PhiN 16/2001: 92




Claudia Lillge (Göttingen)


Roberto Simanowski, Horst Turk und Thomas Schmidt (Hg.) (1999): Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Göttingen: Wallstein.


"Eine Sehnsucht nach der alten Salonkultur geht um", heißt es in einer Studie über die aktuellen, sehr vielfältigen Bemühungen zur Wiederbelebung des Salons als Ort "moderner Geselligkeit" (vgl. Wilhelmy-Dollinger 2000: v). Eine Beobachtung, die angesichts des philologischen Paradigmenwechsels von literatur- zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zweifellos auch für das in den letzten Jahren auffallend zunehmende Forschungsinteresse an diesen Knotenpunkten europäischer Geistes- und Persönlichkeitskultur Gültigkeit besitzt (vgl. Seibert 1993a).

Gehören die Begriffe salonnière und jour fixe zum terminologischen Grundstock, mit denen ein habitué dieser besonderen Art von Konversationsgeselligkeit vertraut sein sollte, ist es im Bereich ihres inneren Gefüges vor allem das Merkmal der Weltoffenheit, das zu den charakteristischen Konstanten dieser Orte der zwanglosen Begegnung zählt. Hinzu kommen die Zentrierung auf eine Salondame, das Gespräch als wichtigstes Handlungsmoment und eine gewisse Durchlässigkeit der Teilnehmerstrukturen (161).

Die kosmopolitische Struktur dieser seit dem 17. Jahrhundert nachweisbaren Form des gesellschaftlichen Lebens bildet das thematische Zentrum des Aufsatzbandes Europa – ein Salon?, dessen Beiträge zum einen im Rahmen der 1997 in Tbilissi (Georgien) abgehaltenen Konferenz Der literarische Salon als Drehscheibe informeller internationaler Beziehungen entstanden und sich zum anderen aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 "Internationalität nationaler Literaturen" rekrutieren.

Galten vorangegangene Studien (vgl. Wilhelmy 1989 und Seibert 1993b) einer großangelgten Erschließung der Thematik sowie einer terminologischen und inhaltlichen Definition des Gegenstandsbereiches, so ist es das Anliegen der achtzehn Beiträger des vorliegenden Bandes zu dessen Ensemble wiederum die 'Salonlöwen' der Forschung, Wilhelmy-Dollinger und Seibert, zählen, den "verschiedenen Aspekten von Internationalität im literarischen Salon" im Hinblick auf folgende, im Vorwort (7) gestellte Fragen nachzugehen: "Welche kulturelle und politische Relevanz hat die vor- bzw. supranationale Konstitution des Salons über diesen hinaus? Welcher Art ist die Inklusion des Fremden? Zu welchem Transfer fremdkultureller Texte und Themen kommt es?" Auf der Basis von Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes, die dem Band trotz des methodisch vielfältigen Zugriffs auf die Thematik Homogenität verleiht, wird die Formation Salon nicht nur als historisches Phänomen, sondern auch als literarisches Sujet in den Blick gerückt.




PhiN 16/2001: 93


Für alle neuen 'Gäste' der bureaux d'esprits, soirées und 'Teetische' Frankreichs, Rußlands, Amerikas, Italiens, Österreichs und Deutschlands bietet der Auftakt von Roberto Simanowski ("Der Salon als dreifache Vermittlungsinstanz") mehr als nur einen 'Fahrplan' für die Lektüre des Bandes. Liest er sich doch als eine bemerkenswert eingängig verfaßte Einführung in die Materie im allgemeinen wie besonderen. Das durch Simanowski im Überblick vorgestellte Strukturelement der Internationalität wird im Vortrag von Wilhelmy-Dollinger anhand der internationalen Vernetzung der deutschen Salons zwischen 1750 und 1914 sogleich veranschaulicht, so daß bereits an dieser Stelle eine inhaltsreiche Vorschau von Reichweite und Beschaffenheit des Gegenstandes entsteht.1

Eine Reihe von Einzelbeiträgen, die auf der Achse Moskau – Boston und Florenz – Berlin das internationale Gepräge der Salonkultur nachzeichnen, füllen Lücken und ergänzen vorliegende Forschungen, indem sie bisher wenig erschlossene Geselligkeiten wie Johanna Schopenhauers Theeabende,2 die deutsch-florentinischen salotti und circoli3 oder den polyglotten Kreis um Ottilie von Goethe vorstellen.4 So erhielt letzterer seine Existenzberechtigung keineswegs nur durch die 'Nähe' des prominenten Schwiegervaters der salonnière, sondern avancierte – angesiedelt im "Spannungsfeld zwischen der Tristesse der Kleinstadt und der Weltläufigkeit des spätklassischen Weimar" (167) – mit seinen sowohl einheimischen als auch ausländischen Gästen und der u.a. nach Genf, Edinburgh, London, Paris und Straßburg verschickten Zeitschrift Chaos zu einer regelrechten "Transmissionsstelle zwischen den Nationen" (188).

Andere Studien führen zu der namhaften Salon-Gastgeberin Mme de Staël5 oder zum schwarz-grünen Jugendstil-Diwan der frankophilen Journalistin Berta Zuckerkandl,6 die in der Wiener Oppolzergasse noch zu Beginn des Ersten Weltkrieges "ihren Salon als Vermittlungsinstanz zwischen Nationen und Kulturen, zwischen Österreichern, Deutschen und Franzosen einzusetzen" wußte (192). Daß die spezifischen Wirkungsmöglichkeiten all dieser Kreise untrennbar mit der Salonführung, d.h. mit dem "Charme der Dame des Hauses" verbunden war, zu deren Rollenrepertoire nach Wilhelmy-Dollinger "die lebhafte, aber in Ton und Takt sichere Gastgeberin, die mütterliche Frau, die belesene Literaturkennerin" aber auch "die jugendliche (jugendlich gebliebene) Liebhaberin" (Wilhelmy-Dollinger 2000: 1) gehörte, bezeugt eine über Benjamin Franklin berichtete Episode: So stieß die "Verehrung für die französische Damenwelt" des aus Europa heimgekehrten Amerikaners in den weitgehend puritanischen New-England-Staaten auf größte Empörung7, und auch der Salon als Kulturimport fand hier – abgesehen von wenigen und vom europäischen Vorbild stark differierenden Ablegern im Boston der 1820er bis 1840er Jahre – seine geographische Grenze.8




PhiN 16/2001: 94


Neben der salonnière als unbestreitbarem Mittelpunkt der Konversationsgeselligkeit tritt als zweite 'Hauptdarstellerin' im Salongeschehen die Literatur: Literatur als Thema des gebildeten Gesprächs, welches vice versa "literaturstimulierende Funktion" erhält.9 Daß auch der Salon selbst zum Gegenstand literarischer Gestaltung wurde, ist Thema eines weiteren Kernbereiches des vorliegenden Bandes, der durch Horst Turks Interpretationsangebot, Musils Mann ohne Eigenschaften als Salonroman zu lesen, und Peter Seiberts Auseinandersetzung mit Feuchtwangers Roman Exil Kontur gewinnt.10

Ein letzter Blick und Ausblick fällt auf verwandte Phänomene der Formation Salon, wie die Berliner Boheme des Schwarzen Ferkels von 1892/93,11 Mallarmés 'Dienstagabende'12 und als Variante des 20. Jahrhunderts: die virtuelle Gemeinschaft des Internets.13 Inwieweit News- und Chat-Groups im World Wide Web "hinsichtlich der Organisation kommunikativer Kontakte" (369) das Erbe der Salons antreten, skizziert Roberto Simanowski in seinem Epilog und möchte dies gleichsam als Einladung zu weiterer Diskussion verstanden wissen.

Nachdem die verlockende und für interdisziplinäres Arbeiten geradezu prädestinierte Thematik 'Salon', der wissenschaftlichen Untersuchung oft zu 'leicht', die Quellenlage zu 'vage' erschien,14 ist mit den vorgestellten Einzelstudien ein in jeder Hinsicht gelungener Band entstanden, der auf kulturtheoretischem Fundament neue und aktuelle Fragestellungen berücksichtigt. Daß sich dieser Forschungsbeitrag in die Reihe der einschlägigen Literatur über diesen vielfarbig schillernden art de société reihen wird, ist ohne Zweifel.


Bibliographie

Schultz, Hartwig (1997): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfers Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin, New York: de Gruyter.

Seibert, Peter (1993a): Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart, Weimar: Metzler.

Seibert, Peter (1993b): "Der Literarische Salon – ein Forschungsüberblick". In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 3. Forschungsreferate 2. Folge, 159-220.

Wilhelmy, Petra (1989): Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780�). Berlin, New York: de Gruyter.

Wilhelmy-Dollinger, Petra (2000): Die Berliner Salons. Mit kulturhistorischen Spaziergängen. Berlin, New York: de Gruyter.




PhiN 16/2001: 95


Anmerkungen

1 Vgl. auch Petra Drolliger: "Die internationale Vernetzung der deutschen Salons (1750–1914)", (40–65) sowie die Aufsätze von Clemens Albrecht: "Kulturelle Hegemonie ohne Machtpolitik. Über die Repräsentativität der französischen Salonkultur" (66–80) und Gigi Tevzadze: "Der Salon als Instanz einer Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft. Eine Studie zur Geschichte literarischer Vermittlung" (80–88), die Programm und Bezugsrahmen des Bandes erschließen.

2 Astrid Köhler: "Welt und Weimar: Geselligkeitskonzeptionen im Salon der Johanna Schopenhauer (1806–1828)" (147–160).

3 Christina Ujma und Rotraut Fischer. "Deutsch-Florentiner. Der Salon als Ort italienisch-deutschen Kulturaustauschs im Florenz der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (127–146).

4 Almut Otto und Thomas Schmidt: "'Ilm-Athen' oder 'Deutsches Babel'? Der Salon der Ottilie von Goethe zwischen Weltläufigkeit und Provinzialisierung" (161–189).

5 Ann T. Gardiner: "Games in the Salon: Jürgen Habermas on Madame de Staël" (214–231); Anke Detken: "Mme de Staël und Zacharias Werner: Formen der Geselligkeit in Coppet und Berlin und ihr Einfluß auf den Stellenwert eines deutschen Schriftstellers in Deutschland und Frankreich" (232–250) und Hermann Krapoth: "Geist des Gesprächs und Gespräch der Geister. Mme de Staël – Pariser Salonkultur und europäische Begegnungen" (251–267).

6 Gesa von Essen: "'Hier ist noch Europa!"' – Berta Zuckekandls Wiener Salon" (190–213).

7 Philipp Löser: "Der amerikanische Salon am Beispiel der Achse Boston – Paris bis 1850 oder Warum die Salonkultur in den USA nie Fuß fassen konnte" (106–127, hier: 112).

8 Zur geographischen Verbreitung der Salonkultur vgl. auch den Beitrag von Saal Andronikaschwili: "Ekaterina II. – Kaiserin und Salondame zwischen Literatur und Politik" (89–105).

9 Roberto Simanowski; "Der Salon als dreifache Vermittlungsinstanz" (31). In welch vielschichtiger Weise Salon und Literatur eine 'natürliche Ehe' eingehen, ist den weiteren Ausführungen von Simanowski auf den Seiten 27–32 zu entnehmen.

10 Horst Turk: "Diotimas Salon" (282–304) und Peter Seibert: "Exil in der 'Stadt der Salons und Vergnügungsviertel'. Anmerkungen zur Thematisieren von Geselligkeit in Feuchtwangers Roman Exil" (268–281).

11 Fritz Paul: "Die Boheme als subkultureller 'Salon'. Strindberg, Munch und Przybyszewski im Berliner Künstlerkreis des Schwarzen Ferkels" (305–327).

12 Dieter Steland: "Mallarmés Mardis" (328–344).

13 Roberto Simanowski: "Die virtuelle Gemeinschaft als Salon der Zukunft" (345–369).

14 Hartwig Schultz (1997): "Vorwort", in: Schultz, Hartwig (Hg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin, New York: de Gruyter, (v–vi, hier: v).

Impressum