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Jörn Glasenapp (Göttingen)


Sabine Bröck (1999): White Amnesia Black Memory? American Women's Writing and History Frankfurt am Main: Peter Lang.

Mit White Amnesia Black Memory? legt Sabine Bröck eine Studie ihre Habilitationsschrift vor, die sich in gewisser Weise als Pendant zu ihrer 1988 erschienenen Dissertation Der entkolonisierte Körper beschreiben ließe. Ging es in letzterer um die afroamerikanische weibliche Erzähltradition der 30er bis 80er Jahre, d.h. um Autorinnen wie Zora Neale Hurston, Toni Morrison und Alice Walker, so widmet sich die Autorin in der vorliegenden, mit 195 Seiten nicht eben umfang-, dafür allerdings informationsreichen Studie vornehmlich weißen Schriftstellerinnen, angefangen bei Gertrude Stein über Flannery O'Connor und Joan Didion bis hin zu Rosellen Brown. Diesen wirft Bröck so ihre provokante These eine mehr oder minder ausgeprägte, die afroamerikanische (Leidens)geschichte betreffende Amnesie vor, die ein weitgehendes Ignorieren der Existenz der Sklaverei, der nahezu institutionalisierten Vergewaltigung der schwarzen Frau, der traumatischen Erfahrung der Middle Passage sowie der Lynchjustiz zur Folge gehabt habe ein durchaus bemerkenswerter Umstand, stellt man die einstige Affinität von Frauenbewegung und Abolitionismus in Rechnung.

Es sei ihr um "a critical reading of American white women's literature in terms of its historical amnesia, denial or nostalgic displacement of historical address" (17) gegangen, erklärt Bröck, die im einleitenden Kapitel "a deep racialized split segregating white American and black American women's writing of historical memory" (20) konstatiert, um im anschließenden Abschnitt zunächst einmal Toni Morrisons Erfolgsroman Beloved in den Blick zu nehmen. In diesem erkennt Bröck den Versuch der Nobelpreisträgerin, als "a self-appointed witness of her own invention" (26) die zum einen unzureichend dokumentierte, zum anderen vom hegemonialen weißen Geschichtsdiskurs unterdrückte schwarze Geschichte imaginativ zu rekonstruieren. Aus ebendiesem Grund nun wird Morrisons Bestseller innerhalb des folgenden, der 'weißen' Amnesie gewidmeten Argumentationsgangs von Bröck immer wieder gewissermaßen als (positive) Kontrastfolie bemüht, ebenso wie die 1992 veröffentlichte Essay-Sammlung Playing in the Dark, in welcher Morrison erklärt, "that, in matters of race, silence and evasion have historically ruled literary discourse" (Morrison 1992: 9). Damit stellt sie eine These auf, deren Gültigkeit Bröck auch nicht durch die Werke der weißen Autorinnen ernsthaft in Frage gestellt sieht, die im zweiten und dritten Abschnitt der Studie behandelt werden.

Den Anfang macht hierbei Gertrude Stein mit ihrem 1906 bis 1908 verfaßten, aber erst 1925 erschienenen Monumentalwerk The Making of Americans, welches Stein bekanntlich zum Beginn des modernen Romans erklärte. Auch Bröck erkennt und würdigt den Aufbruchscharakter des Buches, unterstreicht dessen sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht innovativen, in vielerlei Hinsicht bahnbrechenden Impetus, ohne allerdings dessen 'konservative' Seite, d.h. die deutliche Affinität zu Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts zu übersehen:




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Stein does move away from 19th century aesthetics, away from a humanist portrayal of bourgeois, male-controlled family growth as allegorical for history's progress, but she is not able, or not willing to step out of her own complicities with its suppressions. For all her breaches with bourgeois morality, patriarchal sexual politics and law-enforcing linearity in the realm of the Symbolic, her uncritical acceptance of American history as white middle class life and its ethnocentric noblesse oblige is stunning [...]. (65)

Die Autorin unterstellt also Gertrude Stein also ein weitgehendes Ausblenden schwarzer Geschichte interpretiert The Making of Americans dementsprechend als einen Beitrag zum "project of national forgetting" (68) charakterisiert.1 Dies sei um so bedenklicher, als sich zahlreiche Aspekte der innovativen Kraft des Romans gerade dem Einfluß der afroamerikanischen Kultur Bröck erkennt etwa in Steins Stilmittel der rhythmischen Repetition eine direkte Beziehung zum Jazz verdanken.2

Von Steins avantgardistischem 'Epos' wechselt der Blick auf Josephine Herbsts sozialrealistische, aus den Romanen Pity Is Not Enough (1933), The Executioner Waits (1934) sowie Rope of Gold (1939) bestehende Trilogie Rope of Gold, der gerade in den letzten Jahren seitens der feministischen Literaturkritik eine vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wurde und die seitdem immer wieder als "icon of a female productivity that was struggling to find a fictional voice for feminist concerns 'before its time'" (81) gewürdigt wird. Durchaus zu Recht, konstatiert Bröck, die zunächst die an Dos Passos erinnernde, collagenartige Vielstimmigkeit der Romane und deren Funktion zur Erstellung eines möglichst umfassenden Gesellschaftsporträts hervorhebt, um dann allerdings die in der Tat naheliegende Frage zu stellen: "If the text places such strategic value on multiplicity of perspectives, why did she [Herbst] restrict its range to those within reach of her white middle class and white working class protagonists?" (82) Die afroamerikanische Bevölkerung erhält keine eigene Stimme in Herbsts Trilogie, in welcher dagegen immer wieder rassistische Äußerungen und Denkweisen, von weißen Charakteren vorgebracht bzw. diesen zugeschrieben, unkommentiert bleiben und somit zu einer gefährlichen Leseridentifikation einladen (92-93). Die bezüglich der von Bröck fokussierten Thematik überaus problematische Stoßrichtung der Trilogie erkennt die Autorin unter anderem auch in der Tatsache, daß Herbst den Bürgerkrieg, der immerhin zur Abschaffung der Sklaverei führte, als entscheidende, den moralischen Niedergang der Vereinigten Staaten einläutende Zäsur begreift (85-88). Im Großen und Ganzen fällt Bröcks Urteil über Herbsts revisionistisch ausgerichtete Trilogie wenn auch nicht vernichtend, so doch ausgesprochen kritisch aus:

To revise American history in terms of a just portrait of the harsh realities of rural poverty, eroded middle class life, working class hardship, and to root this narrative in United States capitalism's turn to corporate power, without a single glance at how black people figured in that history, seems a contradiction in terms. To mourn and protest the betrayal of the American middle class idyll and its erosion in the decades after the Civil War without even raising questions about the meaning of both slavery and its abolition for the development of United States monopoly capitalism reveals foundational misconceptions of a (white) American leftist reading of history. (99)




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Bröck formuliert somit eine Kritik, die sich in durchaus ähnlicher Weise auch auf Joan Didion beziehen ließe, beschreibt diese die Vereinigten Staaten doch ebenfalls fast ausschließlich als eine weiße Gesellschaft. "Whiteness and its losses are brilliantly, if inadvertently highlighted in Didion's fiction and numerous essays, but she until most recently never squarely confronted the issues of race and white positionality." (103) Eine Ausnahme bildet allein der von Bröck mit einer umfangreichen Interpretation bedachte Essay "Sentimental Journeys" (aus dem gleichnamigen, 1992 veröffentlichten Essayband), in welchem Didion die im April 1989 im New Yorker Central Park vorgefallene Vergewaltigung und versuchte Ermordung einer jungen weißen Frau durch eine Gruppe schwarzer Teenager zum Anlaß nimmt, um über die durch die Massenmedien provozierte Tendenz zur mythischen Reduzierung Didion spricht von "[a] preference for broad strokes, for the distortion and flattening of character and the reduction of events to narrative" (Didion 1992: 279) zu reflektieren.

Um Gewalt geht es bekanntlich auch in zahlreichen Erzählungen von Flannery O'Connor, der Bröck sowohl eine Amnesie für die afroamerikanische Geschichte als auch eine weiße Nostalgie für den alten Süden attestiert eine in der vorgetragenen Radikalität sicher problematische These, die meines Erachtens weder die von der Autorin behandelten Stories "A Late Encounter with the Enemy" und "The Artificial Nigger" noch andere 'Klassiker' wie "A Good Man Is Hard to Find" oder "Everything that Rises Must Converge" zu konsolidieren vermögen. Dennoch ist Bröck sicher Recht zu geben, wenn sie die immer wieder mit O'Connors Texten in Verbindung gebrachte Konzeption des Grotesken wie folgt charakterisiert:

The grotesque in O'Connor is located anywhere and everywhere imaginable except where one would logically expect it: the grotesque white violence executed on black humanity and black people's very bodies. […] O'Connor's unsympathetic narrators act as literary perpetrators of intra-white violence directed indiscriminately against innocent white children, well-kept white ladies, proper farm owners or 'poor white trash' a violence which was in real life fact, by general social agreement, addressed to and enacted upon black people. (118)

Es gäbe noch einiges zu sagen über Bröcks in jeder Hinsicht lesenswerte Studie, doch scheint mir der von der Autorin gewählte und konsequent verfolgte Ansatz, sowohl kanonisierte als auch entlegendere Texte einer kritischen Relektüre zu unterziehen und auf diesem Weg als Dokumente eines problematischen Vergessens zu profilieren, hinreichend klar geworden zu sein. Die unter anderem gewonnene wichtige Erkenntnis, daß kulturelle Artefakte auch und gerade durch das Fehlen bzw. Meiden bestimmter (eigentlich erwartbarer) Aspekte, Themen und Fragestellungen mit Bedeutung aufgeladen werden, tritt einmal mehr in ihrer Unwiderlegbarkeit hervor. Ausdrücklich hingewiesen sei ferner auf die Klarheit und Stringenz des theoretisch wohl fundierten Argumentationsganges Bröcks, der, die Forschung souverän und zum Teil sehr kritisch rezipierend, ausschweifende Exkurse nahezu vollständig vermeidet, aber immer wieder auf die Aussagekraft genauer Textanalysen setzt.


Bibliographie

Bröck, Sabine (1992): "Gertrude Steins "Melanctha" in den Diskursen zur 'Natur der Frau'", in: Amerikastudien 37: 3, 505-516.

Didion, Joan (1993) [1992]: Sentimental Journeys. London: Harper Collins.

Morrison, Toni (1992): Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.


Anmerkungen

1 Ein wesentliches, in der Einführung klar formuliertes Anliegen Bröcks ist es, die kulturbildende, -stabilisierende und -verändernde Leistung von Texten zu profilieren, diese also als "a kind of cultural practice" zu begreifen, "as textual agency participating in the making and unmaking of cultural, epistemological as well as ethical repertories." (14)

2 Vgl. in diesem Kontext auch Bröcks wichtigen Aufsatz in den Amerikastudien, in welchem sie anhand einer diskursanalytischen Lektüre von Steins "Melanctha" aus Three Lives der Autorin einen "unkritischen Rückgriff auf rassisitische Diskurse über die schwarze Natur" (Bröck 1992: 511) vorwirft.

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