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Paola Bozzi (Mailand)


Kaufer, Stefan David (1999): Die Abwehr von Körperlichkeit bei Thomas Bernhard. Berlin: Logos-Verlag


Thomas Bernhard gilt nicht länger nur als eine Art pars pro toto österreichischer Literatur: Seit einigen Jahren ist der Schriftsteller aus dem österreichbezogenen Kontext seiner Rezeption auf den Olymp der modernen Klassiker gehoben worden, von dem aus er auf alle Länder und Sprachen ausstrahlt. Thomas Bernhard ist in diesem Sinne ein neuer "Kontinent" (vgl. Bayer 1995), dem die literaturwissenschaftliche Forschung eine beträchtlich angewachsene Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie ihm nicht sogar Marathonveranstaltungen widmet.1 Dennoch gibt es in seinem Oeuvre noch thematische Schwerpunkte, die in der Forschung bis jetzt kaum Beachtung gefunden haben: Längst überfällig ist z.B. eine umfassende und differenzierte Diskussion der Problematik von Körper und Sexualität. Dieses Manko ist in zweierlei Hinsicht verwunderlich: Zum einen ist der Körper spätestens seit den Arbeiten Foucaults auch in der Literaturwissenschaft eine neue Mode, zum zweiten ist seine Bedeutung im Werk des österreichischen Schriftstellers kaum zu übersehen.

Es gibt kaum eine wichtige Gestalt, die nicht in irgendeiner Weise krank oder versehrt und deshalb bestrebt ist, den Körper zu disziplinieren, zu mechanisieren, um diesen als positiv erleben zu können: Der zumeist als höchst fragil und stets bedroht erlebte Körper wird abgelehnt, und die menschliche Entfaltung richtet sich allein auf geistige Tätigkeit als Lebensaufgabe. Merkwürdig dabei ist, daß der Leser kaum etwas von dem Inhalt der zu verfassenden oder bereits verfaßten 'Geistesprodukte' erfährt, sondern ganz im Gegenteil fast ausschließlich mit körperlichen Gebrechen, Aversionen und Angstzuständen konfrontiert wird. Der Schöpfer von Geistesmenschen ist eben auch Autor von literarischen Texten, die sich als Körperereignisse bezeichnen lassen. Im Bernhardschen Werk wird die schwere Last des Leibes nicht nur thematisiert, vielmehr wird der Text zum Körper, dem diese Last aufgebürdet werden soll und kann.

Dem oben genannten Forschungsdesiderat will nun Stefan David Kaufer mit seiner kleinen Studie, die aus einer Magisterarbeit im Fach Neuere Deutsche Literatur des Instituts für Deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen ist, Abhilfe verschaffen. Nach einigen Vorüberlegungen, in denen der Verfasser unterschiedliche theoretische Ansätze diskutiert und abwägt, setzt er diese in Beziehung zu seiner eigenen Bernhardlektüre. Dabei werden die einzelnen Ebenen von Körperlichkeit – Krankheit, Einsamkeit und Sexualität – und deren Abwehr erst einmal getrennt untersucht. Die im Detail so getroffenen Aussagen werden zu einer Abschlußthese (über Texte und Autor) zusammengefaßt. Überzeugend herausgearbeitet und beschrieben wird dabei als Schlüssel zur Auslegung des Bernhardschen Gesamtwerkes ein "leibhafter Sinn", der dieses in den "andere[n] Diskurs der Moderne" (vgl. Braungart 1995) eingliedert (21). Körperlichkeit und Leiblichkeit weisen hier wesentliche Elemente der Rationalitätskritik auf: Kaufer erwähnt Novalis, Nietzsche u.a., vermeidet aber die Unsitte, nur Belege für das Thema aufzulisten.




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Zu den besonderen Vorzügen der Arbeit ist zu rechnen, daß sie in ausdrücklicher Anlehnung an Susan Sontag den Prozeß des Verstehens als hermeneutisches Verfahren mit der Dimension der Sinnlichkeit verbindet. "Statt einer Hermeutik brauchen wir eine Erotik der Kunst" (Sontag 1995: 22): "Psychoanalytisches, phantasierendes (weil autonomes und einfühlendes) Denken hofft so, 'erotisches' Denken (im Sinne von Sontag) werden zu können." (24) Diese Erkenntnis erweist sich als anregend und fruchtbar im Umgang mit einem Autor, dessen ästhetische Qualität in einer suggestiven wie durchkonstruierten Sinnlichkeit der Sprache und der zum Leser aufgebauten Beziehung liegt.

Der Verfasser, der aufgrund der weitreichenden thematischen Ähnlichkeiten absichtlich auf eine Gattungstrennung verzichtet und das Oeuvre als eine Kette "mit sehr ähnlichen Gliedern" (12) sieht, konzentriert sich hauptsächlich auf die Prosa Thomas Bernhards. Das Werk wird deshalb in seiner Synchronie, d.h. in seinen Übereinstimmungen, nicht in seiner Diachronie, d.h. in seinem Fortschreiten, in seiner Entwicklung betrachtet: Lyrik, Dramatik und – last but not least – Selbstaussagen werden gerne einbezogen. Das ist im Fall eines 'Künstlers der Übertreibung' gar nicht unproblematisch, auch wenn der Schriftsteller mit seiner bekannten und schon so oft nachgewiesenen Vermischung von Fiktion und Realität im literarischen Werk und 'authentischer' Selbstdarstellung weiterhin dazu provoziert. Kaufer scheint aber die Gratwanderung zwischen den literarischen Texten und dem sich stark stilisierenden Autor gut zu meistern: Die Person Thomas Bernhards als Künstler steht nicht im Vordergrund, und das Erkenntnisinteresse ist vornehmlich auf den Charakter der Figuren des Schriftstellers in den jeweiligen diskursiven und narrativen Strukturen bzw. in den situativen Zusammenhängen gerichtet.

Unter Zuhilfenahme vor allem von psychoanalytischen Theorien (Freud, Lacan und Kohut) wird gezeigt, daß die körperliche Sinnlichkeit, welche aus verschiedenen Gründen abgewehrt wird, von Autor und Figuren in den fiktionalen Textkörper verlegt und an diesem gestaltet und gelebt wird bzw. werden soll. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht jener Teil der Arbeit (2.3), der der Abwehr von Homo- bzw. Heterosexualität gewidmet ist. Es ist ein bisher unbetretenes und unbearbeitetes Gebiet, denn bislang ist die Forschung nur in kurzen Randbemerkungen darauf eingegangen. Erotik ist bei Bernhard bekanntlich nie besonders positiv: Die Geistesmenschen ertragen ihre gegenseitige (auch) körperliche Anziehung nicht. In ihrer Welt, die gegen die mütterliche Genealogie, gegen die brutale Umwelt und gegen den eigenen schwachen Körper erichtet worden ist, kann darüber hinaus die Beziehung zu einer 'Geistesfrau' nur spröde angedacht werden. Das weibliche Geschlecht wird in der Regel durch eine vollkommene Negativierung zurückgestoßen, wenn nicht mit Aggression bedacht. (102) Mit Recht erkennt hier aber der Verfasser, daß (Homo-)Sexualität vor allem auf einer anderen, weniger deskriptiven Ebene von großer Bedeutung wird, und zwar genau dann, "wenn Wünsche und Phantasien blaß und der Realität entrückt, unbezeichnet und metaphorisch dargestellt werden" (92) – wie z.B. im Traum.




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Nach Sigmund Freud ist das Ich vor allem ein körperliches und die Projektion einer Oberfläche, was man auch als eine imaginäre Morphologie beschreiben könnte. Die Texte Bernhards zeigen eigentlich, daß diese imaginäre Morphologie kein vorsymbolischer Vorgang ist. Der Körper soll niemals außerhalb seiner Begriffe gegeben sein, sondern geht stets in einer signifizierenden Kette auf, ist Ort der Einschreibung, Konstrukt und Resultat der Sinnstiftung, Produkt jener von Michel Foucault beschriebenen "Ordnung des Diskurses", die zugleich die kulturellen Mittel seiner Naturalisierung verschleiert und über seine Intelligibilität entscheidet. Diesem performativen Aspekt der Entwicklung von Subjektidentität bei Bernhard hätte der Verfasser mehr Aufmerksamkeit schenken können, vor allem wenn er diesbezüglich die Ansätze der Gender Studies rezipiert hätte.

Wie noch jede originelle Arbeit lädt Kaufers Studie zum Disput ein. Insgesamt zeichnet sie sich durch umfangreiches Stoffwissen und sensible Herangehensweise an ein dunkles und schwieriges Thema aus und bietet als Problemaufriß eine gute Grundlage für weitergehende Forschungen. Ganz ohne Zweifel kommt ihr das Verdienst zu, eine klaffende Lücke in der Bernhardforschung geschlossen zu haben.


Bibliographie

Bayer, Wolfram (Hg.) (1995): Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa. Wien u.a.

Braungart, Georg (1995): Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen.

Hoell, Joachim und Kai Luehrs-Kaiser (Hgg.) (1999): Thomas Bernhard – Traditionen und Trabanten. Würzburg.

Honold, Alexander und Markus Joch (Hgg.) (1999): Thomas Bernhard – Die Zurichtung des Menschen. Würzburg.

Sontag, Susan (1995): Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a.M.


Anmerkungen

1Thomas Bernhard. Eine Einschärfung war der bernhardeske Titel einer Veranstaltungsreihe im September 1998 in Berlin, die dem Schriftsteller zum zehnten Todesjahr einen ganzen Monat lang u.a. Filme, Ausstellungen, Lesungen und Gespräche widmete. Das bedeutendste Ereignis dieser Wochen war aus wissenschaftlicher Sicht der internationale Kongreß Thomas Bernhard und die Weltliteratur. Intertextualität, internationale Rezeption und kulturelle Perspektiven (Literaturhaus, 16.-20.9.1998). Vgl. hierzu die Kongreßakten (Hoell/Luehrs-Kaiser 1999 und Honold/Joch 1999).

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