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Wolfgang Schlick (München)



Naylorean Negotiations:
Gloria Naylors Verhandlungen mit Gott, Shakespeare, sich und der Welt



Naylorean Negotiations:
Gloria Naylor's Dealings with Shakespeare, Herself, God, and the World.

Focussing mainly on The Tempest, this essay tries to examine a few of Naylor's intertextual strategies in her adoption of highly canonized works of "European Classics." My point here is not so much to show how Naylor deconstructs her pretexts but rather to point out how skilful she resemanticizes some of the motives and structures of Shakespeare's late romance which figure prominently in her third novel, Mama Day. Counterbalancing an urban and a rural setting, Mama Day cites antique (the loss of the Golden Age), elizabethan (nature/nurture-debate) as well as modern topoi (escapism). With the title-role of Mama Day Naylor presents a conflation of a few Shakespearean figures like Prospero, Miranda and Caliban. In the light of Gates's theory of 'Signifyin(g)' and Manfred Pfister's book on the plurisignification (or polyvalence) in late Elizabethan and early Jacobean drama, Naylor's choice of her intertexts turns out to be an ingenious ground for a rewriting of a drama that has been discussed widely in colonialist and feminist literary theory. I wish to argue that – contrary to the perception of many critics – resemantizations like Naylor's do not show the out-of-dateness of texts like Shakespeare's plays but rather provide them with new energy by fusing them to non-Western traditions thus ultimately ensuring their survival and on-going fascination.



1 Einleitung

Dieser Aufsatz verdankt seine Entstehung zu einem guten Teil Peter Ericksons Artikel "Shakespeare's Black?": The Role of Shakespeare in Naylor's Novels"(Erickson 1993). In seinem Artikel unterscheidet Erickson zwei Arten intertextueller Bezüge auf Shakespeare, von denen die erste als Parallelisierung zu beschreiben wäre – Figurenkonstellationen oder Handlungsorte sind shakespeareschen Motiven nachgebildet. Doch Shakespeare "provides a second set of connections, for he figures in all three novels to date, and the range and depth of Shakespearean allusions has increased in Naylor's most recent novel, Mama Day." Nun beschäftigen Erickson zwei Fragen: "What is Shakespeare doing here? Why does Naylor so consistently evoke the Shakespearean reference point?" (Erickson 1993: 232) Für Erickson ergibt sich folgende Schlußfolgerung:

The perception of two traditions – one that omits black women, one that focuses on them – creates for Naylor an irreducible gap. ... Naylor's bond with Morrison as the originator of an alternate, non-Shakespearean tradition makes Morrison a more important resource than Shakespeare; Morrison provides an identity and a voice, which Shakespeare is powerless to do. (Erickson 1993: 232)




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Erickson kann sich als Motiv für Naylors Faszination an Shakespeares Texten höchstens den Wunsch nach einer Art kritischer Ablehnung vorstellen: "If sustained by Morrison, Naylor need not approach Shakespeare with disabling reverence, neither does she simply reject him, as her evident attraction to Shakespearean language testifies. [...] she appreciates Shakespeare while at the same time she is determined critically to rewrite him." (Erickson 1993: 232) Die Zusammenfassung und Schlußfolgerung seines Aufsatzes lassen deshalb auch nicht viel von der Vielschichtigkeit und Geschicktheit des Naylorschen rewriting spüren:

The conclusion of this analysis of Naylor's use of Shakespeare is that Shakespeare's cultural reach is diminished, not extended. Shakespeare's work can no longer be conceived as an infinitely expanding literary umbrella, the ultimate primary source capable of commenting on all subsequent developments no matter how far historically removed. Faced with apparently limitless possibilities for interpretation, Shakespeareans have tended to romanticize their critical quandary by investing it with an existential Myth of Shakespeare's inexhaustability, by means of which Shakespeare already anticipates every possible future situation or response. This notion of Shakespearean anticipation amounts to a denial of history, of change, and of our own agency. (Erickson 1993: 245)

Viele schwarze Autoren und Autorinnen1 haben erzählt, wie frustrierend sie die Nichtanerkennung der "eigenen" Kultur und Tradition erlebten: Häufig mußten sie sich als Referenzpunkte für ihre Arbeiten zwangsweise für westliche Vorbilder entscheiden, da es keinen schwarzen Kanon gab, oder er ihnen nicht verfügbar war. Auch Gloria Naylor hat in Interviews betont,2 wie spät sie von der Existenz schwarzer Schriftstellerinnen erfuhr.3 In der Folge hat das Bewußtsein, sich zwei Traditionen gegenüber verantworten zu müssen, zu einer besonders komplexen und subtilen Art der Intertextualität geführt.

Für Erickson scheint sich die Frage nach der Identität afro-amerikanischer Kultur und Literatur aber nur in einer Hierarchisierung der Zugehörigkeiten (und einer damit verbundenen Ablehnung der westlichen Kultur und ihrer Produktionen) zu beantworten. Ich will nicht gegen die Notwendigkeit einer Philologie schreiben, die auch eine politische Ausrichtung spüren läßt. Dennoch empfinde ich eine derartige Hierarchisierung als beengend, da sie sich den Entwicklungen verschließt, die in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten in der Literatur (und Literaturtheorie) stattgefunden haben.

Aus den Beobachtungen dieser Arbeit erschließt sich sicherlich kein neues Bild, weder von Shakespeare noch von Naylor; doch hoffe ich, auf gewisse Strategien in der Verwendung von Intertextualität bei Naylor hinweisen zu können, die einen derartigen Binarismus widerlegen.4

Gloria Naylor beantwortet Fragen nach der Positionierung ihres Werkes immer eindeutig. Sie sieht ihre Romane vorrangig als Antworten auf Texte anderer schwarzer Autorinnen und ist sich der politischen Relevanz ihrer Arbeit bewußt. In einem Interview mit Virginia Fowler hat sie gesagt, daß man sie, wäre sie in den Sechzigern politisch aktiv gewesen, sicher auf der Seite der Separatisten und nicht bei den Integrationisten gefunden hätte. Dennoch sieht sie sich nicht als politische Schriftstellerin im klassischen Sinn, sondern bezeichnet sich eher als "cultural" denn als "political activist".




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But sitting next to you or going to your school is not what will "better" me as a human being, or even solve my problems. The other way wouldn't have either. So I think my work evidences that. That's not political writing in the sense that I was taught political writing, you know, the protest novel. If you want to call my work political, I'm willing to live with that definition of its being political. It's just very ethnocentric. And that springs from my own politics. (Fowler 1996: 143)5

Wir haben gelernt, daß Systeme siegen wollen – und daß weiße (meist männliche) Kritiker eine wachsende Zahl von Texten unterschiedlichster Herkunft mit einer unglaublich patronisierenden Arroganz behandeln. Auch daß zum Lesen der Intertextualität "nichtweißer" Texte ein nur auf europäischer Tradition fußender Bezugsrahmen nicht ausreicht, wird inzwischen von verschiedenen Seiten anerkannt (teilweise auch von weißen männlichen Kritikern).

Man darf getrost annehmen, daß Naylor nicht einfach eine freundlich bewundernde Nachdichtung einer Renaissance-Vorlage im Sinn hat, wenn sie sich mit Strukturen auseinandersetzt, die bereits Dante oder Shakespeare bearbeitet haben – weshalb es mir eben widerstrebt, die Schlußfolgerung als neue Erkenntnis zu verkaufen, eine schwarze Autorin des ausgehenden 20. Jahrhunderts wolle gar keine Hymne auf die Herrschaft der white males singen.

 

An Arbeiten wie der Ericksons stört mich, daß sämtliche Energien mit der Ablehnung des "Unterdrückersystems" aufgebraucht scheinen und die Beurteilung der Strategien der Texte ebenso einseitig erfolgt, wie das durch die angegriffene Gegenseite geschah – nur unter anderen Vorzeichen. Im vorliegenden Fall ist der Gang der Argumentation wohl folgender: Weiße Kritiker beziehen sich in ihrer Beurteilung der Naylorschen Texte vor allem auf ihre Zitate aus dem westlichen Kanon; da aber bewiesen werden soll, daß die Texte ihre Entstehung einem anderen Bezugsrahmen verdanken, wird die Beschäftigung mit den westlichen Vorlagen als zweitrangig abgetan. Für Erickson scheint das Anzitieren eines nichtschwarzen Kanons nur dazu dienen zu können, durch Abgrenzung die eigene Position zu definieren – eine etwas einengende Art der Literaturbetrachtung.6

Gloria Naylors Werke zeugen in hohem Maß vom Kampf gegen eine Gesellschaft, die alternative Lebensentwürfe isoliert und unterdrückt – vielleicht nötigen sie den Leser auch dazu, Position zu beziehen; doch Interpretationen ihrer Romane, die ihre Entstehung allzu deutlich den tagespolitischen Parteikämpfen literaturwissenschaftlicher Richtungen verdanken, müssen manchmal auf flüchtigem Lesen beruhen, damit die gewünschten Resultate erreicht werden können.




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So behauptet Helen Fiddyment Levy in ihrem Aufsatz "Lead on with Light", es gelänge Ophelia (im Gegensatz zu George, dem auch die zweite magische Realität von Willow Springs verborgen bleibt), sogar dem Moloch New York seine schönen Seiten abzuringen.7 Die Intention dieser Interpretation ist eindeutig: George wurde nicht nur in die Welt des weißen mainstream-Amerika hineinsozialisiert, er ist auch ein Mann – und als solcher kaum fähig, die Magie und Vielschichtigkeit einer von verschiedensten Kräften durchdrungenen Welt (in anderem Jargon: die Polyvalenz einer komplexen Lebenswelt) zu erkennen.

Allerdings muß der halbwegs aufmerksame Leser (auch die Leserin) bemerken, daß Gloria Naylor ihre Sympathien nicht so einseitig verteilt: schließlich hat Ophelia schon mehrere Jahre in New York gelebt und es gehaßt – bis sie George getroffen hat, dem es gelang, sie für die kulturelle Vielfalt der Stadt zu sensibilisieren, indem er ihr in vielen Spaziergängen auch die weniger bekannten, nicht von Touristen besuchten Viertel zeigt.8

Das soll kein genereller Angriff auf feministische Interpretationen sein, insbesondere da ich mich den Schlußfolgerungen Levys (teilweise) durchaus anschließen möchte – auch ich glaube, daß Georges mangelnde Bereitschaft, ein alternatives Erleben der Welt zu akzeptieren, zu seinem Tod führt; doch sollte bei der Belegung der Thesen mit mehr Sorgfalt verfahren werden. Mama Day ist eben ein brilliantes Beispiel eines re-writing, das von den vielschichtigen Erfahrungen der Nachkommen der nach Amerika verschleppten Afrikaner Zeugnis gibt und sich nicht auf die Entweder-Oder-Lösungen klassischer westlicher Dialektik verläßt.

Dabei geht es gerade nicht um eine Welt voller Beliebigkeit und ohne Wertungen (so wird Ophelias Mann von Mama Day als "good second-best" (MD: 309) bezeichnet, und Ruby wird unschädlich gemacht, weil sie selbstsüchtig und "böse" ist) – aber ein derartiges Literatur- und Traditionen-ranking, wie es Erickson und Levy anstellen, scheint mir doch einiges an der Qualität des Naylorschen Schreibens zu übersehen.9

Um der Vielfältigkeit, mit der Naylor auf verschiedenste literarische und außerliterarische Werke reagiert, auch nur halbwegs gerecht zu werden, möchte ich dafür plädieren, ihre Art der Intertextualität oder Interdiskursivität nicht als postmodernes Aufleben einer Art paragone-Streit, sondern als Teil eines fortschreitenden Dialogs mit den Konstrukten verschiedener Traditionen zu werten.10

Ich behaupte, daß für Gloria Naylor Kultur (im Gegensatz zum Land) durch Appropriation und Erschließung nicht zerstört werden muß. Indem sie sich mit den Themen und Strukturen in ihren Büchern auch auf westliche Vorbilder bezieht, gelingt ihr eine Synthese – Kultur wird zum verbindenden Element sich ursprünglich ausschließender Systeme. Dabei bleibt aber immer entscheidend, daß Naylor durch die geschickte Wahl ihrer Vorbilder und die Positionierung ihrer Texte auch die von ihr zitierten Werke des weißen Kanons neu kommentiert.

Die Strategie dieser Art des Zitierens läßt sich mit dem Konzept beschreiben, das Henry Louis Gates in seinem Buch The Signifying Monkey formuliert hat: Die unterdrückte Subkultur verschafft sich Gehör (zumindest wird sie für die Eingeweihten hörbar), indem sie das herrschende System subvertiert und so ihr Weiterleben unter schwierigsten Bedingungen garantiert (vgl. Gates 1988)




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In meinem naiven Optimismus glaube ich aber auch, daß die Subkultur durch diese Art interkultureller Intertextualität noch etwas anderes veranlaßt: Durch die Beschäftigung mit der westlichen Kultur bewirkt sie deren Weiterentwicklung und Überleben – indem sie sie aus der Erstarrung einer immer weiter fortschreitenden Selbstreflexion befreit, erneuert sich diese und kann so an einer weiterschreitenden Evolution von Konzepten teilhaben.

So spielt Mama Day geschickt mit Aspekten aus Shakespeares spätem Romanzendrama The Tempest und deren Behandlung durch die westliche Rezeption und weist gerade dadurch auf die Existenz eines Gegenkanons hin. Naylor hat in ihrem Roman viele Themen und Techniken zitiert, die die Rezeptionsgeschichte als für den Tempest zentral gewertet hat. Einige dieser Punkte sollen hier angesprochen werden; dabei lege ich keinen besonderen Wert auf Vollständigkeit oder besondere Tiefe der angebotenen Analysen, ich will vor allem auf die erstaunliche Vielzahl und Komplexität der Zitate hinweisen – erstaunlich für einen Roman, der sich nicht ausgesprochen auf Literarizität zu kaprizieren scheint.

In einer Art Umkehrschluß zu Peter Erickson denke ich, daß die kulturelle Reichweite Shakespeares durch ein rewriting eben nicht verringert wird, seine inexhaustability sich aber gerade in unserer postkolonialen Zeit nur durch Schriftsteller wie Naylor beweist: Warum es dann nicht gelingen mag, dies als Triumph zu erleben, bleibt mir allerdings unerklärlich.

Das alles sollten doch wohl Prämissen sein; hierzu natürlich auch, daß die Schlagkraft und Subversivität eines Gegenentwurfs oder rewritings entscheidend vom Bekanntheitsgrad oder der Kanonisierung des Vorbilds abhängt.11

 

2 Mama Day

Mama Day, Gloria Naylors dritter, 1988 erschienener Roman spielt im August 1999 auf Willow Springs, einer fiktiven Insel vor der Küste zwischen South Carolina und Georgia; deren deutliches Vorbild die Gullah-communities der atlantischen Sea Islands um St. Helena sind.12

Eine Art multipersonaler voice of the community führt den Leser ein und erfüllt teilweise die klassischen Aufgaben der Exposition, wenn sie erklärt, daß es sich bei den zwei Ich-Erzählern des Romans um Ophelia, die Großnichte Mirandas/Mama Days (einer Art Medizinfrau und spiritueller Führerin der Gemeinde) und George handelt, ihren ersten Mann, der vor 14 Jahren auf Willow Springs starb und hier begraben liegt; doch die Einstimmung auf den Roman findet auch auf einer zweiten poetologischen Ebene statt – in der Gegenüberstellung des Lesers zu Reema's boy, der zwar aus Willow Springs stammt, durch sein Studium auf dem Festland aber den Kontakt zur Insel und ihren Stimmen und deren wahrer Bedeutung verloren hat. Wir (ideale?) Leser dagegen haben die Möglichkeit, Ophelias Unterhaltung mit dem Geist ihres Mannes auf dem Friedhof zu lauschen und das zentrale Wesen von Willow Springs zu erfassen – wir müssen nur auf unsere eigene Stimme hören.13




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In einer brillianten Verbindung zentraler Probleme der Theorie des Lesens und der Verschriftlichung der oral narrative schafft Gloria Naylor mit leichter Hand das setting für einen vielschichtigen Roman, der sich nicht auf simple Antithesen reduzieren läßt – there are just too many sides to the whole story.(MD: 311)

 

Willow Springs, so erfährt der Leser im Lauf des Romans, wurde von dem aus Norwegen stammenden Landbesitzer Bascombe Wade seiner ehemaligen Sklavin Sapphira für sich und ihre Nachkommen vermacht. Bis heute führen die Bewohner der Insel ihre Besitzansprüche auf das Land auf diese Frau zurück, die – so die mündliche Überlieferung weiter – ihren ehemaligen Herrn und den Vater ihrer Söhne nach der Geburt des siebten Sohnes umbrachte und ein Vererbungssystem einführte, das jeweils eine Generation überspringt. Das Land wird also jeweils auf die Enkel vererbt; die Eltern fungieren immer nur als eine Art temporäre Treuhänder. Außerdem handelt es sich um ein matrilineares System; bei dem die Kinder meist unter dem Namen der Mutter bekannt sind (so zum Beispiel Reema's Boy) – ein weiterer Unterschied zur patriarchalen weißen Festlandskultur der Vereinigten Staaten. Der Roman behandelt auf verschiedenen Ebenen die Gegenwehr einer Alternativkultur, die sich bislang der Vereinnahmung und daraus resultierenden Vernichtung entziehen konnte.14

Die grundsätzlichen politischen und sozio-ökonomischen Unterschiede der beiden Kulturen manifestieren sich natürlich nicht nur in der Darstellung der beiden einander gegenüber gesetzten Räume (Festland versus Inselkultur), sondern auch in den beiden Ich-Erzählern Ophelia und George.

Als das junge Ehepaar zu einer verspäteten Hochzeitsreise nach Willow Springs kommt, kulminieren die Ereignisse in einer Verbindung sich psychisch und physisch manifestierender Gewalt. Ruby, die von maßloser Eifersucht auf ihren deutlich jüngeren Mann Junior Lee geplagte Gegenspielerin Mirandas, vergiftet Ophelia an dem Tag, an dem ein Hurrikan die Brücke zum Festland zerstört. George, der eine Rettung seiner in Fieberkrämpfen liegenden Frau nicht mehr für möglich hält, wendet sich an deren Großtante Miranda, kann aber nicht mit ganzem Herzen akzeptieren, daß es Heilmittel jenseits der Schulmedizin gibt. Da er an einem schwachen Herz leidet, überanstrengt er sich in seiner Verzweiflung und stirbt an einem Schlaganfall. Durch dieses Opfer des "gebrochenen Herzens" aber überlebt Ophelia. Tragisch wirkt dieses Ende höchstens, weil Miranda zuvor die Möglichkeit einer Rettung beider als Alternative erwähnt, diese aber am mangelnden Glauben Georges an ihre magischen Kräfte scheitert.

 

Andererseits kann man Mama Day auch als Erziehungsroman lesen, da zumindest die beiden jungen Hauptfiguren eine (wenn auch unterschiedlich ausgearbeitete) Seelenentwicklung durchmachen:15

Zuerst zu George: Als Waisenkind in einem Heim aufgewachsen, wurde er auf Integration in die white mainstream culture sozialisiert – und das mit ziemlichem Erfolg: immerhin ist er einer von zwei Teilhabern der Andrews & Stein Engineering Company. Mrs. Jackson, die Leiterin des Heims, in dem George aufwuchs, gab ihren Schützlingen einen Leitspruch mit auf den Weg, der diesen helfen soll, sich ihr Leben nach dem Heim ohne fremde Hilfe zu organisieren und in einer Umgebung zu überleben, die kein großes Interesse für die Belange überwiegend nichtweißer Straßen- und Waisenkinder zeigt.




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Im Laufe des Romans wird man dieses Motto "Only the present has potential" für George noch auf eine andere Weise lesen können, denn als Waisenkind, ohne Familie, wird George zu einer Art schwarzem Kaspar Hauser, zu einem Mann ohne Eigenschaften, zumindest aber ohne Vergangenheit. Georges Familiengeschichte ist durchaus glaubwürdig (insbesondere in Verbindung mit den Statistiken über schwarze Familien in amerikanischen Großstädten), doch erschöpft sich diese Konstruktion Georges als Vertreter einer endangered species16 nicht in der Anbindung an die Lebenswelt und etwaige politische Postulate. Er und sein soziales Umfeld dienen auch als Kontrastfolie für den Gegenentwurf zur herrschenden westlichen, durch Entfremdung geprägten spätkapitalistischen Kultur: Willow Springs, das sich gerade durch seine Verbindung zur Vergangenheit definiert und immer wieder erneuert.

Die Hauptgewichtung des Romans liegt eindeutig auf Willow Springs und dessen utopischem Gegenentwurf zur herrschenden Gesellschaft, dennoch treffen sich Ophelia und George in New York, das als Verkörperung der westlichen (herrschenden) Welt deutlich präsenter ist als Mailand (oder Neapel) im Tempest.

Georges Dilemma zeigt sich in der Erziehung durch eine Kultur, die Wünsche und Träume zwar als Bestandteile ihrer kulturellen Produkte akzeptiert, sie aber als für die Bewältigung der Lebenswelt irrelevant erachtet. Gerade weil George sein Leben in der Welt ohne Träume arrangiert zu haben scheint, kann er die ebenfalls durch westliche Erziehung (also auch durch Shakespeare) geprägten Klischees, Wünsche und Vorstellungen nicht bereitwillig revidieren oder mit seinem Leben in Einklang bringen. Als er nach Willow Springs kommt, ist seine Vorstellung von einem südlichen zeitlosen Paradies schon fest in seinem Denken verankert; doch sein Unvermögen, die magischen Fähigkeiten Mirandas als Realität zu akzeptieren, kostet ihn schließlich auch das Leben.

Obwohl er auch im Leben als verständiger, abgeklärter Gesprächspartner gezeigt wird, findet Georges wirkliches Lernen (und damit die Revision seines Weltbilds) erst nach seinem Tod statt.

Ophelias Persönlichkeit und Weltsicht wandelt sich dagegen langsam im Lauf des Romans. Sie hat Willow Springs verlassen, um in der Welt "draußen" zu überleben. Doch zu Beginn des Romans erleben wir sie als Unglückliche, die sich in der großen Stadt entwurzelt und entfremdet fühlt; die Begegnung mit George und sein Opfertod ermöglichen es ihr, sich für das Erbe der Days zu entscheiden und die Generationenfolge fortzuführen. Ihre Entwicklung zeigt sich auch sprachlich: Benutzt sie anfangs noch Spitznamen wie "cherry vanilla" oder "kumquat", ändert sich das schnell, als George sie fragt, warum Menschen für sie Essen seien. Ihr Unverständnis auf seine Frage beantwortet er mit einer Ausarbeitung: "Food. Stuff you chew up in your mouth until it's slimy then leave behind as shit the next day."(MD: 62) Ihre Entrüstung darauf ist verständlich, aber sie ändert ihr Verhalten, Menschen werden von ihr nicht mehr mit den Bezeichnungen für Lebensmittel belegt. Anders als George, der stirbt, weil er dem Rationalismus verhaftet bleibt, gelingt es ihr, ihre Weltsicht zu verändern – und dadurch, so wird impliziert, zu überleben.

Am Ende des Romans erfahren wir, daß sie New York verlassen hat und mit ihrem zweiten Mann und ihren beiden Söhnen in Charleston lebt. Es ist ihr also als erster Day gelungen, eine dauerhafte Existenz außerhalb von Willow Springs zu begründen und dennoch mit der Insel geistig verbunden zu sein. Durch diese Verbindung wird auf eine mögliche Verwirklichung des ursprünglich utopisch wirkenden Gegenentwurfs verwiesen.




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3 The Tempest

Die Parallelen des Romans zu Shakespeares Tempest sind offensichtlich: Die Insel ist kartographisch nicht erfaßt, also ein klassisches Beispiel einer Utopie17, die Wirren der "realen" Welt außerhalb der Insel werden auf diese verlagert und dort gelöst (letzteres zumindest mag für beide Texte jeder Rezipient aufs neue entscheiden), ein Sturm spielt eine entscheidende Rolle, es geht um Zauberei – die Beispiele lassen sich problemlos fortsetzen.

Doch finden sich die Ähnlichkeiten nicht nur auf der Handlungsebene oder in der Plotstruktur. In beiden Texten werden klassische Themen westlichen Kulturverständnisses behandelt, wie zum Beispiel Generationenproblematik und die Gegenüberstellung von Natur und Kultur. Die Gegenüberstellung nature – nurture kann man getrost als Standardtopos der englischen Renaissanceliteratur bezeichnen, doch wird sie im Tempest besonders vielschichtig und gleichsam exemplarisch abgehandelt.

Ein kurzes Beispiel soll zeigen, wie geschickt Naylor mit einer Verbindung verschiedener Themen spielt: In Mama Day gibt es (wie im Tempest und anderen Stücken Shakespeares) einerseits die klassische Stadt-Land-Gegenüberstellung: New York als Ort der Entfremdung, in dem nur Produktivität zählt vs. die verträumte Inselkultur, in der an Zeit kein Mangel zu herrschen scheint. Wie schon erwähnt, sind dies interessanterweise die Wahrnehmungsmuster des ursprünglich Fremden (Ophelias für die Stadt und Georges für Willow Springs), und beide werden im Laufe des Romans konterkariert und zurechtgerückt: Das Klischee des Molochs "Stadt" durch Georges New-York-Führungen (im übrigen eine wunderbare Stelle und gelungene Liebeserklärung an diese Stadt), die Vorstellung einer zeitentrückten (und damit dem Wandel fast entrückten) Gesellschaftsform auf dem Land durch die Unterhaltung von Miranda und Abigail, in der zur Sprache kommt, wie lange früher das Buttern dauerte. Hierdurch wird wieder auf die Zeitebene und damit auf die Tradition rekurriert, gleichzeitig aber wiederum auf den Gegensatz zu Georges geschichtsloser Stadtwelt verwiesen.

Nun hat Shakespeare die Motive in seinen Stücken häufig als Themen mit Variationen18 behandelt: eine Strategie, die es erleichtert, einen Großteil des Publikums zu erreichen, da sich jeder den ihm entsprechenden Entwurf für seine eigene Lebenswirklichkeit herauspicken kann. Indem aber unterschiedliche, häufig miteinander konkurrierende Problemlösungen angeboten werden, erreichen die Figuren (die ursprünglich sicherlich nichts anderes waren als Nachfolger traditioneller stock-figures) eine Komplexität, die zu dem führt, was Manfred Pfister die "Polyvalenz" oder die "offene Struktur" der jakobäischen Dramen nennt (Pfister 1974). Als Beispiele hierfür lassen sich Jago anführen (der durch Schauspieler wie Ian McKellan in Trevor Nunns Produktion für die Royal Shakespeare Company eine großartige Plausibilität und Vielschichtigkeit erhielt) oder Caliban, der eine für eine Nebenfigur beeindruckende Karriere gemacht hat – und das eben nicht nur in der Rezeption durch westliche Literaturwissenschaftler!

Zu Beginn der Rezeptionsgeschichte wurde die Figur des fast tierischen Inselbewohners, dessen Name als Anagramm von cannibal und damit als direkte Entwicklung aus dem Begriff Carib gelesen werden kann, vorrangig als Negativschablone gegen den Entwurf der zivilisierten Welt aufgefaßt – als grundsätzlich böse und damit als Paradebeispiel für die Argumentationsstruktur der Befürworter westlich-imperialistischer Kolonialisierungstendenzen. Wer derartig schlecht und lernunwillig ist, hat eben nichts Besseres zu erwarten!




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Diese Lesart war leicht zu begründen, da viele Kritiker den Tempest als Analogie auf Shakespeares Situation als Schriftsteller und Theatermann sahen: Als der seine Insel (und damit das Drama) scheinbar beherrschende Charakter, der am Schluß des Stückes auf seine Magie verzichtet, wurde Prospero zur Verkörperung des lebensweisen Philosophen, der sich, nachdem alles wieder ins Lot gebracht ist, endgültig zurückzieht. Wenn nun aber Prospero als Mann und Vertreter der "weißen" Magie für Shakespeare (the Bard) stand, wurden notwendigerweise alle Gegenspieler zu Figuren des Bösen – allen voran der viehische Caliban, Produkt einer Frau und Vertreterin der "schwarzen" Magie.

So sehr man sich freuen kann, daß derartige Deutungen inzwischen weitgehend überwunden worden sind, hat diese Richtung der Tempest-Rezeption in Lateinamerika eine äußerst kreative Entwicklung gefördert. Schon im letzten Jahrhundert begann im Zuge lateinamerikanischer Emanzipationsbestrebungen von der europäischen Kulturdominanz eine Umdeutung der Caliban-Figur, die sich später auch in der Produktion von Literatur niederschlug – dem rereading folgte das rewriting, ohne daß sich grundsätzlich die Deutung des Dramas auffächerte. Caliban wurde alleine schon deshalb zur Identifikationsfigur, weil er der Gegenpol zum Kolonialisator Prospero war. Eine Zusammenfassung der lateinamerikanischen Rezeption der Shakespeare-Figuren und deren Weiterentwicklung findet sich in Roberto Fernández Retamars von Revolutionspathos durchsetztem Aufsatz Calibán, der 1971 in der kubanischen Zeitschrift Casa de las Américas veröffentlicht wurde.19

Der Charakter literarischer Figuren wächst also im Laufe der Rezeption, jede neue Deutung fügt den schon vorhandenen neue Facetten hinzu, manchmal überlagern Interpretationen die vorherrschende Auffassung von Figuren auch so stark, daß eine lange Rezeptionsgeschichte eine neue Wendung erh&aul;lt, – so wird es in der Zeit der postcolonial studies kaum noch möglich sein, Caliban als das böse, dumpfe Triebmonster zu inszenieren. Die Konsequenz daraus ist, Prospero auch als gescheiterten Kolonisator sehen zu können: sein Machtverzicht ist nicht mehr Geste seiner Größe, sondern pure Resignation – Caliban bleibt entfremdet in einem zerstörten Paradies zurück.

Derartige Lesarten gewinnen ihre Konturen aber vor allem durch die Erschaffung von Gegenwelten und -figuren wie in Mama Day oder Marina Warners Indigo. Hierbei sollen die Autorinnen gerade nicht als Exegetinnen der in Shakespeares Texten schon angelegten "Bedeutung" verstanden (und damit nachgeordnet) werden; im Gegenteil – sie retten diese Texte für uns und ermöglichen dadurch das Weiterführen einer Tradition – und Gespräche mit denen, die vor uns waren.20

 

4 Perspektiven

In seinen Studien zum Wandel der Perspektivenstruktur in elisabethanischen und jakobäischen Komödien hat Manfred Pfister die Formgeschichte des englischen Dramas von den Moralitäten des fünfzehnten bis zu Shakespeares Komödien des frühen siebzehnten Jahrhunderts untersucht und dabei einen Wandel in der Perspektivenstruktur festgestellt. Die Darstellung der Figurenperspektiven innerhalb des Dramas verläuft dabei nach Pfister ungefähr nach folgendem Modell: in der aperspektivischen Form der Moralitäten sprechen die Figuren nicht aus ihrem perspektivischen Standort, sondern aus dem Standort des Autors.




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Im absoluten Drama dagegen werden teilweise kontrastierende Figurenperspektiven aufgezeigt, und es bleibt dem Zuschauer überlassen, den Konvergenzpunkt der angebotenen Lösungen aufzufinden. Im Drama der geschlossenen Perspektivenstruktur gibt der Autor dem Zuschauer "durch die 'Gewichtung' der Perspektiven, durch Informationen, die dem Zuschauer über die Figuren und Situationen zugespielt werden und durch außer-perspektivische auktoriale Signale wie Titel, Namengebung ('sprechende Namen') und Personengruppierung auf der Bühne[...] zwar implizit-indirekte, aber doch eindeutige Hinweise zur Rekonstruktion der intendierten Rezeptionsperspektive" (Pfister 1974: 24). Im Drama der offenen Perspektivenstruktur fehlen diese Hinweise des Autors dagegen gänzlich, die "Figurenperspektiven stehen zueinander in so komplexer und oft auch widersprüchlicher Relation, daß die intendierte Rezeptionsperspektive unbestimmt oder ambivalent bleibt. Der Entzug fertig vorgegebener Lösungen ist damit vollständig." (Pfister 1974: 25)

Das Modell ist für meine Arbeit so hilfreich, weil Pfister als perfektes Beispiel dieser Dramenform am Ende seines Buches eben gerade The Tempest analysiert und sich die Frage stellt: "Was für ein Text ist das aber, der sich so wenig festlegen und an so vielfältige und auch widersprüchliche Interpretationskontexte anschließen läßt?" (Pfister 1974: 163) Er kommt zu dem Schluß,

daß der Autor durch die Kontrastierung einander entsprechender perspektivischer Einschätzungen und Bewertungen dem Rezipienten zwar immer wieder auf implizite Weise eindeutige Wertsetzungen und Wertakzentuierungen vermittelt, daß sich diese aber nicht mehr in allen Fällen zu einer geschlossenen Werthierarchie zusammenfügen lassen, sondern sich gegenseitig widersprechen und somit aufheben. Versucht man diese einzelnen positiven Wertsetzungen zur intendierten Rezeptionsperspektive zusammenzufügen, dann stehen einander ausschließende Werte nebeneinander – Natur neben Bildung, Freiheit neben Bindung, gläubiges Vertrauen neben realistischer Kritik, Wirklichkeit neben Utopie, menschliche Beschränkung neben Magie. Diese Antinomien werden also nicht, wie im Drama der geschlossenen Perspektivenstruktur, in einer übergreifenden Rezeptionsperspektive aufgelöst und entschieden, sondern bleiben unaufgelöst und problematisch. [...].Da der Autor durch die beschriebene Zuordnung der Figurenperspektiven dem Zuschauer die Möglichkeiten entzogen hat, die Situationen und Konstellationen aus einer eindeutigen und konstanten Rezeptionsperspektive zu beurteilen, sieht sich dieser in die Offenheit des Widerspruchs, in die Offenheit einer polyperspektivischen Rezeption hineinverwiesen. Sie verlangt ihm eine selbständige, vom Autor nur noch insofern gelenkte Entscheidung ab, als durch das Arrangement der Figurenperspektiven die Wertrelationen in all ihren Aspekten analysiert und bewußt gemacht wurden. Der Rezipient sieht sich damit vor die Wahl gestellt, entweder eine solche Entscheidung in voller Bewußtheit ihrer perspektivischen Relativität zu treffen, oder sie aber zu suspendieren und den Widersprüchen der Polyperspektive offen zu bleiben. (Pfister 1974: 208)

Diese in den Theaterstücken durch Genre (romance) und Gattung immanente Vielstimmigkeit und Polyvalenz wird in Naylors Roman durch die Bewegung zwischen verschiedenen Erzählinstanzen auch auf der theoretischen Ebene der narrativen Funktion zitiert. Als Stanzelianer würde man vielleicht sagen, der Roman sei in der auktorial-personalen Erzählsituation (und damit der Erzählnorm des modernen Romans) mit Einschüben aus der Ich-Erzählsituation zwei verschiedener Charaktere geschrieben. Doch bei der Einordnung in ein derartiges Paradigma ergeben sich Schwierigkeiten. Einerseits, und dessen ist sich Stanzel auch ganz bewußt (zumindest in der Zweitauflage seiner Theorie des Erzählens, die immerhin 25 Jahre nach der Erstausgabe erschien), besteht in der Begrifflichkeit der Theorieführung zwischen deutscher und englischsprachiger Philologie ein gewisser Unterschied (was auch im Sprachwechsel liegen mag), der vielleicht auch die Begrenztheit solcher Begrifflichkeiten und Interessen deutlich macht.




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Andererseits beschäftigt sich Stanzel in seinen Analysen vornehmlich mit Romanen aus dem weißen westlichen Kanon, für eine Beurteilung der Strategien "schwarzer" Romane scheint mir sein Modell nicht ausreichend. In Antwort auf mögliche Kritik von Anhängern der Deviationstheorie (jedes Werk konstituiert sich durch die Brechung literarischer Normen) schreibt Stanzel, "daß jedes Werk in der Schnittlinie zwei einander entgegengesetzter Normsysteme liegt, dem des Prototyps der ES [Erzählsituation] und dem der ES als Idealtypus." (Stanzel 1995: 20) Stanzel führt weiter aus, daß Autoren vom Prototyp meist unbewußt abweichen, die Deviation vom Idealtypus dagegen meist eine "bewußte Reaktion des Autors auf das in der Massenliteratur geläufigste Erzählmodell" sei. (Stanzel 1995: 19)21

Anschließend nennt Stanzel mit Namen wie "W. Burroughs, John Barth, Thomas Pynchon, Kurt Vonnegut jr. u.a." noch einige Autoren, die "die Deviation von allen Normen und Konventionen der Erzählkunst bis zum äußersten getrieben" (Stanzel 1995: 19) haben, Autoren also, die die Gemachtheit ihrer Texte in hohem Maße ausstellen und somit deren Literarizität betonen. Die forefront of the avantgarde scheint auch hier nur aus white males (das mit dem dead konnte bei den zeitgenössischen Romanen nicht ganz funktionieren) zu bestehen. "Nicht-weiße" experimentelle Romane müssen auf ihre Eingliederung in den Kanon (und die Kategorisierungen der Sekundärliteraturen) wohl noch etwas warten; doch darf man Stanzel zugutehalten, daß es sich auch bei der Ausgabe von 1982 um die redigierte Fassung eines Buchs aus den Fünfzigern handelt.

Mir geht es hier gar nicht darum zu beurteilen, wie tauglich Stanzels System für die Analyse eines "Minderheitenromans" ist. Bemerkenswert war für mich in der Argumentation vor allem die Binarität der Einteilung in "Massenliteratur" und "experimentierfreudige Hochkulturschöpfer". Nun läßt sich Mama Day nach dieser Systematisierung aber gar nicht so leicht einordnen, sondern erfüllt als post-postmoderner Roman diverse Aspekte aus beiden Kategorien.

 

Naylor erreicht die von Pfister beschriebene Relativität der Beurteilungen der Lebenswelt durch verschiedene Mittel. Einerseits, und das ist wohl der offensichtlichste Ausdruck, stellt sie die Erfahrung der Wirklichkeit in den Erlebnisberichten der zwei Ich-Erzähler George und Cocoa gegenüber. Außerdem handelt es sich beim Erzähler der Teile, die in der dritten Person geschrieben sind, eben nicht um einen "klassischen" auktorialen Erzähler (allwissend, gottgleich), sondern vielmehr um eine Mischung aus dem "knower of the narrative story", also einem personalen Medium oder einer Reflektorfigur.22 Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die Erinnerung an die community voice der Einleitung, die durch die erste Person Plural vermittelt wird.23 Diese beeinflußt die Wahrnehmung der auktorial-personalen Teile des Romans und verleiht diesen dadurch eher den Charakter einer bloßen weiteren Perspektive. Also muß sich auch hier der Leser (wie Pfister es für die Rezeption des Tempest beschrieben hat) für "seine" Wirklichkeit selbst entscheiden oder das Nebeneinander verschiedener Wirklichkeiten anerkennen. Dies wird auch innertextlich vor Augen geführt, da George eben an einer solchen Auslegung der Welt gescheitert ist.24




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Daß hier nicht versucht werden soll, zeitgenössischer Literatur Interpretationsrahmen alter Hüte überzustülpen, zeigt sich durch die Verwandtschaft verschiedener Begriffe für Positionen der neueren schwarzen Literaturkritik zur von Pfister für den Tempest beschriebenen Polyvalenz. So stellt Mae Gwendolyn Henderson fest, daß Bücher schwarzer Autorinnen weder nur auf gender noch nur auf race hin gelesen werden dürfen. Sie plädiert für eine "theory of interpretation based on what I refer to as the 'simultaneity of discourse'". Schwarze Frauen sind prototypisch für "the 'other' of the other's" und sprechen daher "in a plurality of voices as well as in a multiplicity of discourses." (Henderson 1993: 134)

Um auf die "multiplicity of discourses" hinzuweisen, verbindet Naylor die Beschäftigung mit den erzähltheoretischen Aspekten von Zeit aber auch mit dem Hinweis auf einen Aspekt, der traditionell als hervorstechendes Merkmal der schwarzen Literatur gesehen wurde: die Verschriftlichung des vernacular. Doch durch den Hinweis auf einen beispielhaft metafiktionalen Text wie The Tempest wird das Ineinanderweben von Schriftlichkeit und Mündlichkeit nicht mehr zu einer bloßen Emanzipation von der überlieferten Hauptrichtung des weißen Kanons.25 Die Verbindung zeigt vielmehr, daß beiden Traditionen ähnliche Fragestellungen zugrundeliegen, wirkt aber dennoch nicht oberflächlich vermittelnd, da der Text eine eindeutige Entscheidung für die dargelegte Gesellschaftsalternative (weiblich – und wenn schon nicht Land, dann doch kleinere Stadt) trifft.

Allerdings kann die Verschriftlichung des black vernacular inzwischen auch schon wieder als Zitat gesehen werden und wird daher nicht in gleichem Maße konsequent verfolgt, wie das in früheren Texten des afro-amerikanischen Kanons teilweise zu spüren ist. Dabei wird gleichzeitig das Grundproblem Mündlichkeit/Schriftlichkeit und die Sozialisation der Figuren in (und das Hin- und Hergerissensein zwischen) zwei Welten thematisiert. Dabei zitiert der Text aber auch hier verschiedene Topoi, die im Tempest zu finden sind:

Die Struktur der Vorlagen beinhaltet meist eine Reise oder Flucht einiger Hauptfiguren aus einer korrumpierten Stadt-/Hofwelt in eine zumindest anscheinend idyllische Gegenwelt, in der die Probleme der Charaktere gelöst werden, so daß einer Rückkehr in die alte nunmehr aber geläuterte Welt nichts mehr entgegensteht. Wirkt die Gegenwelt zwar als Katalysator der Problemlösung, scheint sie sich dennoch für einen dauernden Aufenthalt nicht zu eignen. In Mama Day findet die räumliche Bewegung nun aber nicht mehr im diachronen Lauf der Geschichte statt wie in den meisten Vorbildern aus der Renaissance) New York und Willow Springs werden einander immer wieder gegenübergestellt – schließlich sind wir ja Zeugen des Gesprächs zwischen einer Erbin Sapphira Wades und einem schon transformierten/transzendierten George. Es gibt auch hier zwei Welten gleichzeitig: Wie schon erwähnt weist uns die communal voice zu Beginn des Buches darauf hin, daß sie (das we des Buches) zwar die ganze Zeit über in Willow Springs ist, wir (you) dagegen irgendwo. Und dennoch sind beide Welten natürlich nur eine: "Uh, huh, listen. Really listen this time: the only voice is your own." (MD: 10) Sprache, Denken und die Bewegung innerhalb des Textes werden miteinander verschmolzen. Erleben wir eine halbe Stunde oder einen Nachmittag auf dem Friedhof, fünf Jahre, zwanzig Jahre, hundertachtzig Jahre (1819 wurde Sapphira an Bascombe Wade verkauft), zweihundert Jahre (1799 wurde Sapphira geboren) oder einen Zeitraum, der sich überhaupt nicht mehr messen läßt? Was macht Fiktion mit Zeit?




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Auch hier haben wir den Tempest als Vorbild. Zeit taucht als Topos im Tempest geradezu penetrant häufig auf (unter anderem wurde vermutet, Shakespeare habe darauf hinweisen wollen, wie sehr sein Text aristotelischen Vorgaben entspricht) – meist ist es Prospero, der den Mangel an Zeit betont oder eben auf den zeitgemäßen Ablauf des Plans hinweist. Dabei handelt es sich aber nicht nur um einen Hinweis auf das Funktionieren von Erzählung (wie die Expositionsrede) oder Theater; die Besessenheit macht auch Charaktereigenschaften der Figur deutlich, Prospero bewegt sich immer noch in den merkantilistischen Denkstrukturen seiner Heimatstadt – und hat sich nicht etwa einem Paradies angepaßt.26 Die Wahrnehmung der Zeit aber bleibt subjektiv und individuell – wie die Wahrnehmung der Natur. Die Wahrnehmung Insel entspricht der Wahrnehmung der Welt (und damit dem Charakter): sie kann wüst und leer sein (wie für die Verschwörer Antonio und Sebastian), grün und fruchtbar (wie für den idealistischen Schwärmer Gonzalo) oder voller Beeren, Quellen, Töne und Träume (wie für Caliban). Auch das wird in Mama Day zitiert: Willow Springs ist für die Immobilienagenten etwas anderes als für Miranda oder George27 oder Dr. Buzzard oder Ruby. Auch New York wird, wie schon erwähnt, von Ophelia (zumindest zu Beginn der Geschichte) ganz anders wahrgenommen als von George.

Wie leicht man den Boden unter den Füßen verlieren kann, wenn man der eigenen Wahrnehmung vertraut, zeigt sich im Tempest aber auch durch die Täuschungen und Zaubereien, mit denen Prospero mit Hilfe Ariels die Pläne der Verschwörer durchkreuzt. Bei Naylor wird dieses Motiv drastisch ausgearbeitet, wenn sich für Ophelia im Fieberwahn ihr eigener Körper entgrenzt und nicht mehr "objektiv" wahrnehmbar ist. Auch hier zeigt sich, wie Naylor zuerst ein Motiv direkt anzitiert (Subjektivität der Wahrnehmung in Bezug auf die Umwelt), es dann verwandelt und in einen neuen Kontext einbaut (Liminalität/Körperlichkeit als typischer gender-Bezug).

 

5 Signifyin(g)

Diese geschickte Verwendung von Motiven und Sprache als Kommentar auf Texte der die eigene Kultur unterdrückenden Gesellschaft hat Gates als Ausgangspunkt und Grundlage für die Entwicklung einer schwarzen Literaturtheorie genommen.

In seinem Buch The Signifying Monkey beschreibt er, wie sich unter den Sklaven Amerikas eine Art Sprachcode entwickelt hat, der mit der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder einer Aussage spielte, indem er sie mit einer zweiten (dem weißen Standard-English-Sprecher unbekannten) Bedeutung unterlegte. Diese Theorie des gleichzeitig eigentlich und uneigentlich Sprechens ist sowohl für die Einschätzung schriftlicher als auch mündlicher oder außertextueller Äußerungen (Musik, Tanz etc.) bedeutsam.

In einer Analyse des postmodernen Romans Mumbo Jumbo zeigt Gates, wie Reed in einem grandiosen Pastiche eine schwarze Gegengeschichte zur Überlieferung der 'weißen' Geschichtsbücher aufgebaut und letztere gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen zitiert und parodiert hat. Dabei hat sich Reed mit überbordender Freude der unterschiedlichsten Aspekte der Textproduktion bedient und einen Roman geschaffen, der sich durch hohe Literarizität und äußerste Vergnüglichkeit auszeichnet. Dennoch handelt es sich bei Mumbo Jumbo (wie bei eigentlich allen Büchern Reeds) um einen satirischen Text mit starker politischer Ausrichtung.




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Vertreter afro-amerikanischer Literaturtheorie hatten lange Zeit experimentellen und damit am ehesten metafiktionalen Texten jegliche politische Relevanz abgesprochen. In Opposition und Abgrenzung gegen westlich-modernistische Entwicklungen definierte man das 'wahre' Wesen afro-amerikanischer Kultur als inhaltsfixiert – eben als dem Realismus und den damit verbundenen politischen Anklagen verwandt und nicht avantgardistischen Spielereien nach westlichem Vorbild. Noch Larry Neal unterschied in seinem "And Shine Swam On" zwischen einer politisch und soziologisch relevanten und damit genuin schwarzen Literatur in der Nachfolge Richard Wright's und einer versponnenen, autoreflexiven, nicht nachahmenswerten, die sich in Texten wie Ralph Ellisons Invisible Man manifestierte.

Der Streit, der sich daraufhin auf die Gretchenfrage "Wie hältst Du's mit der Politik?" entwickelte, führte zu einer Spaltung, die erst im Laufe der Achtziger und Neunziger durch eine weitere Aufsplitterung der Literaturtheorien zu einer Revision führte. Gerettet wurde die Situation dadurch, daß man die Bedeutung der Teilhabe des Rezipienten am Text betonte. Texte, die zuvor als solipsistisch in sich versponnene Produkte gesehen worden waren, wurden so wieder demokratisiert.28

 

Ist das Dechiffrieren bei dezidiert postmodernen Texten (wie Reeds Mumbo Jumbo) ein absolut unverzichtbarer Bestandteil des Lesevergnügens (Gates' What does this mean?), so arbeiten Naylors Texte anders – sie lassen sich auch als Romane lesen, deren Entschlüsselung nur geringe Schwierigkeiten bietet. Die literarischen Anspielungen sind zwar gleichfalls nahtlos in den Text eingearbeitet, aber nicht eben essentiell, um der Handlung oder den Konzepten/Weltbildern zu folgen.29 Auch hierin ähnelt Mama Day Shakespeares Stücken, die als Volkstheater gleichermaßen für die groundlings wie für den Hof funktionieren mußten.

Mama Day kann sicherlich nicht als hauptsächlich satirischer Roman bezeichnet werden; dennoch dürften viele der Bemerkungen, die Gates anhand der Lektüre von Ishmael Reeds Mumbo Jumbo anstellt, auch auf diesen Text zutreffen. Erst weil postmoderne Texte wie dieser den Grund bereitet (und Theorien wie die von Gates inspiriert) haben, kann es gelingen, Romanen wie Mama Day gerecht zu werden, indem man sie als Antwort und als Fortschreiben zweier (oder mehrerer) Traditionen liest.

Mama Day antwortet in Form eines westlichen Kulturgutes auf andere westliche Kulturgüter, stellt sich dabei aber gleichzeitig in einen Kanon, der die westlichen Vorbilder parodiert und subversiv unterläuft. Es kann 'eigentlich' und 'uneigentlich' (im Sinne von Gates' Signifyin(g)) gelesen werden.30

Die Qualität des von mir so gern geschmähten Konzepts von Gates zeigt sich eben auch darin, wie treffend sich seine Thesen auf gänzlich unterschiedliche Texte anwenden lassen.

Der/die Autor/in wurde getötet – und wieder auferweckt.31 Zeigten Reeds Texte, daß nicht nur im Realismus, sondern auch in metafiktionalen Werken politische Brisanz stecken kann, so schreibt Naylor nun Romane, die, obwohl sie durch ihre Positionierung in den Kanon (eigentlich mehrere) ebenfalls politisch sind, gleichzeitig belletristisch wirken. Daraus folgt aber eben auch, daß ihr Signifyin(g) zurückhaltender ist als Reeds.




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6 Miranda

Bei der Verwendung von Figurennamen aus den Stücken Shakespeares handelt es sich dagegen um eine sehr viel direktere Art der Intertextualität. Anhand eines Beispieles möchte ich auch hier zeigen, wie es Naylor gelingt, durch ein Zitieren, das jeweils mehrere Aspekte der angesprochenen Quellen verbindet, die shakespeareschen Vorlagen und deren Rezeption zu kommentieren.

Miranda ersetzt Prospero – aus der zentralen Figur des weißen Potentaten, für den es kein Alternativsystem zur Hierarchie geben kann, wird die weise schwarze Frau, die die Gemeinschaft zusammenhält und damit deren Weiterbestehen sichert. Aus der gerade erst geschlechtsreif gewordenen submissiven Tochter, der die zukünftige Rettung (zumindest aber Erhaltung) des Staates (bzw. der Staaten – Mailand und Neapel) obliegt, wird die lebenserfahrene, notgedrungen kämpferische Alte, die aus der Familie stammt, die traditionell das Herz von Willow Springs bildet – es wird zudem betont, daß sie nicht selbst Kinder haben muß, um ihre Bedeutung für den Erhalt der Inselkultur zu beweisen, als Hebamme ist sie von jeher der Garant für das Überleben der Gemeinschaft gewesen.32

Anders als Prospero ist sie aber nicht die Beherrscherin der Elemente, doch sie versucht ja auch nicht, sich ihre Insel zu basteln (die zumindest teilweise schon die durch Gonzalo in den Tempest verpflanzte Utopie aus Montaignes Essays darstellt), auch wenn allzu naive Vorstellungen eines ländlichen Paradieses der guten alten Zeit sich sowohl durch die Geschichte der Sklaverei als auch durch den Verweis auf die Mühsal des Lebens von "damals" verbieten. Letzteres wird besonders deutlich, als sich Miranda und Abigail darüber unterhalten, wie mühsam es früher war, auch nur ein Stück Butter herzustellen.33

Der Tempest ist ein fast frauenloses Stück – nicht nur, daß Miranda der einzige weibliche Charakter ist, auch die Mütter sind entweder als Leerstelle angelegt (Prosperos Frau) oder unheimliche Monster (Sycorax, Calibans Mutter und frühere Beherrscherin der Insel). Sycorax wurde lange Zeit in der traditionellen Shakespeare-Forschung als Antithese zur weißen Magie Prosperos gesehen, sie steht somit für die Unheimlichkeit des verschwundenen Matriarchats und wirkt in unheilvoller Weise durch die Triebhaftigkeit ihrer Nachkommen (Caliban steht ja als korrumpierte Form von carib wahrscheinlich für alle Bewohner der neuen Welt, die nicht Geister oder Imperialisten sind) in unsere Zeit nach. In Mama Day haben wir es nun mit einer mythischen Urmutter zu tun, deren Name ebenfalls mit dem Buchstaben 'S' beginnt. Ist der Name 'Sycorax' im Tempest zwar noch bekannt, aber aufgrund der Interpretation der Welt durch einen autokratischen Herrscher wie Prospero verfemt, wird in Naylors Roman die Verdrängung der Kulturgründung durch das Wiederauftauchen des Namens 'Sapphira' wieder rückgängig gemacht. Mit einer totalen Umbewertung der Paradigmata von Kultur hat sich die patriarchale Lesart des Tempest als reines Künstler- oder Kolonialisatorendrama schon lange erledigt. Gloria Naylor beweist jedoch einmal mehr, daß sie ihre Zitate nicht auf eindeutige Interpretierbarkeit hin ausrichtet, sondern eine Verschwommenheit und Unentschiedenheit der Motive weitertreibt, in der sich sowohl die Rezeptionsgeschichte des Tempest als auch die Entwicklung neuerer schwarzer Literaturtheorie spiegelt.

Steht Miranda nun für Prospero, so treten einerseits die Töchter an die Stelle der Väter, andererseits verdichtet Miranda/Mama Day die Familiengeschichte der Days auf die Gegenwart; als Erbin Sapphiras wird sie über die Assoziation Sapphira/Sycorax gleichzeitig zum im Tempest noch außerhalb des weißen Herrschers personifizierten Gegenprinzip der schwarzen Magierin. Nun wird der Konflikt weiße versus schwarze Magie aber in Mama Day auch nicht mehr intergeschlechtlich dargestellt. Mirandas Gegenspielerin ist ebenfalls eine Frau (Ruby) – die Macht der Magie ist durch und durch weiblich geworden. Der einzige männliche Zauberer (Dr. Buzzard) wird als con artist beschrieben – und damit eher als Zitat auf Shakespeares clowns und jester-figures.




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Noch einmal: Auf einer konkreten Ebene hat Miranda Prospero ersetzt und somit einfach die Geschlechterfolge im Tempest wiederholt, da sie aber Erbin von Sapphira ist, wird das System Prospero parodiert und ad absurdum geführt – genau da findet das signifyin(g) statt.

Ähnliches geschieht mit der Einführung verschiedener Namen für eine Person/Signifikat – birth name ; Schriftlichkeit und Verbindung mit der weißen Herrschaftskultur – zusätzlich wird hier der Brauch des Sklavennamens als Zitat und Mittel der Ridikülisierung (z.B. Pompey) umgedreht: die Familie benennt sich selbst nach Figuren aus der Apotheose des westlichen Kanons schlechthin und erreicht auch dadurch ein rewriting von Phänomenen der weißen Kultur.

Außer der Widmung "For Corlies Morgan Smith" finden sich vor dem Einleitungskapitel eine Karte auf zwei Seiten und auf je einer Seite der Titel des Romans, ein Stammbaum und die sales deed über eine Sklavin (Sapphira) aus dem Jahr 1819. Einerseits zitieren diese 'Dokumente' die Legitimierungsstrategien der slave narratives, Naylor verwendet aber gleichzeitig auch Mittel, die Reed als Zitat auf Ellison in Mumbo Jumbo angewendet hat.34 Innerhalb des Romans wird der Leser durch diese vorgeschalteten Seiten in Verbindung mit dem Einleitungskapitel aber auch auf die Probleme der Informiertheit, Orientierung und Perspektive gelenkt – hierin ähnelt der Beginn des Buches wiederum dem Beginn des Tempest: Ist die Karte durch ihre Einfachheit und Holzschnitthaftigkeit auch eine Parodie auf westliche Kartographie und auf Georges verzweifelte Suche nach einem Anhaltspunkt,35 so erhalten wir Leser sogar der communal voice und Miranda gegenüber einen Wissensvorsprung, indem wir den Namen der mythischen Urmutter Sapphira erfahren.36 Im Tempest wird, nach einer äußerst verunsichernden ersten Szene (Schiffbruch – der Boden unter den Füßen geht verloren), die Vorgeschichte des Textes in der für Shakespeare ungewöhnlich ausführlichen Expositionsrede Prosperos dargelegt; gleichzeitig erfährt der Zuschauer auch, daß den Schiffbrüchigen nichts geschehen ist, ein Wissen, das die voneinander Getrennten nicht mit ihm teilen. Trotz dieser Vorinformation des Rezipienten gelingt es in beiden Fällen nicht, aus den Kenntnissen ein Gerüst zu bauen, das einen festen Standpunkt und damit Übersicht über die vom Text erschaffene Welt erlaubt.

 

7 Schluß?

Das Ende des Romans überrascht zunächst: Die Sicherheit, die Ophelia gewinnt,wirkt äußerst konventionell – sie heiratet, hat zwei Kinder und läßt sich in Charleston nieder. Dennoch bedeutet das nicht zwangsläufig, daß der Roman somit auf den letzten Seiten die bis dahin gehaltene Unentschiedenheit und Zwiespältigkeit durchbricht, um für die westlich-bürgerliche Idylle der Kleinfamilie zu optieren.37 Entscheidend ist dabei nämlich, daß dieses Ende eine dritte Lösung anbietet und somit die Entscheidung für New York oder Willow Springs verweigert; diese Möglichkeit glaubwürdig zu gestalten scheint für Gloria Naylor ein zentrales Anliegen gewesen zu sein. In der Entwicklung ihres eigenen Kanons stellt das ein Novum dar, zumindest wenn man Barbara Christians Lesart von Naylors ersten zwei Romanen betrachtet:




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For Naylor does not so much give us solutions as she uses her knowledge of African-American women's literature to show how complex the conditions of powerless groups are. She may be the first African-American woman writer to have such access to her tradition. And the complexity of her two novels indicates how valuable such knowledge can be. In doing her own black feminist reading of her literary tradition so as to dramatize the convoluted hierarchy of class, race , and genderdistinctions in America today, she has begun to create a geographical world in her fiction, as varied and complex as the structure of our society. (Christian 1990: 372)

Ophelias Entscheidung und Schicksal bedeuten nun einen Kompromiß, gewissermaßen die realisierbare Lösung der Dilemmata (Stadt/Land, Afrika/Amerika), in die sie hineingeboren wurde. Komplexität, die sich durch Ausweglosigkeit ergibt, wird dabei zwangsläufig teilweise unterlaufen, wenn sich der Text am Ende doch für einen Ausblick in die Zukunft entscheidet. So sehr die Handlungsparallelen einen Vergleich mit den grünen Gegenwelten der Renaissancedramen nahelegen, setzt sich der Roman in diesem Punkt doch entschieden vom Interesse der Vorlagen ab, wirken die Schlüsse der Shakespeare-Stücke (zumindest der Komödien und des Tempest) doch häufig erzwungen und ohne Teilnahme an der Zukunft der Figuren. Verheiratet wird, was sich nicht wehrt, und wer böse war, bekommt seine Lektion, die er annehmen kann oder auch nicht. Daß dies eben nicht immer funktioniert, wird im Tempest mit Caliban, Sebastian, Antonio, Stephano und Trinculo an erstaunlich vielen Figuren gezeigt.38

Am Ende des Tempest stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Erziehungsversuche Prosperos. In Mama Day dagegen wird die größte Anstrengung und Selbstaufgabe letztlich doch belohnt: Schließlich wird durchaus der Eindruck vermittelt, Georges Tod habe einen Sinn erfüllt und Cocoa/Ophelia/Baby Girl zu einem weniger gespaltenen Leben verholfen. Ich glaube aber auch, daß dieses Ende für die Idee der Selbstreflexion von Literatur und Kultur entscheidende Aussagen trifft.

Wie schon erwähnt, handelt es sich bei Mama Day eben auch um einen metafiktionalen Text, noch dazu um einen, der unter anderem auch das Problem des Gefangenseins zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Produktion von Kultur und Lebenswirklichkeit behandelt. Zeigt sich Ophelias Zukunft als Verbindung verschiedener Kulturen, ergibt sich nun auch für den Text eine teilweise integrationistische Lesart: Die zitierten Lebensentwürfe werden zwar durchaus noch gewertet, doch wird die Utopie nunmehr auf die Realisierbarkeit der Lösung verschoben. Ein Wandel, der dabei eintritt, muß nicht unbedingt negativ sein: Die Passage, in der Miranda über die Veränderungen des Candle Walk nachdenkt, jener Feier, die an Sapphira erinnert, läßt zumindest keinen Kulturpessimismus spüren:

And Miranda says that her daddy said his daddy said Candle Walk was different still. But thats where the recollections end – at least, in the front part of the mind. And even the youngsters who've begun complaining about having no Christmas instead of this "old 18 & 23 night" don't upset Miranda. It'll take generations, she says, for Willow Springs to stop doing it at all. And more generatioms again to stop talking about the time "when there used to be some kinda 18 & 23 going-on near December twenty-second." By then, she figures, it won't be the world as we know it no way – and so no need for the memory. (MD: 111)

Kultur überlebt, wenn sie sich ihrer Tradition bewußt ist und dennoch akzeptiert, daß sich die Welt verändert. Dazu müssen wir die Versatzstücke unserer Kultur immer wieder überprüfen und, falls nötig, eben überschreiben – die Brillanz, mit der Naylor dies eben auch mit den westlichen Vorbildern tut, legt ein anderes Interesse als blanke Ablehnung nahe.




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Naylor spricht mit den Lebenden und den Toten und läßt uns an dieser Unterhaltung teilhaben. Sie zeigt aber auch, daß es für das Weiterleben immer verschiedene Möglichkeiten gibt: Miranda hat, obwohl selbst kinderlos, dennoch die von Sapphira ererbte Gabe der Days erhalten: zu heilen, die Gemeinde zu führen und mit den Geistern in Kontakt zu treten. Ophelia wird deutlich als ihre Nachfolgerin gezeigt, auch sie kann sich mit den Geistern unterhalten, wie uns ihr Gespräch mit George zeigt. Doch sie bleibt nicht in der Gemeinde, sondern führt die Linie der Days außerhalb Willow Springs selbst fort. Wenn damit auch eine Verbindung unterschiedlicher Lebensgewohnheiten verknüpft ist, ergibt sich für mich dennoch kein einheitliches Weltbild. Zu stark beharrt der Text auf der Individualität der Weltsicht: "But when I see you again, our versions will be different still", sagt Ophelia zu George am Ende des Buches. Dies wird, und dabei hilft uns Gloria Naylor – wie für all die anderen (Caliban, Ferdinand, Miranda, Shakespeare, Prospero, Greenblatt, Gonzalo, Levy, Erickson, Lear, Morrison, Reed, Gates) auch für uns so bleiben – "there are just too many sides of the whole story".

 

Bibliographie

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Christian, Barbara (1990): "Gloria Naylor's Geography: Community, Class, and Patriarchy in The Women of Brewster Place and Linden Hills", in: Gates, Henry Louis jr. (ed.) Reading Black, Reading Feminist. New York.

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Fowler, Virginia C. (1996): Gloria Naylor. In Search of Sanctuary. New York.

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Levy, Helen Fiddyment (1993): "Lead on with Light" in: Gates, Henry Louis jr. u. K. A. Appiah (ed.) Gloria Naylor. Critical Perspectives Past and Present. New York.

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Shakespeare, William (1989): The Tempest ed. Frank Kermode (ed.) London.

Stanzel, Franz K. (1995): Theorie des Erzählens, Göttingen.

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Waltenberger, Michael (1999): Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im 'Prosa-Lancelot'. Frankfurt am Main.

 

Anmerkungen

1 Ich erwarte hiernach den guten Willen des Lesers, geschlechterspezifisch politisch korrekte Formen zu ergänzen, da ich mich weder für das Binnen-I noch für die Wiederholung in zwei Genera erwärmen kann.

2 Als direkte Initiation der eigenen Karriere sieht Naylor selbst die Begegnung mit Toni Morrisons The Bluest Eye, das sie in einem Kurs am Brooklyn College las. Den Eindruck, den das Buch auf sie machte, beschreibt sie auch in einem Gespräch mit Toni Morrison: "I knew without a doubt that Jessie and I shared the same blood. And so that meant, somehow, the writer who could create a Bluest Eye was just like me." (Naylor 1985: 569) Dazu auch das Zitat in Ericksons Aufsatz (leider ohne Quellenangabe), das sich auf die meist männlichen weißen Autoren bezieht, die Naylor bis dahin kennengelernt hatte: "But for me, where was the authority for me to enter this forbidden terrain? But then finally you were being taught to me."

3 Naylors Aussagen verdeutlichen sicherlich die noch immer wirkenden Strategien unseres Kultur- und Ausbildungssystems, das Texte eben nur dann bereitwillig zur Kenntnis nimmt, wenn sie mehrheitenkonform sind. Die Schwierigkeiten, ein Forum zu finden, die Frustration darüber, nicht in den 'herrschenden Kanon' aufgenommen – und die daraus resultierende Angst, nicht gehört zu werden, kommt in vielen Texten schwarzer Frauen zum Ausdruck. So wird durch die Negierung der Teilhabe am anerkannten Kulturbetrieb auch eine mögliche Diskussion dieser Rasse der 'double nonentities, Black women' verhindert. Mit diesem Ausdruck beklagt sich Barbara Smith in ihrem Aufsatz Toward a Black Feminist Criticism, über die Nichtachtung unzähliger Texte durch diverse Kritiker – auch weiße Feministinnen, die ihrer Meinung nach die Strukturen ihrer männlichen Kollegen (schwarz und weiß) nur allzu bereitwillig wiederholen.




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4 Ich vertrete hierbei ein ziemlich simples Intertextualitätskonzept. Der "spätere" Text reagiert auf den "früheren" und auf etablierte Muster, die ihre Entstehung ebenfalls "früheren" Texten verdanken. Daß ich vorrangig Naylors Beschäftigung mit westlichen Vorbildern behandle, soll keine Wertung kultureller Systeme bedeuten.

5 Auch in einem Interview mit Kay Bonnetti verleiht Naylor ihrer Überzeugung Ausdruck, Literatur könne nicht direkt politisch wirken (Bonetti 1988).

6 Daß Naylor die Beschäftigung mit den Texten der white males nicht hauptsächlich als Überwindung negativer Vorbilder sieht, zeigt sich auch in dem schon zitierten Interview mit Virginia Fowler. Dort sagt sie über Shakespeare: "[...]I admire the span of his career, the things he attempted – not always successfully- and the courage of his vision. He got beyond his little world." (Fowler 1996: 149).
Auf die Frage nach ihrem nächsten Roman (Arbeitstitel Sapphira Wade!) und seine Verbindung zu Mama Day,nennt sie Faulkner als ein anderes Vorbild (worauf auch Fowlers Untertitel In Search of Sanctuary anspielt): "When this interview lives in our minds, it will live in two totally different worlds, two totally different perspectives, and what is the truth? None of it and all of it. And that's what I was attempting to do with that [mit Mama Day]. One of the things I was attempting to do – I was doing a lot of stuff. Faulkner was in that, in the structure of that. As I Lay Dying." (Fowler 1996: 152).
Auch in einem anderen Punkt zitiert Naylor eine faulknersche Schreibtechnik – wie dieser verknüpft sie ihre eigenen Romane zu einem Netz; beispielsweise erwähnt Ophelia bei ihrem Vorstellungsgespräch den Brand in Linden Hills: "Well, that was my cousin Willa and her husband and son." (MD: 31).

7 "Naylor implies that the home place, existing in 'no state,' enriches the America outside despite its distance and isolation. Cocoa, for example, sees New York not as a city, but as a collection of small towns; her childhood experience of the mothers enables her to humanize the impersonal urban setting. Her experience with Willow Springs accompanies her to the city, but George's childhood leaves him unable to understand the mores of Mama Day's island as his experience with the gambling circle illustrates – he exposes and defeats an ancient male charlatan, robbing the old man of one of his few illusions. When the mainland developers seek to buy the island, promising jobs and prosperity for Willow Springs, Miranda sends them packing from her women's world because 'even well-meaning progress and paradise don't go hand in hand.' The regimented, impersonal society and its language gain no foot-hold on Sapphira's island." (Levy 1993: 283)

8 Was sich dagegen zeigt, ist, daß Ophelia lernfähig ist, George jedoch nicht; Levy argumentiert aber eben nicht so; sie geht eher von einer geschlechterspezifisch unterschiedlich ausgeprägten Prädisposition der Welterfahrung aus.

9 Auch hier möchte ich darauf hinweisen, daß ich nicht grundsätzlich die Notwendigkeit einer politischen Literaturwissenschaft in Abrede stelle, doch erscheint es mir unbedacht, die (traditionell) westlichen Ausschlußkriterien anzuwenden und gleichzeitig die moralische Überlegenheit eines nicht-weißen, nicht-westlichen, nicht-mittelklasse-orientierten literarischen Kanons zu propagieren.

10 Dieser Wunsch läßt sich auch im neueren literaturwissenschaftlichen Jargon ausarbeiten. Bei Michael Waltenberger, der im Einleitungskapitel seines Buches Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im 'Prosa-Lancelot' die foucaultsche Interdiskursivitätskonzeption zusammenfaßt und als Grundlage für seine Arbeit am Lancelot anlegt, klingt das folgendermaßen:




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"Dabei bietet es sich an, den in der Metaphorik des Paradigmas bereits enthaltenen konstruktiven Aspekt zu betonen und den Foucaultschen Gestus des Aufdeckens wenn auch nicht einer hermeneutisch 'tieferen' Wahrheit, so doch einer in historischen Ereignissen und Prozessen wirkenden, bisher verborgenen 'eigentlichen' Realität durch die reflektierte Anerkennung der ordnenden und sinnstiftenden, selbst wiederum diskursiven Aktivität des Beobachters innerhalb seiner pragmatischen Intentionen und Grenzen zu ersetzen. [...] Unter dieser Prämisse aber wird der Bezug der beobachteten Phänomene auf subjekt- und geschichtsphilosophische Letztbegründungen gekappt [...] Ein Erkenntnisgewinn wird also nicht im (wie auch immer begründeten) Abschluß des Erkenntnisprozesses durch das Einholendes projizierten Ziels und in einer entsprechend totalisierenden Theoriebildung angestrebt, sondern bleibt stets an die Dynamik des Prozesses gebunden. Das innerhalb des konzeptionellen Rahmens unaufgelöste Spannungsverhältnis zwischen Systemcharakter und Ereignishaftigkeit, Kontinuität und Bruch, Regel und Kontingenz, abstrakter Ordnung und raumzeitlicher Verteilung, dessen Zusammendenken, als ontologisches Postulat verstanden, in letzter Konsequenz in Aporien führen muß, kann auf diese Weise produktiv in gegenüber traditionellen Ansätzen verfeinerte, textnahe und zugleich intertextuell offene Analyseraster umgesetzt werden, die nicht von der Annahme einer historisch 'realen' Wirksamkeit von Diskursen abhängig sein müssen." (Waltenberger 1999: 26 f.) Ich habe das Zitat relativ ausführlich gehalten, weil ich hier einerseits verschiedene Punkte angesprochen sehe, die sich mit meinen Bemerkungen über Sekundärliteratur decken, andererseits möchte ich eben auch zeigen, daß ein Verlassen des von political correctness und anverwandten Überlegungen geprägten Interpretationsmusters amerikanischer Schulen durchaus relevante Ergebnisse zeitigen kann.

11 Ob der Erfolg bestimmter Werke durch deren Annäherung an den Zeitgeist (pfui, welch böses Wort!) oder doch durch ihre Anpassungsfähigkeit und Vieldeutigkeit gesichert wird, ist eher Stoff für eine soziologisch-historische Studie als für eine Arbeit an Motiven und Textstrukturen.

12 Auf den Küsteninseln vor South Carolina und Georgia haben sich, von der Verwaltung der Vereinigten Staaten relativ unbehelligt, Gemeinschaften ehemaliger Sklaven und freier Schwarzer entwickelt, deren Sonderstellung (das Land befindet sich zwar innerhalb des Hoheitsgebietes der Vereinigten Staaten, die Gemeinden sind aber dennoch von einer gewissen Unabhängigkeit geprägt) auch in einem eigenen Idiom – Gullah – Ausdruck gefunden hat: Im Wortschatz zu 90 % Englisch orientiert sich die Aussprache von Gullah vornehmlich an westafrikanischen Sprachmustern, die Grammatik ist eine Mischung verschiedener Einflüsse – je nach "politischer" Ausrichtung des Autors werden in den Beschreibungen europäische oder afrikanische Muster als prägend dargestellt. Einen Eindruck der Sprache kann man inzwischen nicht mehr nur durch Aufnahmen aus den Feldstudien der Ethno- und Soziologen gewinnen – Spielfilme wie Daughters of the Dust (1991) von Julie Dash sorgen durch die Mitarbeit von Übersetzern und Sprachtrainern oder "dialect coaches" für eine überzeugende Vermittlung der Eigenarten dieser Sprachkultur.

13 Gegen Ende des Einleitungskapitels wendet sich die Erzählerstimme an den Leser: "But on second thought, someone [Reema's boy] who didn't know how to ask wouldn't know how to listen. And he coulda listened to them the way you been listening to us right now. Think about it: ain't nobody really talking to you. We're sitting here in Willow Springs, and you're God-knows-where. It's August 1999 – ain't but a slim chance it's the same season where you are. Uh, huh, listen. Really listen this time: the only voice is your own" (MD: 10).

14 Schon auf den ersten Seiten lesen wir, daß Mama Day die treibende Kraft ist, die den Ausverkauf der Insel verhindert: "Weren't gonna happen in Willow Springs. 'Cause if Mama Day say no, everybody say no." (MD: 6) und sich dadurch als wahre Erbin von Sapphira Wade erweist.

15 Auch hier würde ich das Thema von "pure love" und Liebeserziehung nicht vorrangig an Hamlet anbinden, wie das James Robert Saunders in seinem Aufsatz "The Ornamentation of Old Ideas: Naylor's First Three Novels" tut (Saunders 1993: 262), sondern an die Charakterbildung Ferdinands, der sich nach dem Willen Prosperos das Recht auf Mirandas Liebe erst durch "unadelige" Arbeiten wie Holzholen verdienen muß.




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16 Eine Zuordnung, die auf die hohe Sterblichkeitsrate junger schwarzer Männer (vor allem in den Ghettos) anspielte und die insbesondere Ende der Achtziger/Anfang der Neunziger mehrere Filme inspirierte (so z.B. Drylongso (1998) der jungen Filmemacherin Cauleen Smith).

17 Da sie mit den technischen Mitteln der westlichen Welt nicht meßbar ist, bleibt sie für Figuren wie George (oder im Tempest für den ganzen Hofstaat) das, was jede dieser Erfindungen (der Etymologie nach) schon seit Thomas Morus war: u topos– der Nichtort.

18 Diese Technik findet sich ebenfalls bei Naylor – auch bei Motiven, bei denen man es gar nicht erwartet, wie z.B. bei dem der Angemessenheit von Strafe: um ihre Familie und damit den Fortbestand der Gemeinschaft zu sichern, bestraft Mama Day Ruby, indem sie Blitze in ihr Haus einschlagen läßt; Mrs. Jackson verhindert auf drastischere Weise, daß sich der "dorm director" ein weiteres Mal an den Jungen des Waisenhauses vergehen

19 Eine Übersetzung verschiedener seiner Aufsätze in (Retamar 1988).

20 Stephen Greenblatt, der große Parleur der New Historicists beginnt sein Buch Shakespearean Negotiations mit der wundervollen Passage: "I began with the desire to speak with the dead.
This desire is a familiar, if unvoiced, motive in literary studies, a motive organized, professionalized, buried beneath thick layers of bureaucratic decorum: literature professors are salaried, middle-class shamans. If I never believed that the dead could not speak, I was nonetheless certain that I could re-create a conversation with them. Even when I came to understand that in my most intense moments of straining to listen all I could hear was my own voice, even then I did not abandon my desire. It was true that I could hear only my own voice, but my own voice was the voice of the dead, for the dead had contrived to leave textual traces of themselves, and those textual traces make themselves heard in the voices of the living. (Greenblatt 1988: 1)

21 Das ist nach Stanzels Definition "die ES, die allem Anschein nach den Autoren einer bestimmten Epoche am geläufigsten ist, die von ihnen am wenigsten Aufmerksamkeit und kreative Anspannung bei der Abfassung fordert und die daher auch im Trivialroman vorherrscht" (Stanzel 1995: 19).

22 Die Aufspaltung des point of view in "speaker of the narrative words" und "knower of the narrative story" ist Kristin Morrisons Terminologie. (zitiert nach Stanzel 1995: 22).

23 Ich bin mir sicher, daß die starke Betonung dieser Erzählsituation eine Anbindung an den Kanon schwarzer Erzählungen und Romane darstellt (und somit auch eine Antwort auf westliche Narrationsstrategien, in denen dieser Aspekt einer kommunalen Erzählerstimme fast nie auftaucht), aber ich will noch einmal darauf hinweisen, daß ich vor allem die Rezeption des westlichen Kanons behandeln will.

24 Obwohl ich mich des Gefühls nie erwehren konnte, er habe von allen Männern, die mit der Familie Day in Berührung gekommen sind, noch das beste Los gezogen.

25 Das ist es wahrscheinlich auch nie gewesen; die von Gates eingeforderte Singularität des signifyin(g) für schwarze Literatur konnte ich noch nie akzeptieren. Ich vermute, daß die beschriebenen Muster überall auftraten, wo es über- und unterprivilegierte Gruppen gibt (Cockney zeigt ähnliche Strategien, wie z.B. Reim, starke Idiomatik etc.).




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26 Daß Zeitlosigkeit bzw. Überfluß an Zeit auch damals ein Topos für derartige Idealbilder war, sieht man in Gonzalos Staatsrede: "No occupation; all men idle, all;" (Tempest II, i, 150).

27 Der zumindest teilweise Gonzalos Rolle übernimmt, wenn er davon schwärmt, als Bauer auf der Insel zu leben – und wird auch sofort von Ophelia auf die Realität hingewiesen.

28 Jablon faßt diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: "Novels use call-and-response to encourage audience participation, or they use other strategies to suggest that the readers invent their own "reality" in the same way that writers invent fiction. These novels illuminate the readers' roles in constructing worlds both external and intrinsic to the work. Hutcheon says, "As the novelist actualizes the world of his imagination through words, so the reader – from those same words- manufactures in reverse a literary universe that is as much his creation as the novelist's.This near equation of the acts of reading and writing is one of the concerns that sets modern metafiction apart from previous novelistic self-consciousness." (Jablon 1997: 26)

29 Das soll klassisch postmodernen Texten hierbei nicht abgesprochen werden (wie könnte sich sonst der unglaubliche Erfolg von Il nome della rosa erklären?), doch ist es wohl eindeutig, daß Naylors Romane nur wenig von der Betonung technischer Verfaßtheit zeigen (Form, wenn es nicht ein so gefährliches Wort wäre), die konstitutives Merkmal so unterschiedlicher Texte wie Mumbo Jumbo oder Pale Fire ist.

30 Bei Texten wie Mumbo Jumbo scheint mir die "eigentliche" Lesart nur noch bedingt möglich.

31 Auch hierzu ein Zitat von Gates: "Seventies-style Hermeneutics killed the author; eighties-style politics brought her back." (zit. in: Jablon 1997: 2)

32 Erickson sagt hierzu: "Like Prospero, Mama Day orchestrates generational continuity: 'I plan to keep on living till I can rock one of yours on my knee.' This parallel does not mean, however, that Mama Day derives after all from a Shakespearean analogue. Mama Day is shaped rather by the figure of the black mother as artist described by writers such as Paule Marshall, Alice Walker, and June Jordan, and it is within this distinct tradition that the Mama Day – Cocoa relationship has to be considered. (Erickson 1993: 241)
Interessant für mich ist an diesen Bemerkungen – außer der Tatsache, daß es nun wirklich nicht erlaubt sein soll, Miranda als remodeling Prosperos zu lesen-, daß für Erickson Mama Day durchaus die Weiterführung der Generationenabfolge betont, er aber nicht bemerkt, daß es sich auch in diesem Punkt vom Tempest unterscheidet – denn wir wissen am Ende des Dramas nicht, ob Miranda und Ferdinand Kinder haben werden.
Diese potentielle Unfruchtbarkeit liegt übrigens – genrebedingt – über den vielen klassischen Komödien, da diese ja meist in einer Hochzeit gipfeln (und enden) müssen. Natürlich stellt sich die Frage der Arterhaltung (auch im anglifizierenden Wortspiel mit Kunsterhaltung) selten so bedrohlich wie z.B. im Tempest.

33 "Miranda picks up a wooden butter mold. "Remember how much it took just to get a pint of butter? The milking of the cow, the hauling, the churning down of the cream – the washing, the salting, the pressing in this here thing. A simple pint of butter. [...] Looked like soon as the sun set, it was day again." "Lord, don't I remember. These young people talk about tired. They don't know tired." "Yes." Miranda nods. "They can't dream what it's like to live that way. Not that I'm wishing it on 'em – them days were rough. [...]" (MD: 95)




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Das mühsame Leben wird zwar durchaus positiv kontextualisiert – schließlich glaubt Miranda, daß Bernice auch deswegen kein Kind bekommt, weil sie gedanklich blockiert ist – und das auch auf eine zu geringe körperliche Auslastung zurückzuführen sei. Dennoch fehlt der Beschreibung der guten alten Zeit jegliche Glorifizierung, wir sitzen also wieder im Entscheidungspatt.

34 "Let us examine the text of Mumbo Jumbo as a textbook, complete with illustrations, footnotes, and a bibliography. A prologue, an epilogue, and an appended "Partial Bibliography" frame the text proper, again in a parody of Ellison's framing devices in Invisible Man." (Gates 1988: 223).

35 "Preparing for Willow Springs upset my normal agenda: a few minutes with an atlas always helped me to decide what clothes to pack, [...] But where was Willow Springs? Nowhere. At least not on any map I had found." (MD: 174)

36 Auch das wird konterkariert: Die communal voice kennt den Namen, der das ganze Buch über gesucht wird, ja doch schon zu Beginn: "But you done just heard about the legend of Sapphira Wade, though nobody here breathes her name.". (MD: 10)

37 Henderson interpretiert in ihrem schon erwähnten Artikel Toni Morrisons Sula und Sherley Ann Williams' Dessa Rose und kommt dabei zu einem Schluß, den ich etwas ausführlicher zitieren möchte, da er mir auch Gloria Naylors rewriting zu beschreiben scheint:

"If Sula's silences and howls represent breaks in the symbolic order, then her magnificent prose poem looks to the possibilities of appropriating the male voice as a prerequisite for entry into that order. Dessa similarly moves from intervention to appropriation and revision of the dominant discourse. As the author of her own story, Dessa writes herself into the dominant discourse and, in the process, transforms it. What these two works suggest in variable, but interchangeable, strategies is that, in both dominant and subdominant discourses, the initial expression of a marginal presence takes the form of disruption – a departure or break with conventional semantics and/or phonetics. This rupture is followed by a rewriting or rereading of the dominant story, resulting in a 'delegitimation' of the prior story or a 'displacement' which shifts attention 'to the other side of the story.' Disruption – the initial response to hegemonic and ambiguously (non)hegemonic discourse – and the subsequent response, revision (rewriting or rereading), together represent a progressive model for black and female utterance." (Henderson 1993: 136)

38 Auch hierin unterscheidet sich The Tempest von früheren Stücken Shakespeares, in denen die Zahl der nicht in die Mehrheitsgesellschaft zu Integrierenden geringer ist (berühmtestes Beispiel dürfte wohl Malvolio in Twelfth Night sein).

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