Statischen aufgewertet." (244)

Die Ausrichtung und Beziehung von Betrachter und Betrachtungsgegenstand nimmt mithin im Theater einen analogen Weg zu der von James vollzogenen Entwicklung. Überraschend ist das nicht; und zwar nicht allein deshalb, weil James sich ja selbst als Theaterautor versuchte, sondern weil das Theater – zumindest wenn man Dietrich Schwanitz folgt – in paradigmatischer Weise die Spektakularität und Theatralizität der Wirklichkeit, die in der modernen Welt durch einen Zugewinn an Reflexivität gesehen wird, vorführt.10 Dieser 'bühnenhafte' Blick auf die Wirklichkeit bereitet in bestimmter Weise James' Wandlung vom Realisten (bei dem sich Tiefe und Oberfläche noch vollständig ergänzen) zum Modernisten (bei dem die Oberfläche nur eine perspektivische und womöglich falsche Ansicht der Tiefe gibt) vor. Umschlagpunkt ist für Brosch hier James' politischster Roman: "Was am Schluß von The Princess Casamassima bleibt, ist die Allgegenwart des Theatralischen im gesellschaftlichen Leben." (249)

Neben der Inszenierung des Betrachtergegenstandes gibt es noch zwei Aspekte der dargestellten Wirklichkeit, die für den Viktorianismus und für James besondere Bedeutung hatten: die Frau als Betrachterobjekt (man denke allein an die Titel Daisy Miller und Portrait of a Lady) und Architektur und Interieur als Bedeutungsträger. Immer dann, wenn Renate Brosch wie hier über die bildende Kunst oder Architektur schreibt, liest sich ihr Buch wie ein Krimi. Sicherlich hat sie Elisabeth Bronfen (1994) und John Berger (1995) zur Verfügung, aber dennoch zeugt ihre Synthese aus gender-sensibler Analyse, Analyse der Machtstrukturen im Bild (was natürlich part and parcel des ersteren ist), Aufzeigung der Entwicklung der Perspektive, Untersuchung der Entwicklung und Akzentuierung der genres in der Malerei und James' Verhandlung dieser kulturellen Versatzstücke in seinen Romanen von großer Klasse.




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Die hundert Seiten zu "Bildkonstuktionen von Frauen" und "viktorianischen Interieurs", die jeweils auch eine kurze Geschichte von Genremalerei (und deren Kritik bei Manet), des Museumsraums und der Einrichtung enthält, können hier nicht angemessen gewürdigt werden. Erwähnt seien nur einige grobe Linien:

Grundsätzlich sind im Viktorianismus die Männer die Beobachter, die Frauen die Betrachtungsobjekte (vgl. Newman u. Claire, Winterbourne u. Daisy, Ralph u. Isabel), und das hat System: "In das seit der Renaissance vorherrschende Mimesis-Konzept ist Geschlechterdifferenz strukturbildend eingeschrieben. Die 'männliche' Position des Künstlers und eingeweihten Kunstbetrachters geht von einem Sehen aus, das die betrachteten Gegenstände auf sich selbst bezieht und sie nach eigenen Notwendigkeiten deutet. Diese Art zu sehen, der gaze, wurde durch die neuzeitliche Zentralperspektive gefördert." (255) Dabei kommt es zunehmend – vor allem durch die Abdrängung der Frau in den Privatbereich und die Negierung weiblicher Sexualität – zur Pathologisierung, Psychologisierung und Hysterisierung, die Frau wird zum Krankheitsbild: Leidensgenossinen von Charlotte Perkins Gilmans Erzählerin sind eben schon James' todgeweihte Frauen von Daisy Miller bis zu Milly Theale.

Durch das Verbot von offen gezeigter Sexualität wird jede Geste, jedes Accessoire zum interpretierbaren Zeichen: eine offensichtliche Fetischisierung. Dies wiederum lädt den männlichen gaze nur ein – in Daisy Miller ist es ein Fächer, der so zum (fehlinterpretierten) Zeichen wird. (276) Später – und interessanterweise eben auch durch die Ablösung der Zentralperspektive und den Übergang zum perspektivierten Blick – wird dieses Phänomen in der Kunst bewußt demaskiert: Brosch führt u.a. Manets "Le déjeuner sur l'herbe" an (http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/manet/dejeuner/manet.dejeuner-sur-herbe.jpg). Eine ähnliche Blickanalyse findet natürlich auch in dem schon erwähnten "Le Bar aux Folies-Bergère" statt. Analoges zeigt Brosch in Portrait of a Lady und The Golden Bowl auf: "Ähnliche Krisen des Sehens, in denen der männliche Betrachter in seiner Beobachterhaltung verunsichert wird und allgemein eine konsumentenhafte Vereinnahmung des Sichtbaren kritisiert wird, wiederholen sich in James' Werk." (281)

Selbst wenn James "die 'Trivialität' der Genremalerei ... unerträglich war" (292), mußte er sie als eigentliche Urheberin eines genuinen Kunstmarktes und als mainstream viktorianischer Malerei zur Kenntnis nehmen. Und zumindest die melodramatischen Szenarios, deren Körpersprache und Symbolik im Laufe seiner Entwicklung allerdings immer obskurer werden, entnahm er den Konventionen dieser Malerei. Dies zeigt Brosch an The Spoils of Poynton, ein Beispiel, an dem sie auch die Sprache viktorianischer Räumlichkeit und Interieurs thematisiert. Während eine solche Analyse bei Spoils naheliegt, lässt sie bei The Wings of the Dove aufmerken. Es gelingt Brosch, hier sehr eindrücklich zu zeigen, dass eine Sensibilität für die Raumwahrnehmung beim Verständnis von James' schwierigen Texten äusserst hilfreich sein kann: "Kate und Densher, deren Beziehung keine gesellschaftliche Bestätigung hat, sind im Gegensatz zu Milly durch ihren Mangel an Raum bestimmt, sie sind nicht nur heimliche, sondern auch heimatlose Liebende." (327) Über diese generelle Symbolik hinaus wird nun auch der Raum zunehmend in die Figurenperspektive hineingenommen: "Gegenüber früheren Romanen ist hier deutlich, dass die Raumbeschreibung nicht mehr ausschließlich zur Kennzeichnung der Bewohner eingesetzt wird, sondern auch die Einstellung des Betrachters wiedergibt." (328) Zumal Denshers Einstellungsänderung am Ende des Romans kaum anders zu erkennen ist: "Der wichtigste Teil seines Stimmungswandels im Text sind fast vorbewußte Veränderungen, die nicht durch Dialoge mitteilbar sind. Sie werden vermittelt durch Denshers Visualisierungen von Innenräumen." (332) Damit markiert The Wings of the Dove auch erzähltechnisch die wirtschaftliche und materielle Seite der Moderne: Dinge werden immer zentraler.




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7 Dynamisierung, Fragmentarisierung, Relationalisierung

Brewsters Stereoskop, Monets Serienbilder11, William James' Wahrnehmungspsychologie, Dujardins monologue intérieur, das Machsche Prinzip, Muybridges Serienfotographien, Einsteins Relativitätstheorie – das Material, das Renate Brosch in diesem tableau aus Mosaiksteinchen des Wahrnehmungsdiskurses der Viktorianer zusammenträgt, lässt einen vor Neid erblassen, denn hier wird mutig, kenntnisreich und mit Gespür für Anschließbarkeit ein Feld skizziert, in dem James seine spätere Methode entwickelt. Alle genannten Entwicklungen zeigen "den illusionistischen Charakter der Realitätserfahrung" auf (359). Dabei gibt es für den bildlichen Bereich zwei Konsequenzen: "Einerseits wurde innerhalb des Bildes die Gestaltung des Tiefenraums in die Abstraktion geführt [...] andererseits die Privilegierung des Einzelbildes durch Serien, die den Film vorbereiteten, abgeschafft." (360)

Mit Paul Cézanne verabschiedet sich die Zentralperspektive, Bilder tendieren dazu, mehrere Blickpunkte zu inkorporieren. Mit Monet zieht die Serie in die Bildproduktion ein, ein Gebäude wird bei unterschiedlicher Beleuchtung gemalt, die Objektwelt dynamisiert. Eadweard Muybridge nahm die Phasen eines Pferdegalopps auf12 (http://www.masters-of-photography.com/M/muybridge/muybridge_galloping_horse.html) – mit erstaunlichem Resultat: "Keines der Phasenphotos zeigte ... die bis dahin einzige Konvention der Malerei für den Galopp, die Schaukelpferdstellung. 'Die Photographien wirkten geradezu absurd.'" (379)13 Die Fragmentierung der Bewegung korrigierte die tradierte Sinneswahrnehmung. William James reformulierte Ampères schon erwähnte Entdeckung als Bewußtseinsvorgang: "Experience is remolding us every moment and our mental reaction on every given thing is really resultant of our experience of the whole world up to that date" (zit. nach Brosch Krisen: 371). Ernst Mach entdeckte (noch vor Einstein) die "relative Gültigkeit physikalischer Theorien und Begriffe. [...] 'Bewegung' und 'Ruhe' und 'Richtung' können überhaupt nur relativ zu einem anderen Körper oder Bezugssystem festgestellt werden." (375)

In drei Unterkapiteln wird dieser Vorlauf nun auf James' Werk bezogen: wieder sind The Ambassadors (5.2.) und The Wings of the Dove (5.4.) bevorzugte Studienobjekte. Zwischengeschaltet ist hier zudem ein exzellentes Kapitel über die Geister- und Gespenstergeschichten, insbesondere auch The Turn of the Screw, in dem die Ambiguität, durch die Abwesendes gleichzeitig anwesend ist, als Bild für die "Entstofflichung der Welt", also den Wandel vom Materiellen (Substanz) zum Relationalen, gelesen wird. The Ambassadors dient der Auseinandersetzung mit dem Erkennen in einer fragmentierten Welt: "Der gesamte Roman ist ein Kommentar zum Verhältnis von Realität und Erkenntnisfähigkeit." (409) Brosch referiert hier James' (sich wandelnde) Haltung zum Impressionismus und zeigt dann, wie James' Methode den Leser und die Leserin in dieselbe Wahrnehmungsproblematik stürzt wie den 'unreliable spectator' Strether: "Dem Leser wird wohl eine Bildlichkeit geboten, aber sie befindet sich – ähnlich wie die bedeutende Malerei der Zeit – am Übergang zur Verunklärung der Gegenständlichkeit." (397)

In The Wings of the Dove ist es das zentrale Wahrnehmungsobjekt selbst (Milly), das sich verflüchtigt. Von ihren letzten Gedanken und Wünschen wissen wir nichts, Strether sagt nicht viel dazu, und der entscheidende Brief verbrennt. Statt dessen entstehen die entscheidenden Realitäten im Roman aus puren Mutmaßungen der Protagonisten über andere: "James will durch die verschiedenen Innenperspektiven zeigen, wie Tatsachen durch menschliches Bewußtsein geschaffen werden." (447)




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In Broschs Lektüre dieses Romans kommt aber auch ein Aspekt zum Vorschein, den ich anders beurteilen würde und der auch bei The Ambassadors auffällt: Die Verfasserin liest die Romanausgänge ausschließlich negativ. Ich denke aber, dass man Strethers Erkenntnissen sehr wohl auch etwas Positives abgewinnen kann.14 Auch in Wings nimmt Brosch eine eindeutige moralische Haltung – gegen Kate und Densher – ein: "Selbst wenn die Hauptintriganten Kate und Densher seitenweise Täuschung und Betrug absprechen, dann geht dies über Lügen und Schweigen und Umbenennungen vor sich." (437) Brosch konzediert zwar: "Milly selbst [...] verschuldet die auffälligste Auslassung unter den Handelnden, sie vermeidet jede Erwähnung ihres Leidens. Sie verbreitet damit eine Atmosphäre der Vertuschung und der lauernden Observation." (440) Doch insgesamt bleibt ihr Tenor ein moralisch negativer. Ich denke dagegen, Täuschung, Betrug, Lügen, Schweigen kann man nur dann eindeutig markieren, wenn es eine Sphäre von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Offenheit gibt. Doch die scheint es mir nirgends zu geben. Insofern bewegen sich alle Protagonisten in einem Bereich, der von konkurrierenden Konstruktionen gekennzeichnet ist. Eben deshalb können ja nur Tatsachen durch Bewußtsein geschaffen werden. Tony Tanners Charakterisierung von Kate scheint mir angemessener als die der Intrigantin: "Kate is a complex woman in an impossible position. She recognizes that 'material things spoke to her' and is not out of this world, as the more ethereal Milly is. At the same time she is loyal to Densher and does commit herself to him." Und "Kate has her sincerities and her truths – she has been faithful to her love Densher. But she cannot escape the box – of materiality, and perhaps, unavoidably, of mendacity, in which she has to live." (Tanner 1985: 112, 114)


8 Sehen, Besitzen, Überwachen

Zwei Tendenzen, so suggeriert Brosch, charakterisieren das Spätwerk von James: zum einen eine Dynamisierung der Bilder, die wir an anderer Stelle auch in der Entwicklung des Films (1895 erste Filmvorführung) und in der Vorstellung des Bewegungsbildes bei Bergson bzw. des stream of consciousness bei William James15 finden, zum anderen eine zunehmende Sensibilität für das problematische Verhältnis von Sehen und Macht, die Foucault (1979) als panoptische Beobachtung beschrieben hat und auf die auch schon Mark Seltzer (1984) bei James aufmerksam gemacht hat.

In The Golden Bowl wird die Entstofflichung der fiktionalen Realität soweit getrieben, dass "seine Figuren durch ihre Produktion von Vorstellungsbildern und Formulierungen zu Autoren ihrer Realität [werden], die mit den interpretierenden Lesern konkurrieren und um einen konsensfähigen Diskurs ringen." (478) Gleichzeitig trägt James hier der Differenz von Statik/Dynamik in der perzeptionstheoretischen Diskussion Rechnung: "Die Unterscheidung Bergsons zwischen unserer Verräumlichung und Externalisierung unserer Gemütszustände für die Zwecke rationalen Überlegens und der Aufhebung dieser Verräumlichung im Erleben und Fühlen der Zustände hat James in den Bildern in The Golden Bowl dargestellt: In den dynamischen Bildern zerfließen irrationale Bewußtseinszustände, und in den Kommunikationen darüber werden statische Bildelemente entnommen zur Veranschaulichung und Klärung, wie z.B. die goldene Schale." (480)

Schon in The Golden Bowl ist die Wahrnehmung keineswegs von Machtfragen ungetrübt: Charlotte wird vom Prinzen als bezahlbare Ware gesehen und sie selbst versucht, sich möglichst teuer zu verkaufen (481). Noch deutlicher werden die Machtstrukturen allerdings in The Sacred Fount herausgearbeitet, in dem der "Blick als Überwachungsinstrument" eingesetzt wird: "Der perverse Betrachter aus The Sacred Fount verfolgt seine Mitmenschen mit der Beobachtung, wobei seine Verständnislosigkeit für die von ihm beobachteten Mitmenschen einer grausamen Unmenschlichkeit gleichkommt." (494)




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Die Beobachtung ist in diesem Roman so sehr in den Vordergrund gerückt, dass sie fast schon autonom geworden ist: "Nachdem der Erzähler seine detektivische Suche nach einer illegitimen Beziehung in den Raum gestellt hat, wird das System der Blicke zu einer so scharfen Überwachung, dass alle Beteiligten zu intensiven Beobachtern der anderen werden. Gleichzeitig spielen sie, im vollen Bewußtsein, beobachtet zu werden, eine Rolle für ihre Beobachter, und sie beobachten sich selbst bei ihrem Schauspiel, 'the effort of concealment'. [...] Der Erzähler beobachtet die anderen beim Beobachten." (499) Dabei fühlen sich die Beobachteten "verletzt und benutzt" (495), und der Beobachter fällt einer Art von Paranoia zum Opfer, die nichts und niemand mehr vertraut, schlußendlich auch der eigenen Beobachtung nicht: "... was er sieht, ist letztlich Illusion. Er kann sich nur auf eins verlassen: Er sieht sich selbst sehen." (511) Beobachtung ist am Ende vollständig rekursiv geworden.


9 Anschlussfragen

Das Beste, das man über ein literaturwissenschaftliches Werk sagen kann, ist, dass es die Lektüre der Primärtexte bereichert. Obwohl über James schon ganze Regale geschrieben wurden, hat Broschs Studie meine Lektüre ganz erheblich bereichert. Renate Brosch ist mit diesem Buch ein großer Wurf gelungen: Sie verbindet eine umfassende Kulturgeschichte des Blicks im 19. Jahrhundert mit einem close reading von Textpassagen aus einer Vielzahl von Romanen und Kurzgeschichten James'. Dabei bestechen ihr unglaubliches Fachwissen über bildende Kunst, Theater, über die moderne Literatur allgemein, eine fast schon unheimlich anmutende Aufarbeitung der ausufernden Sekundärliteratur zu James, die in 1327 Fußnoten dokumentiert ist, und die große Syntheseleistung, die literarischen, kunstgeschichtlichen, architektonischen, naturwissenschaftlichen, philosophischen und sozioökonomischen Diskurs zusammenbringt. Das Buch kann fast schon als Nachschlagewerk zu Betrachter, Blick und Objekt im 19. Jahrhundert und bei Henry James gelten. Es wird sicherlich ein 'Muss' für James-Forscher werden und es ist ihm die Anwesenheit in vielen Kursapparaten zu wünschen.

Broschs Studie kann (und will) keine Einführung in einzelne Texte von James sein, auch wenn die Spezialkapitel zu bestimmten Texten, einigen Kurzgeschichten, Daisy Miller, den großen Romanen oft sehr erhellend sind. Das Buch bietet so weniger neue Lektüreangebote (auch wenn durchaus neue Ansätze – insbesonders bei The Ambassadors, The Sacred Fount oder The Golden Bowl – da sind) als vielmehr eine neue Gesamtschau davon, wie sehr James' Schaffen in die Veränderungen der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert verstrickt ist, wie sensibel er visuellen Wandel und visuelle Ereignisse seiner Zeit registriert und in Erzähltechniken umgesetzt hat. Es ist dieser Wandel oder diese Revolution, die zu den Krisen des Sehens führt, nicht in erster Linie die Psychologie der Charaktere, zumal deren Psychologie nicht von ihrer Wahrnehmung zu trennen ist: "Die Auflösung des traditionellen Raumgefüges, das aus der naturalisierten Perspektive stammte, hatte in der Literatur zwei Aspekte: Der Verlust des verbindlichen Normenhorizontes im übertragenen Sinn und die Verlagerung des Handlungsraumes ins Innere der Figuren." (44)

Interessante und gute Arbeiten werfen Fragen auf. Damit öffnet sich ein Raum für die weitere Forschung. So ist es auch bei Renate Broschs Studie. Eine Frage, die sich mir stellt, ist, ob Broschs Fokussierung auf Henry James und auf die Bildlichkeit nicht zu einigen (literatur)historischen Verzerrungen führt: Wie schon Crary feststellte, hat die Malerei (insbesondere der Impressionismus) Entwicklungen nachvollzogen, deren Ursprung viel früher liegt (Crary setzt den Umschlagpunkt von der Transparenz zum subjektiven Sehen um 1820 bis 1830 an. Vgl. Crary 1993: 25).




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Wertet man die Literatur aus, so zeigt sich, dass der Transparenz-Gedanke des 18. Jahrhunderts (der noch von Locke herrührt) schon um die Jahrhundertwende – also 75 Jahre vor James' ersten Veröffentlichungen – in sich zusammenbricht: bei Charles Brockden Brown (und seinem Vorbild William Godwin) kann keine Rede mehr von Transparenz sein: wer was und, vor allem, wie wahrnimmt in Wieland, Edgar Huntly, Arthur Mervyn ist die rätselhafte Frage im Zentrum dieser Texte. Zentral sind auch hier Beobachter-Protagonisten: Caleb Williams beobachtet etwas, das er nicht beobachten soll, und wird dabei beobachtet. Dasselbe gilt für Arthur Mervyn! Dankbar wurden diese Rätselstrukturen von Poe aufgenommen, der den Beobachter zum Detektiv machte (Dupin!), zum Soziologen ("The Man of the Crowd") oder zum Psychopathen ("William Wilson"). Damit will ich sagen, dass die Krise des Sehens, die den Beobachter zum dem macht, was er später bei James ist, im späten 18. Jahrhundert beginnt.

Dies alles widerspricht Broschs Thesen und Themen nicht – es akzentuiert ihre Ergebnis aber ein wenig anders. Es wirft die Frage auf, inwieweit nicht die westliche Tradition der Erzählliteratur insgesamt entscheidend die Fragen der Wahrnehmung verhandelt, oder sogar aus und an ihnen wächst. Wenn Niklas Luhmann vorschlägt, die Entstehung der modernen Gesellschaft mit einem Übergang zur Beobachtung zweiter Ordnung (also Beobachtung der Beobachtung) in Zusammenhang zu bringen (Luhmann 1999: 115) und gleichzeitig die These aufstellt, dass die Ausbildung des Kunstsystems im 18. und 19. Jahrhundert (Brosch beschreibt durchaus Teile dieses Vorganges) genau deshalb vor sich geht, weil Kunst nun nicht mehr in erster Linie klar definierten Zwecken dient (religiösen, herrschaftlichen, repräsentativen, didaktischen), sondern den Sinn hat, "spezifische Formen für ein Beobachten von Beobachtungen in die Welt zu setzen", dann deutet dies genau darauf hin. Die 'Krisen des Sehens' wären dann ein Phänomen, dass noch viel globaler als bei Renate Brosch diskutiert werden könnte, ein Phänomen, das moderne Literatur geradezu fundiert.

Wenn moderne Literatur generell (gemeint ist die Erzählliteratur seit der Entstehung des Romans) Fragen der individuellen Wahrnehmung und deren moralische und gesellschaftliche Stimmigkeit verhandelt, dann fragt sich natürlich, was denn nun eigentlich James' Beitrag, oder besser: seine Intervention, in diesem Feld sei. Die Zuspitzung des Beobachtungsproblems auf einzelne centers of consciousness oder Reflektoren – Brosch beschrieb sie ausführlich – ist sicherlich ein Teil der Antwort. Winfried Fluck hat sich mit dieser Frage in seinen Arbeiten zum Realismus ausführlich auseinandergesetzt. (Fluck 1992) Allerdings hat Fluck in Bezug auf den Realismus eine völlig andere Herangehensweise als Brosch: Während letztere, wie oben gezeigt, Realismus als Analogon zur Kunst vor dem Abrücken von der Zentralperspektive definiert, den entpersönlichten, omniszenten Erzähler also dem außerhalb des Bildes liegenden Blickpunkt des Künstlers und Betrachters gleichstellt (Krisen: 35), definiert Fluck Realismus historisch-gesellschaftlich-funktional. Die Dominante des genres ist bei Fluck nicht eine bestimmte Perspektive, sondern dessen 'Zivilisierungsprojekt', das über die Bildungs- und Entwicklungsgeschichte eines individuellen Lernprozesses (Newmans, Isabels, Strethers, Millys etc.) gesteuert wird, der metonymisch für die nationalen Möglichkeiten steht. (vgl. Fluck 1997: 260) James' Intervention läge also demnach im Rahmen eines Erziehungsprojektes, eines Versuchs, die Leser und Leserinnen auf moderne Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen einzustimmen und sie gleichzeitig in die Lage zu versetzen, diese illusionslos und zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen.

Die beiden Versionen müssen sich nicht unbedingt widersprechen. Ein Unterschied liegt darin, dass James bei Brosch mit dem Umschlagpunkt The Portrait of a Lady vom Realismus abrückt, während er nach Flucks Auffassung eher das Zivilisierungsprojekt konsequent weiterentwickelt, und damit den Realismus sozusagen überwindet bzw. in den Modernismus überführt.




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Wie man Flucks gesellschafts- und funktionstheoretische Begriffe mit Broschs Interesse an den 'Krisen des Sehens' zusammenbringen kann, hat am einleuchtendsten und stringentesten Ernst-Peter Schneck gezeigt:

Gegen den drohenden Verlust individueller sinnlicher Kompetenz wenden sich die Revisionen des Erfahrungskonzepts und des kulturellen Blicks, die im Pragmatismus und in der realistischen Kunst erneut die Möglichkeit einer direkten Verbindung zwischen sinnlicher und sinnhafter Wahrnehmung, zwischen praktischer und symbolischer Erfahrung zu eröffnen versuchen. Ausgangspunkt beider Bewegungen ist dabei die Überzeugung, dass die individuelle Wahrnehmung als natürliche Disposition im kulturellen und sozialen Kontext als Kompetenz aufgefaßt werden muß, deren unzureichende Bildung und Ausbildung die Möglichkeit gemeinsamer Erfahrung als Grundlage einer demokratischen Kultur in Frage stellt. (Schneck 1999: 69)

Liegt das Schwergewicht der Betrachtung auf der kompetenzbildenden Funktion der Kunst, so ist zunächst nicht die Zentralperspektive (bzw. der omniszente Erzähler) entscheidend, also die Art der Symbolisierung, sondern welche Bereiche praktischer Erfahrung überhaupt symbolisiert werden: "Der Realismus in der Kunst bezeichnet weniger eine 'objektive', 'authentische' oder gar 'wahre' Form der Repräsentation von Wirklichkeit, sondern in erster Linie die Ausweitung des legitimen Anspruchs symbolischer (künstlerischer, ästhetischer) Repräsentation auf Wirklichkeitsbereiche, die der Kunst bis dahin verschlossen waren." (Schneck 1999: 82) Wenn es mehr um das neu definierte gesellschaftliche Projekt und weniger um die Authentizität geht, dann ist auch der nächste Schritt folgerichtig: "In dem Maße, in dem der Realismus versucht, die eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmuster als allgemein gültige zu legitimieren, etabliert sich die Kunst selbst als das Feld der Kultur, in dem diese Muster eingeübt und trainiert werden können. Hier bricht der amerikanische Realismus in der Kunst mit der Illusion der Transparenz, weil die fortlaufende Wahrnehmungsschulung und Erfahrungsbildung eine Struktur und eine Richtung erhalten sollen." (Schneck 1999: 84) In einem weiter angelegten Projekt der 'Krisen des Sehens' können auf diese Weise unterschiedliche Forschungszusammenhänge verbunden und angereichert werden. Die Grundlagen dafür sind durch den visual turn – und Renate Broschs Buch – jedenfalls gegeben.


Bibliographie

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Brosch, Renate (1999): "The Pictorial Turn of Henry James", in: Neumann, Fritz-Wilhelm u. Schülting, Sabine (eds.) Anglistentag 1998, Erfurt. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 445–455.

Bronfen, Elisabeth (1994): Nur über Ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann.

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Crary, Johnathan (1996): Techniken des Betrachters.Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden: Verlag der Kunst.




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Zapf, Hubert (1996): Amerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler.

 


Anmerkungen

1 Als Verdeutlichung dieser Problemkonstellation mag schon allein der Titel von Dolf Sternbergers berühmten Beitrag zur Diskussion dienen: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert.

2 Vgl. Crary (1996), Foucault (1976), Jay (1993), Meisel (1983), Mitchell (1987).

3 Vgl: http://www.infoplease.com/ce6/ent/A0860364.html.

4 Ausführlicher als Brosch hergeleitet hat diese Zeichenhaftigkeit allerdings Ernst-Peter Schneck (1999: 20–89).

5 Die frontispieces sind in David McWhirter (1995) abgedruckt.

6 Vgl. etwa die Bilder "By Notre Dame" (Vol. 21) und "Portland Place" (Vol. 24).

7 Mit Betrachter sind dabei die Möglichkeiten gemeint, die die Kultur einem betrachtenden Subjekt zur Verfügung stellt. Crary, dem Brosch folgt, schreibt dazu: "Wenn man sagen kann, es gebe einen für das 19. Jahrhundert – oder für jede beliebige Epoche – typischen und spezifischen Betrachter, kann man das nur als Folge von nicht aufeinander reduzierbaren heterogenen Systemen von diskursiven, sozialen, technischen und institutionellen Beziehungen." (Crary 1996: 17)

8 Broschs Diskussion befindet sich auf Seite 121–122. Berühmt wurde Foucaults Diskussion in Die Ordnung der Dinge. (1997: 31-45). Eine weitere bekannte Diskussion liegt vor von John Searle (1980: 477–88).

9 Brosch zitiert hier Wolfgang Schivelbusch, (1977: 61).

10 Vgl. dazu Schwanitz (1993: 148–157). Dieser selbstreflexive Moment beginnt sicherlich schon mit Shakespeares Dramen ("all the world's a stage"), gewinnt aber mit der Kultur der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert und der Forderung nach Natürlichkeit in der Romantik eine ganz neue, subtilere Qualität.

11 Brosch erwähnt vor allem die "Kathedrale von Rouen" (http://www.ibiblio.org/wm/paint/auth/monet/rouen/). Vgl. Brosch 364.




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12 Vgl. dazu ausführlicher Schneck.

13 Das Zitat ist aus Beaumont Newhall (1984: 125).

14 So spricht etwa Winfried Fluck von einer "persönlichen Revitalisierung" Strethers, für den "der Prozeß des Sehens selbst zu dem des Lebens wird" (in Zapf 1996: 183).

15 Brosch führt sehr schön aus, wie der Bewußtseinsstrom als Metapher statischere Modelle (man denke an Lockes train of thoughts ablöst. Es gibt jetzt keine Folge diskreter Ereignisse mehr, sondern einen kontinuierlichen Prozeß oder Strom. Gleichzeitig wird der cartesianische Dualismus von Erfahrung und Wirklichkeit aufgehoben. Die Erfahrung, der Strom ist selbst die Wirklichkeit. (Krisen: 464f.).

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