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Stephan Lidl (München)



Art Companies:
Bild und Text in William Carlos Williams' Lyrik der 20er Jahre



Art Companies: Image and Text in William Carlos Williams's Poetry of the 1920s

Beginning with the famous 1913 Armory Show in New York, the visual arts began to exert a strong influence on the poetic practice of William Carlos Williams. In connection to the call for an intensified perception and a purification of poetic language, the visual becomes dominant both as motif and as the conceptual core of Williams's modernist poetics. In this context, the mutual exchange between poem and picture does not follow any descriptive pattern but, rather, attempts to transmit the inherent quality of an objectified work of art into another artistic medium. The essay investigates the most pertinent concerns of Williams's poetics, and discusses two examples of picture-poem interplay in depth. These examples not only demonstrate how the cross-fertilization in the arts works but, moreover, emphasize the specific poetic-artistic premisses which became central to American modernism.


1 Einleitung

Nicht zuletzt seit der 1913 in New York gezeigten Armory Show üben die bildenden Künste im lyrischen Werk von William Carlos Williams einen zentralen Einfluss aus. In Verbindung mit der Forderung nach einer intensivierten Wahrnehmung sowie nach einer Reinigung der dichterischen Sprache wird das Visuelle sowohl motivisch als auch im Sinne eines modernistischen poetologischen Konzepts in Williams' Lyrik bestimmend. In einem Klima intensiven künstlerischen Austauschs und gegenseitiger Einflussnahme zwischen dem Autor und befreundeten Malern und Photographen kommt es in den 1910er und 1920er Jahren zu fruchtbaren Projekten, in welchen die jeweiligen Gattungsgrenzen ausgelotet bzw. überschritten werden. Das intermediale Zusammenspiel zwischen Gedicht und Bild folgt dabei keinem beschreibenden Muster, sondern begreift sich als Versuch, die einem objektivierten Kunstwerk inhärente Qualität in ein anderes künstlerisches Medium zu übertragen.

Die Untersuchung folgt zunächst den wichtigsten und grundlegendsten Anliegen in Williams' dichtungstheoretischem Konzept und zeigt anhand von zwei ausgesuchten Beispielpaaren auf, wie diese "cross-fertilization in the arts" (Breslin 1977: 248) funktioniert und welche poetologisch-künstlerischen Prämissen dabei deutlich werden.




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2 Zum poetologischen Konzept von William Carlos Williams

2.1 "Painting Took the Lead": Erneuerung der Lyrik aus der bildenden Kunst

In seiner Rekonstruktion der amerikanischen Geschichte, In the American Grain (1925), beschreibt William Carlos Williams die Notwendigkeit von Grenzüberschreitung und Berührung im Sinne eines kulturellen Abstiegs oder "descent" als "to touch – to give [...] to create, to hybridize, to crosspolenize, – not to sterilize, to draw back, to fear, to dry up, to rot" (IAG 121)1. Diese kulturgeschichtlich angelegte Idee einer Verschmelzung lässt sich auch als poetische Praxis in Williams' Dichtung der frühen 20er Jahre wiederfinden. In vielerlei Aspekten wird die Auseinandersetzung mit zahlreichen Strömungen moderner Malerei wie Postimpressionismus, Futurismus, Dada und im besonderen Kubismus bzw. auch mit Photographie in der lyrischen Produktion dieses Autors sichtbar.

Williams, der trotz seiner beruflichen Einbindung als Arzt ein aktives Mitglied der New Yorker Künstlerszene war, sieht die Verdienste insbesondere der französischen Maler der Zeit in ihrem Anspruch der Befreiung sowohl von tradierten Formen als auch von konventionellen Inhalten: "They created an atmosphere of release, color release, release from stereotyped forms, trite subjects" (Halter 1994: 11). "Relief" ist dabei ein häufig wiederkehrender Schlüsselbegriff, der von Williams auch im Falle seiner Konfrontation mit Marcel Duchamps Nude Descending a Staircase, no. 2 (1912) während der erwähnten Armory Show gebraucht wird. Die Begegnung mit dem Gemälde muss auf den Dichter wie eine Art Initialzündung gewirkt haben:

[...] it was not until I clapped my eyes on Marcel Duchamp's Nude Descending a Staircase that I burst out laughing from the relief it brought me! I felt as if an enormous weight had been lifted from my spirit for which I was infinitely grateful. (Dijkstra 1969: 9)


Die formalen wie inhaltlichen Konventionsbrüche fallen in einer eng zusammenarbeitenden Künstlerclique auf fruchtbaren Boden. Williams schätzt dabei die bildenden Künste im Bezug auf deren experimentellen Charakter als führend ein: "There was at that time a great surge of interest in the arts generally before the First World War. New York was seething with it. Painting took the lead" (Halter 1994: 8).

Nach Bram Dijkstra lassen sich beispielsweise grundlegende Forderungen des imagistischen Manifests von 1912 in Arbeiten moderner französischer Malerei als bereits eingelöst vorfinden. Das Gesetz des direkten Bezugs zum Gegenstand ("direct treatment of the 'thing' whether subjective or objective") etwa sei eines der fundamentalen Anliegen Cezannes sowie beinahe aller Maler nach ihm gewesen (Dijkstra 1969: 24). Auch die Forderung nach einer strengen Ökonomie der Darstellung ("to use absolutely no word that does not contribute to the presentation") sieht Dijkstra in Anlehnung an Charles H. Coffins Idee eines "process of simplification" im Werk von Henri Matisse bereits umgesetzt (Dijkstra 1969: 24/25). Die Zurückweisung imagistischer Ideen als veraltet zeigt sich dabei vorrangig in einer Neubewertung des "image", das nicht mehr als Metapher sondern als Subjekt verstanden wird: "The image no longer has to represent something else, it becomes self-supporting. It ceases to be agent and becomes topic" (Dijkstra 1969: 52).

Im Sinne einer "transposition of painterly techniques to poetry" (Dijkstra 1969: 50) werden die von Malern der Avantgarde entwickelten Theorien einer bildlichen Rekonstruktion von Wirklichkeit auf die Leinwand in den Jahren nach der Armory Show eine Basis für Williams' dichterische Methode. Dabei liegt der entscheidende Schritt nicht nur in der Aneignung von grundlegenden neuen Konzepten für die eigene Arbeitsweise, sondern im Übertragen dieser Ideen auf das Gedicht selbst:

It is the making of that step to come over into the tactile qualities, the words themselves beyond the mere thought expressed that distinguishes the modern, or distinguished the modern of that time from the period before the turn of the century. And it is the reason why painting and the poem became so closely allied at that time. (AUT 380)




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In diesem Sinne wird durch die Orientierung an der bildenden Kunst in Williams' Lyrik neben dem visuellen Erfahrungsbestand des Dichters vor allem der Akt der Wahrnehmung als solcher zentral: "the laws of perception and thus the very nature of the work of art, bec[o]me a basic theme" (Halter 1994: 11). Die Abwertung literarischer Einflussgrößen wird in Verbindung mit dem Wegfall traditioneller Repräsentationsformen der Malerei konstitutiv für Williams' Entwurf eines eigenwilligen Programms, das Dichtung im Sinne von "experience rather than reading" (AUT 148) erkennt. Somit lassen sich die von Williams geschätzten und für seine Lyrik angestrebten Aspekte der bildenden Kunst zusammenfassen als: "[t]he immediacy of a painting's impact, due to the precise delineation of its visual space, and the potential intensity of its recorded experience, as well as its position outside the progress of time" (Dijkstra 1969: 53).

Der Zusammenhang zwischen visueller Wahrnehmung, direkter Erfahrung und unmittelbarem Kontakt mit dem Objekt bzw. dem Anderen2 geht dabei in seiner Umsetzung mit der Forderung nach einer grundlegenden Erneuerung der dichterischen Sprache einher. Diese setzt zunächst eine Dekonstruktion tradierter, konventioneller Bedeutungen voraus, eine Ablehnung von "crude symbolism" (SA 188). Das wahrgenommene Objekt wird bei Williams immer in einen metonymischen Bezug zur Wirklichkeit gestellt, es wird zugleich durch die Imagination wie auch sinnlich erfahren und funktioniert somit als Sprach-Objekt, das in der Dichtung neu erschaffen wird. In diesem Zusammenhang beklagt sich der Dichter über "demoded words and shapes" (SA 188), welche den angestrebten künstlerischen Ausdruck nicht möglich werden lassen. Abgegriffene Symbolik lässt, so der Autor, eine leere und veraltete Sprache zurück:

Demoded, not because the essential vitality which begot them is laid waste ... but because meanings have been lost through laziness or changes in the form of existence which have left words empty. (SA 188)


Eine nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit moderner Kunst geschulte Wahrnehmung führt zur Ablehnung einer symbolischen Sprachauffassung. Stattdessen werden 'malerische' Qualitäten bevorzugt: "In Williams' poetry ... depth has disappeared and with it the symbolism appropriate to it. Objects for him exist in a shallow space, like that created on the canvases of the American abstract expressionists" (Miller 1972: 340). Die Neu-Benennung eines Gegenstandes im Sinne einer Neu-Schaffung verbietet nach Miller einen metaphorischen Sprachgebrauch: "For Williams the uniqueness of each thing is more important than any horizontal resonances it may have with other things" (Miller 1972: 341). So findet die dichterische Sprache ihre Präzision nicht zuletzt in ihrer Orientierung an den greifbaren Eigenschaften bildender Kunst: "As a painting is made of paint, [...] so a poem is 'a small (or large) machine made of words'" (Miller 1972: 347). Im Bezug auf seine sprachliche Dimension bedeutet dieser Anspruch eines ebenso klaren und unsentimentalen wie direkten Kunstbegriffs für Williams eben auch die Orientierung an minimalistischen Darstellungsprinzipien: "When I say there's nothing sentimental about a poem I mean that there can be no part, as in any other machine, that is redundant" (SE 256). Diese vereinfachten Formen lassen sich wiederum vornehmlich in der von Williams favorisierten frühen kubistischen Malerei finden:

[...] in selecting, isolating, and reproducing an aspect of reality, the artist distills its essence and intensifies it by stripping from it all details which might abstruct the purity of the experience, concentrating entirely on the elements which enhance its meaning (Dijkstra 1969: 53).


Die Forderung nach einem metonymischen statt eines symbolischen Sprachgebrauchs sowie nach einer exakten Besetzung der Begriffe wird auch in den Gedichten selbst thematisiert. "They enter the new world naked" (SA 183) heißt es im ersten Gedicht von Spring and All.




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Die Welt empirisch wahrzunehmen und die "nackte" Sprache entsprechend unvoreingenommen und klar zu besetzen, ist dabei das zentrale Anliegen: "One by one objects are defined / – It quickens: clarity, outline of leaf" (SA 183). Die geforderte Klarheit ist in diesem Sinne als "clarity of vision the words evoke" (Lowney 1977: 64) zu sehen. Das Projekt einer umfassenden Spracherneuerung gestaltet sich dabei als gleichermaßen destruktiv wie kreativ: "destruction and creation are simultaneous" (SA 213). Der Neuanfang setzt somit einen klaren Bruch mit der sprachlichen Tradition voraus: "We must go back to the beginning; it must all be done over; everything that is must be destroyed" (IAG 215). Dabei scheint das Beispiel der von den Kubisten zerstörten Zentralperspektive in seiner Konsequenz und Tragweite Williams' Idee eines sprachlichen "Make it new" durchaus analog. Das bereits zitierte erste Gedicht aus Spring and All endet mit Bildern der Wiedergeburt und des Wurzelschlagens und lässt den erhofften kulturellen und sprachlichen Neuanfang möglich erscheinen: "the profound change / has come upon them: rooted, they / grip down and begin to awaken" (SA 183).

Das Vorhaben einer erfahrungsorientierten, wahrnehmungsintensivierenden und -erweiternden Lyrik, die darüber hinaus auch den Balanceakt zwischen Abstraktion und Wiedererkennbarkeit des Objekts beinhaltet3, findet seinen inspirativen Gegenpart in Arbeiten der von Williams geschätzten Maler Juan Gris, Charles Demuth und Charles Sheeler. Wie in deren Bildern lassen sich in Williams' Gedichten Spannungen zwischen einfachen bzw. banalen Objekten und der geforderten "perfection of new forms as additions to nature" (SA 226) finden. Das Übertragen dieser Spannungen in sein eigenes künstlerisches Medium sowie die Betonung einer intensiven, sinnlichen Wahrnehmung von Kunst und Wirklichkeit erklären Williams' lebenslangen Versuch, die Innovationen der bildenden Kunst für seine Dichtung nutzbar zu machen sowie das von ihm empfundene Defizit von Sprache gegenüber dem Bild zu reduzieren.

 

2.2 "The New and the Real are Synonymous":
Unmittelbarer Kontakt und Reinigung der visuellen Wahrnehmung

Im Rahmen einer an Walt Whitman orientierten demokratischen Kunstauffassung ist die Schärfung und Intensivierung der Wahrnehmung des Lesers ein zentrales Anliegen in Williams' Lyrik. Der auch als Titel einer vom Autor mitherausgegebenen experimentellen Zeitschrift verwendete Begriff contact ist dabei ein weiteres häufig gebrauchtes Schlagwort. Im einleitenden Prosafragment seines Bandes Spring and All (1923) heißt es dazu: "There is a constant barrier between the reader and his consciousness of immediate contact with the world" (SA 177). Das Herstellen dieses unmittelbaren Kontakts, die Erweiterung von Wahrnehmungskapazitäten sowie das Einfordern einer aktiven Leserschaft sind Kernstücke in Williams' Verständnis seines Sendungsauftrags als Dichter.

Das Instrument, diese "time – and space – awareness" (Collins 1983: 283) zu gewährleisten, ist dabei die nicht von der empirischen Realität zu trennende Imagination: "To refine, to clarify, to intensify that eternal moment in which we alone live there is but a single force – the imagination" (SA 178). Nach Christopher Collins definiert sich in Williams' Dichtung Imagination durch zwei grundlegende Eigenschaften: "[it] is our ability 1) to perceive direct images of our own world and 2) to employ verbal means, as writer or reader, to stimulate such perception" (Collins 1983: 262). Diese Verbindung von Wahrnehmungsbetonung und ästhetischer Dimension sieht auch Dijkstra als zentral in der Arbeit des Dichters: "Williams believed that the quality of an artist's work is dependent upon the accuracy with which he manages to record the workings of his creative imagination" (Dijkstra 1969: 53). Dabei wird die Imagination allerdings im Grenzbereich zum Unbewussten angesiedelt:

Williams conceived of the imagination as a condition analogous to the undetermined moments between waking and sleeping, when the mind breaks up, rearranges and then fixes the images which it has collected – the picture units of experience – as if they were photo-montages on the film of memory. (Dijkstra 1969: 53)




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Nicht umsonst wird die in zahlreichen Gedichten von Williams vorherrschende Nähe zu photographischen und malerischen Techniken betont4: "These picture units have the same power as photographs or paintings to suspend a moment of intense action forever, to be analysed, looked at, or glanced over" (Dijkstra 1969: 53/54). In diesem Sinne lässt sich die Imagination zusammenfassen als "skill which subsumes both the perception and the visualization of images and which fashions art as its instrument" (Collins 1969: 262).

Neben dieser starken Betonung des Visuellen in Williams' Theorie verweist Collins in Anlehnung an Kenneth Burke auf eine äusserst enge Subjekt-Objekt-Beziehung. Das Gedicht stelle demzufolge nicht einfach eine Beziehung zwischen dem Auge und dem Gegenstand, auf den es gerichtet ist, dar, sondern markiere: "the shortest route between object and subject" (Burke in Collins 1983: 262). Demgegenüber geht Williams' Idee einer "co-extension" noch einen Schritt weiter. Dabei lässt sich die Verbindung zwischen Objekt und Subjekt nicht als ein Porträtieren des wahrgenommenen Gegenstandes beschreiben, sondern als sprachliche Simulation des Wahrnehmungsprozesses, mit welchem das Objekt erfahren wird (Collins 1983: 264). Williams' Idee dieser Ausdehnung funktioniert dabei wiederum über die Wahrnehmung des Auges:

The inevitable flux of the seeing eye toward measuring itself by the world it inhabits can only result in crushing humiliation unless the individual raise himself to some approximate co-extension with the universe. (SA 192)


Die Subjekt-Objekt-Beziehung versteht sich so als "sympathetic bond between the knower and the known, a sustained moment of 'I – Thou' intimacy" (Collins 1983: 264). J. Hillis Miller hingegen hebt die Distanz zwischen Auge und Gegenstand vollends auf und ersetzt sie durch die Idee einer Einheit: "A primordial union of subject and object is the basic presupposition of Williams' poetry" (Miller 1972: 342). Diese Einheit, so Miller, verweise wiederum auf "[a] return to the facts of immediate experience" (Miller 1972: 342).

"Experience" versteht sich bei Williams daher als "direct sensory encounter" (Collins 1983: 263), die ihren Ausdruck finden muss in einer Kunst von "sharpened perceptual, predominantly visual acuity" (Collins 1983: 263). Der Autor betont wiederholt, dass die ihm so wichtige Imagination im Sinne eben dieser Erfahrbarkeit zu verstehen ist: "I am not in search for 'the beautiful illusion'" (SA 178). Anstelle der abgelehnten Illusion steht in Williams' Dichtung eben diese Imagination, deren Aufgabe es ist, "to revive the senses and force them to re-see, re-hear, re-taste, re-smell, and generally revalue" (SE 235). Für Collins bedeutet die Auseinandersetzung mit Gedichten von Williams dabei in erster Linie ein Aufrufen von visuellen Codes: "To understand how the human imagination works, it would follow that one must understand how human seeing works" (Collins 1983: 283/284). Infolgedessen fordern Williams' Texte Zugänge, die jenseits rein sprach-orientierter oder literarischer Herangehensweisen liegen. Das aufgerufene Repertoire in der Auseinandersetzung mit Williams' Lyrik sieht Collins als "cognitive competence", die im Sinne eines "implicit understanding of the operations of perception, memory, and space- and time-awareness" (Collins 1983: 283) funktioniert.

Darüber hinaus findet der enge Kontakt zwischen Subjekt und Objekt seine Entsprechung in einer wiederum an Whitman geschulten Autor-Leser-Bindung: "In the imagination, we are from henceforth (so long as you read) locked in a fraternal embrace, the classic caress of author and reader. We are one" (SA 178). In dieser 'brüderlichen Umarmung' soll der Leser an eine neue Wahrnehmung herangeführt werden: "Williams's message was that so much depends upon our ability to enjoy the simple fare which sustains our waking life" (Collins 1983: 283). In diesem Sinne bedeute "to imagine" einfach "to re-see" (Collins 1983: 283). Dieses Neu-Sehen der Dinge, inspiriert durch die Neu-Benennung in der dichterischen Sprache, lässt die Gegenstände dann auch neu entstehen: "The same things exist, but in a different condition when energized by the imagination" (SA 224).




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2.3 "Cubist Realism vs. Cubist Realism": Abstraktion versus referentielle Dimension

"The World Contracted to a Recognizable Image" lautet der Titel eines der Gedichte aus Williams' spätem Band Pictures from Breughel (1962). Die Wiedererkennbarkeit des Objekts bleibt bei gleichzeitigem Bestehen auf starke formale Konventionsbrüche – und das zeigen wiederum auch die Arbeiten der von Williams favorisierten Maler – ein wichtiges Kriterium für den Dichter:

In Williams' poetry, [the] demand for the "recognizable" dictates his choice of vocabulary, subject, and allusion, but the apparent recognizability is always accompanied by complicating factors that emphasize the translocation of the familiar into the realm of art. (McGowan 1984: 120)


Diese Balance zwischen Abstraktion und Verweis auf den Kunstcharakter eines Werkes auf der einen Seite und der Nähe zur referentiellen Dimension der Darstellung andererseits interessiert Williams an der Kunsttheorie des spanischen Kubisten Juan Gris5. Beginnend mit den 20er Jahre bis in die frühen 30er Jahre bezieht sich der Dichter häufig auf Gris' in Essays erklärte Idee eines "synthetic cubism" (McGowan 1984: 103). Dabei gilt Williams' Interesse wiederum Formfragen, die über die Grenzen von Lyrik hinausgehen: "Why do we not read more of Juan Gris? He knew these things in painting and wrote well of them" (McGowan 1984: 104). Die grundlegende Ästhetik in Gris' Konzept reflektiert zahlreiche Anliegen, die auch Williams zentral thematisiert. So sieht McGowan eine Grundannahme in der Kunstauffassung des Kubisten in der "autonomy of the finished composition, and the composition's roots in clearly seen and felt particulars" (McGowan 1984: 104). Die Herangehensweise an das Objekt fokussiert dabei die dem Gegenstand inhärente "basic idea", die jenseits seiner zweckmäßigen Funktionen oder symbolischen Assoziationen liegt (McGowan 1984: 104). Diese Qualität ("that usually pass[es] unrealized" (McGowan 1984: 104)), wird in der Komposition synthetisiert. Die wiederum intensiviert, wie es auch Williams' Anliegen ist, die Wahrnehmung des Betrachters: "The spectator, returning from the picture back to the world of objects, found his perception directed by the composition's synthesis" (McGowan 1984: 104).

Williams' Kommentar zu Gris' Gemälde The Open Window (1921) verweist auf eben diese Qualitäten: "Here is a shutter, a bunch of grapes, a sheet of music, a picture of sea and mountains [...] which the onlooker is not for a moment permitted to witness as an 'illusion'" (SA 197). Dabei schätzt der Dichter Gris' "einladenden" Kubismus als Spagat zwischen der Erkennbarkeit des Gegenstandes und dem Anspruch, diesen durch Ästhetisierung in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Die verwendeten Formen seien: "common to experience so as not to frighten the onlooker away but to invite him, [...] simple things – at the same time to detach them from ordinary experience to the imagination" (SA 194/197). Williams' am häufigsten anthologisiertes Gedicht "The Red Wheelbarrow" kann dabei als Beispiel dienen. Wie in Gris' Bild erscheinen auch hier die Alltagsobjekte gleichzeitig real und dennoch "losgelöst": "they are still 'real' [and] recognizable [...], but in this painting they are seen to be in some peculiar way – detached" (SA 197). Nach McGowan verfährt der Kubist in diesem Stillleben sowohl im Sinne einer "control of patterned direction" als auch einer "control of interpretation" (McGowan 1984: 105), und betont so die Dinghaftigkeit der Objekte im und durch das Bild.

Diese synthetisierende Qualität entdeckt Halter ebenfalls in den Bildern des mit Williams eng befreundeten amerikanischen Kubisten Charles Demuth, dem Spring and All gewidmet ist:

[...] the paintings are at once mimesis (rendering of a recognizable contemporary environment, faithful in many details) as well as aletheia (revelation of a hithero hidden beauty), and creation (the making of artifacts that have value as objects of their own). (Halter 1994: 96)


Die Notwendigkeit einer Neu-Erfindung der Objekte stellt sich dabei für Williams gerade durch die Errungenschaften realistischer Darstellungsweisen: "Today where everything is being brought into sight the realism of art has bewildered us, confused us and forced us to re-invent in order to retain that which the older generations had without that effort" (SA 198).




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In diesem Sinne verlangt Williams' Projekt neben realistischen Elementen ein entsprechendes Maß an Abstraktion bzw. eine Verschmelzung der beiden Pole, die wiederum einmal mehr durch die Vorstellungskraft sowohl des Dichters/Malers als auch des Lesers/Betrachters hergestellt werden muss: "The only realism in art is that of the imagination. It is only thus that the work escapes plagiarism after nature and becomes a creation" (SA 198). Durch die Vollendung der angestrebten "unity", der "simplicity [of] design", vollzieht sich also der Schritt vom "realism" zur "reality itself" (SA 204).

Auf diese Weise experimentiert Williams in den Gedichten von Spring and All dabei auch mit einer Art "literary cubism" (Breslin 1970: 76). Das Herauslösen alltäglicher Objekte aus ihrem Kontext findet beispielsweise im Gedicht "The Rose", das im Abschnitt 3.1 eingehend diskutiert wird, eine sprachliche Entsprechung. Der Gegenstand wird vervielfältigt, in unterschiedlichen Materialien angeboten und räumlich isoliert. Durch Techniken wie unvermittelter Gegenüberstellung, Montage bzw. Collage, ungewöhnlichen Zeilenumbrüchen und das Aufbrechen jedweder räumlichen und narrativen Kontinuität, werden in Anlehnung an Stillleben des "cubist realism" ähnliche Effekte im Rahmen eines literarischen Kubismus erreicht, der allerdings ebenfalls nie den Bezug zum Referenten verliert:

[...] if there is sense and coherence, it is of a different nature and can no longer be contained within the traditional categories of logical thought and the related formal conventions of language in general and poetry in particular. (Halter 1994: 110)


In Anlehnung an Roman Jackobson sieht Halter darüber hinaus in Williams' grundlegend metonymischem Sprachgebrauch eine Nähe zu kubistischen Techniken: "in cubist procedures objects are related to each other primarily metonymically on the basis of contiguity, since in cubism 'the object is transformed into a set of synecdoches'" (Halter 1994: 117). Gleichzeitig bewirkt die Konfrontation vor allem mit Gris' Kubismus aufgrund des Diktats der Wiedererkennbarkeit auch eine Bewegung hin zur sprachlichen Vereinfachung: "Williams's diction has changed from an elevated and complex syntax and vocabulary to the simple and address of colloquial speech and usage, discovered in the formal composition of paintings such as Gris's" (Sayre 1983: 37). In diesem Sinne gehen die scheinbar widerstrebenden Aspekte von Abstraktion und Gegenständlichkeit in Williams' Projekt einer wahrnehmungsbetonten Dichtung nicht nur eine natürliche Verbindung ein. Die Position zwischen den extremen Polen ist geradezu essentiell für Williams, sie ist seinem Kunstbegriff von Anfang an eingeschrieben: "Thus cubist poems, like cubist paintings, are always concerned with the nature of the 'real', because both foreground the complex interaction of perception and creation in the perceiving mind" (Halter 1994: 121).

 

2.4 "The Poem on the Page": Visuelle Form und das Wort als Objekt

In einer seiner zahlreichen, kurzen und unsentimentalen Definitionen von Lyrik beschreibt Williams Gedichte als "made of words and the spaces between them" (Breslin 1977: 252). Dabei fällt einmal mehr die Betonung der visuellen bzw. räumlichen Dimension in der Idee der "spaces" auf. Die akustisch-chronologische Dimension, die etwa "pauses between words" impliziert hätte, erhält deutlich weniger Gewicht. Das Erscheinungsbild des gedruckten Gedichts auf der Seite wird durch die Beschäftigung mit moderner Malerei spätestens mit der Veröffentlichung von Spring and All für Williams äusserst wichtig. Dieser Aspekt der bildlichen Gestaltung spielt dabei sowohl im Bezug auf Strophen- wie auch auf Zeilenform eine tragende Rolle, bzw. auch das Setzen der Wörter selbst wird durchaus nach gestalterischen Kriterien vorgenommen. Ähnlich wie im Verhältnis von Abstraktion und Gegenständlichkeit wird dabei eine feste visuelle Form notwendig, die zwischen dem Wort als bildlichem Element und der ihm anhaftenden Bedeutung vermittelt:




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A visual form was the solution to the problem of using the 'sheer sense' and force of 'what is spoken' in poems that even so made the reader aware at a glance that the words on the page were not to be confused with the things they referred to but were things themselves. (Halter 1994: 182)


Inwieweit sich dieser Anspruch in einer festen Strophenform niederschlägt, lässt sich einmal mehr an "The Red Wheelbarrow" zeigen. In Spring and All erscheint das Gedicht folgendermaßen:

so much depends
upon

a red wheel
barrow

glazed with rain
water

beside the white
chickens

(SA 224)


Die vier kurzen Strophen stehen ganz im Sinne von Williams' "desire for definition, clarity and formal outline" (Sayre 1983: 131). Darüber hinaus verbindet die "arbitrariness of design" (Halter 1994: 184) die Gemachtheit des Gedichts mit den "perfectly straightforward, 'realistic', [...] highly selective detail[s]" (Dijkstra 1969: 168). Die letzten drei Strophen erscheinen dabei wie Bildausschnitte, die von einander abgesetzt, der Gedichtform analog, beim Leser nacheinander aufgerufen werden. Die strenge Form des Aufbaus, die nicht zuletzt auch durch die Spannung zwischen Zeilenumbruch und Syntax funktioniert, betont sowohl den Wahrnehmungs- als auch den Lesevorgang. Dennoch verfügen die Bilder über die für Williams' Dichtung so wichtige unmittelbare Nähe zum Gegenstand: "The words are [...] direct linguistic equivalents to the visual object under scrutiny" (Dijkstra 1969: 168). Die einleitende Strophe "so much depends / upon" sieht Dijkstra dabei einem Rahmen analog, welcher die nachfolgenden Bilder einfasst (Dijkstra 1969: 169).

Derartige Strophenmuster haben darüber hinaus neben dieser 'vermittelnden' Aufgabe auch die Funktion, dem Gedicht eine ikonographische Qualität zu verleihen: "The Poem, then, must first be seen on the page in order to be fully appreciated as it is read" (Sayre 1983: 128). Im Bezug auf die bildhafte Dimension nähern sich Williams' Gedichte zuweilen der Grenze zur konkreten Poesie, wobei allerdings weniger die porträtierten Objekte visuell verkörpert werden als vielmehr die Prozesshaftigkeit der Wahrnehmung als solche: "Fragmentation, loss of concentration, the wavering of thoughts, inertia – all are presented not only via language but also visually in the organization of the words on the page" (Halter 1994: 194). Mary Ellen Solt definiert konkrete Poesie folgendermaßen:

[T]he concrete poet is concerned with establishing his linguistic materials in a new relationship to space (the page or its equivalent) and/or to time (abandoning the old linear measure). Put another way this means the concrete poet is concerned with making an object to be perceived rather than read. (Solt 1968: 7)


Diese Kriterien für "concrete poetry" sind in Williams' Dichtung allerdings insofern nur halbwegs erfüllt, als neben dem visuellen Erfahren das Lesen weiterhin wichtig bleibt: "For Williams, the poem is an object to be perceived and read" (Sayre 1983: 7).




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Die Betonung des Lesevorgangs wird besonders in Williams' häufigem und ungewöhnlichem Gebrauch von Enjambements deutlich. Die Spannung zwischen nicht zusammenfallendem Ende einer syntaktischen Einheit und Zeilenumbruch funktioniert dabei häufig gleichzeitig als "Sinnbruch" bzw. als Spiel mit Bedeutungen und betont so den Akt des Lesens. Die zweite Strophe aus dem Gedicht "Death the Barber"6 lässt dies deutlich werden:

cutting my
life with
sleep to trim
my hair –

(SA 212)


In diesem Gebrauch von Enjambements wird nicht nur ein Entstehungsprozess betont, "in which meaning is being born – generated – in language" (Halter 1994: 183). Einmal mehr wird so auch die Wahrnehmung des Lesers thematisiert. Aufgrund der in den meisten Fällen äusserst kurzen Zeilen, sowie der beinahe völlig fehlenden Interpunktion wird der Effekt solcher Umbrüche noch verstärkt: "It seems that the smaller the grammatical unit concerned, the greater is its resistance to being stretched over a metrical boundary" (Fowler in Cushman 1985: 32). In diesem Sinne befindet sich ein aus kurzen Zeilen bestehendes Gedicht "in a state of constant enjambement" (Cushman 1985: 22). Die einzelne Zeile besitzt lediglich eine Art Kopf, "which inherits a syntactic remainder from the previous line and a tail where the next enjambement waits" (Cushman 1985: 22). Einzelne Wörter bzw. manchmal auch nur Silben erhalten so häufig eine starke Betonung, indem sie aus ihrem grammatikalischen Kontext herausgelöst scheinen. Gerade 'kurz'e Wörter wie Konjunktionen, Präpositionen, Artikel und Adjektive werden auf diese Weise prominent im Gedicht platziert. Sie bekommen dabei einerseits ein stärkeres Gewicht, auf der anderen Seite verweisen sie durch ihre auffällige Stellung im Text intensiv auf nachfolgende Wörter.

Darüber hinaus beinhaltet auch das Enjambement eine visuelle Dimension in Williams' Dichtung: "Without [...] metrical norm the systematic operation of enjambement can become the main principle of prosodic organization" (Cushman 1985: 19). Dabei wird wiederum die bildliche Qualität vor der akustischen betont: "enjambement is primarily visual rather than auditory [...]. This is verse for the eye" (Cushman 1985: 19).

Neben einer gestalterischen Aufbereitung der Strophen und Zeilen resultiert diese bildliche Qualität der Gedichte aber nicht zuletzt aus einer Behandlung des Wortes als Objekt, ähnlich wie auch das ganze Gedicht als Objekt gesehen wird. "The word must be put down for itself, not as a symbol but a part, cognizant of the whole – aware – civilized" (SA 189), erwähnt Williams in Spring and All und bezieht sich damit auf den Doppelcharakter des gedruckten Wortes in seiner Dichtung. Am Beispiel von Gertrude Steins oft zitiertem ästhetischem Credo "A rose is a rose is a rose" erklärt der Dichter diesen doppelten Zugang:

It is the same question of words and technique in their arrangement – Stein has stressed, as Braque did paint, words. So the significance of her personal motto: A rose is a rose – which printed in a circle means two things: A rose is, to be sure, a rose. But on the other hand the words: A rose is – are words which stand for all words and are very definitely not roses – but are nevertheless subject to arrangement for effect – as are roses [...]. In this case the words are put there to represent words, the rose spoken of being left to be a rose. (EK 22, 23)


Im Gegensatz zur konkreten Poesie sieht Williams Sprache nie ausschliesslich im Sinne von Material, sondern besteht auf eine Verbindung von bildlicher und benennender Qualität: "Because words (as opposed to paint) inevitably possess subject matter that does not mean that they cannot simultaneously partake of the abstraction of pure form" (Sayre 1983: 8). In diesem Sinne liegt Williams' Position einmal mehr zwischen zwei extremen Polen. Er verbindet in seinem Sprachgebrauch das, was Halter in Marianne Moores Worten als "pull of the eye" und "pull of the sentence" bezeichnet (Halter 1994: 186). Das Lesen und das Betrachten der Gedichte sind daher nicht voneinander zu trennen: "the visual text does not dismiss 'reading' [...] [it] is, rather, a dimension of the poem's experience which is parallel to its reading, an experience which in fact completes the poem" (Sayre 1983: 7).




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Auf diese Weise entspricht der visuelle Text Williams' Idee einer neuen Wahrnehmung, indem er die Grenzen zwischen Lyrik und Malerei nicht einfach aufhebt, sondern eine äusserst eigenwillige Synthese erreicht aus Sprache "and [Williams'] urge to paint with words" (Dijkstra 1969: 55). Nach Sayre bedeutet der "visual text" eine "visual experience in precisely the same way that a painting is a visual experience, something we encounter visually before we begin to 'read' it" (Sayre 1983: 6).

Im folgenden Abschnitt wird anhand von zwei Beispielpaaren aus Bild und Gedicht im Detail untersucht werden, wie diese Prämissen umgesetzt werden und wie das Zusammenspiel zwischen Text und Gemälde als genreübergreifendes Projekt funktioniert.


3 Fallbeispiele intermedialer Zusammenarbeit

3.1 Das Gedicht als Collage: Juan Gris' Roses und Williams Carlos Williams' The Rose

Rückblickend räumt Williams dem spanischen Kubisten Juan Gris nicht nur im Bezug auf dessen Kunsttheorien einen großen Einfluss ein: "Juan Gris – at one time my favorite painter" (AUT 318). Dabei handelt es sich grob gesehen um den Zeitraum der Veröffentlichung von Spring and All. Einige von Gris' Bildern werden in diesem Band als beispielhafte Werke eines "synthetic cubism" angepriesen, in welchem der Dichter einen perfekten Gegenpart im bildlichen Medium zu der von ihm angestrebten dichterischen Synthese aus Gegenständlichkeit und Abstraktion sieht. Gris' Stillleben Roses (1914), das die Basis für Williams' Gedicht "The Rose" (1923) bildet, kann hier als Beispiel gelten.

Juan Gris, Roses, 1914

Abbildung 1. Juan Gris Roses (Roses in a Vase) 1914
Öl, Papier und Bleistift auf Leinwand.
Privatsammlung, New York.

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Die Collage zeigt eine Gruppe von Alltagsgegenständen, die, in unterschiedlichen Perspektiven gesehen, übereinander bzw. ineinander geschoben, auf einer ovalen Fläche arrangiert sind bzw. teilweise über diese hinausreichen. Diese mehrheitlich hell gehaltene Fläche, die – entsprechend verfremdet – durchaus als eine ovale Tischplatte gesehen werden kann, wird vor einem dunklen Hintergrund gezeigt. Im Bild zentral gesetzt, ist das titelgebende Arrangement von Rosen dargestellt, wobei die Blüten, aus keiner einheitlichen Perspektive gesehen, mit klar sichtbaren, scharfen Schnittkanten in die Collage eingefügt sind.




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Unterhalb der Rosen sind zwei Vasen zu sehen, wovon eine flach auf der 'Tischplatte' und, wie ein am rechten Bildrand stehendes Weinglas, teilweise unter einer Glasplatte zu liegen scheint. Ebenfalls zweifach ist am unteren linken Rand der ovalen Platte eine Kaffeetasse eingefügt, wobei eine der Tassen, obwohl beide ineinander greifen, wie ein abgeschnittenes und zerbrochenes Spiegelbild der anderen wirkt. Einige der Flächen erscheinen nicht zuletzt aufgrund ihrer harten Kanten wie Glasscheiben oder Spiegelflächen, die beispielsweise auch die französische Tageszeitung am linken Bildrand mehrfach 'zerschneiden'. Die Zeitung scheint so gleichzeitig auf und unter der Tischplatte bzw. den Tischplatten zu liegen. Vor dem dunklen Hintergrund wirken die auf dem Oval angeordneten Gegenstände, zusammen mit einer am rechten Bildrand eingefügten Flasche, stark isoliert. Lediglich das einzige schwarze Objekt im Bild, ein auf einer Glasplatte liegender Gegenstand, der im Umriss in etwa einer umgedrehten Pfeife entspricht, erfährt eine ähnliche Isolation. Die den Tisch umgebende Fläche lässt sich schwerlich einer gegenständlichen Entsprechung zuordnen und muss so vom Betrachter besetzt werden. Williams leistet diese Besetzung im Gedicht mit der Idee eines unendlich weiten Nachthimmels. Aber auch hier sind scharf geschnittene Trennlinien eingefügt, die sich teilweise aus der Bildmitte fortzusetzen scheinen und den Collagecharakter des Werkes betonen. Insofern entlarvt der 'Nachthimmel' seine eigene Tiefe als gefälscht, das Bild bezieht seine Wirkung auch aus eben dieser Gemachtheit.

"The rose is obsolete" (SA 195) beginnt Williams seine Version des Bildes und betont damit einmal mehr seine Ablehnung einer symbolischen Lesart des Gegenstandes, einer Lesart, "[that] is to associate emotions with natural phenomena such as [...] flowers with love" (SA 188). Die Blume selbst hinter dem Symbol wiederzuentdecken ist also das vorrangige Anliegen:

but each petal ends in
an edge, the double facet
cementing the grooved
columns of air –

(SA 195)


Die Bedeutung der "edges", der Kanten, entspricht dabei der Schnitttechnik in Gris' Collage. Das Isolieren von Objekten, um sie in einen neuen Kontext zu setzen und sie auf diese Weise neu zu entdecken, lässt sich im Ausschneiden und Einkleben von Elementen beim Erstellen einer Collage als sprichwörtlich umgesetzt sehen, wie beispielsweise im Falle einiger der Rosen in Gris' Stillleben. Im Sinne einer gleichzeitig destruktiven (Zerschneiden) und kreativen (Einfügen) Spracherneuerungsidee thematisiert Williams Kanten als Trennlinien, welche die Einzigartigkeit der einzelnen Gegenstände verdeutlichen. Kanten betonen auch die für Williams so wichtige Form von Objekten, die es im Sinne einer "clarity, outline of leaf" (SA 183) zu erkennen gilt. Die harten, klaren Schnitte des Bildes implizieren so eine ebenso harte und klare Sprache:

– The edge
cuts without cutting
meets – nothing – renews
itself in metal or porcelain –

(SA 195)


Die Rose wird so nicht nur als Blume neu entdeckt. Sie steht – wiederum verstärkt durch die Imagination – im Kontext einer Vielzahl von Rosen auch aus unterschiedlichen Materialien. Später heißt es im Gedicht:




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Somewhere the sense
makes copper roses
steel roses –

(SA 195)


Der Schritt, die Blüte als physikalisches, greifbares Objekt zu sehen, muss einer sprachlichen Neubesetzung vorausgehen:

whither? It ends –

But if it ends
The start is begun
So that to engage roses
becomes a geometry –

(SA 195)


Hier verweist Williams auf die in der Collage vorgeführte "unity of design", eine Synthese, welche die Objekte nicht nur zwischen Anschaulichkeit und Abstraktion zeigt, sondern die Gegenstände gleichzeitig in Interaktion miteinander treten lässt und sie dennoch in ihrer Individualität betont. Eine Synthese, in deren Sinn auch das Gedicht verstanden sein will, und deren Effekt zu einer geschärften Wahrnehmung führt:

Sharper, neater, more cutting
figured in majolica
the broken plate
glazed with a rose

(SA 195)


Williams pendelt dabei zwischen einem direkten bildlichen Bezug zum Stillleben und einer Übertragung von dessen Wahrnehmungsprämissen auf seinen Text. Dies wird besonders deutlich, wenn zwischen dem Gegenstand, dem Wort und seiner Bedeutung bzw. Aufladung verhandelt wird, wobei einmal mehr ein 'Ende' bzw. eine 'Kante' immer auch als Ort des Neuanfangs gesehen wird:

The rose carried weight of love
but love is at an end – of roses

It is at the edge of the
Petal that love waits

(SA 195)


Gegen Ende des Gedichts lässt der Dichter die Rose dann tatsächlich in ihrer Körperlichkeit als einen neu-gesehenen, faszinierenden Gegenstand erscheinen, wobei diese 'weiche' Rose in durchaus beabsichtigtem Widerspruch zu der eingangs betonten 'harten' Blume steht:

Crisp, worked to defeat
laboredness – fragile
plucked, moist, half-raised
cold, precise, touching

What

(SA 195)




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In der direkten Interaktion mit dem Bild überträgt der Gedichttext allerdings auch die Spannungen, die zwischen Objekt und Raum deutlich werden. Im Falle der Collage ist damit der bereits angesprochene dunkle Hintergrund gemeint:

The place between the petal's
edge and the

(SA 195)


Williams überträgt hier mit größtmöglicher Konsequenz die Isolation der Gegenstände in sein Medium. Das 'Nichts', das in Gris' kubistischem Stillleben das zentrale Arrangement umgibt, wird dabei in Anlehnung an bildliche Techniken, in eine unbedruckte Fläche nach der Zeile "edge and the" übersetzt. In diesem Sinne verweist der Autor einmal mehr auf die visuellen Qualitäten seiner Dichtung, die wie in diesem Fall auch aus dem vollständige Auslassen von Sprache anstelle des Einsetzens von Wörtern wie "nothingness" oder "void" bestehen können. Die Spannungen zwischen Objekt und dem ihn isolierenden Raum haben auch die letzten Strophen des Gedichts zum Inhalt:

From the petal's edge a line starts
that being of steel

infinitely fine, infinitely
rigid penetrates
the Milky Way
without contact – lifting
from it – neither hanging
nor pushing –

The fragility of the flower
unbruised
penetrates space

(SA 196)


Williams' Herangehensweise an Gris' Collage ist keine beschreibende. Zahlreiche Details, die im Bild durchaus auffällig gesetzt sind, werden im Gedicht überhaupt nicht erwähnt bzw. andere werden imaginativ hinzugefügt. Im Zusammenspiel zwischen Bild und Text bilden übertragene Objekte allenfalls den Zugang zu einem ähnlichen Verhältnis von Wahrnehmung und künstlerischem Ausdruck: "There is no doubt that Williams's poem transcends the descriptive dimension of rose and rose painting alike" (Halter 1994: 79). Vielmehr überträgt Williams den Effekt, welchen das Bild auf den Betrachter ausübt, auf seinen Gedichttext. Die Prozesshaftigkeit der Beobachtung, die durch die Technik des Zusammenfügens betont wird, findet so ihre Entsprechung in der 'Erforschung' der Rose in Williams' Gedicht: "Williams's poem 'The Rose' is [...] an imaginative and sensitive exploration of the visual impact of Gris' painting" (Halter 1994: 75). Anstelle einer Interpretation im Sinne einer Bedeutungszuweisung versucht der Dichter eine Übersetzung der dem Stillleben inhärenten Qualitäten vom bildlichen ins textliche Medium. Es geht darum, eine Art Äquivalent zu erstellen: "The dynamism of the painting [...] finds its equivalent in the dynamism of the poem, in which the self gradually feels its way deeper and deeper into this field of action" (Halter 1994: 79).

In diesem Sinne lässt sich "The Rose" in mehrfacher Weise als Entsprechung zu Roses sehen. Zum einen macht Williams von den in Gris' Collage isolierten und neu-zusammengesetzten Gegenständen Gebrauch, um die in seinem poetologischen Konzept prominent gesetzte Idee einer Spracherneuerung zu demonstrieren ("The rose is obsolete").




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Darüber hinaus interessiert das bereits angesprochene wahrnehmungserweiternde Experiment, das in beiden Fällen die persönliche Wahrnehmung des Künstlers als "aesthetic-emotional construct" (Dijkstra 1969: 175) an den Betrachter/Leser vermittelt und dennoch gleichzeitig Raum für eine eigene 'Imagination' lässt. Zum dritten schließlich ist eine Parallele in Bezug auf die Betonung von Form als "unity of design" zu erkennen. Die visuelle Erscheinung des Gedichts ergibt sich sowohl aus einem sprachlichen als auch aus einem aussersprachlichen (z.B. das Weglassen von Sprache) Gebrauch von Text, der dem "clash of styles and materials" (Halter 1994: 77) in Gris' Stillleben analog gesehen werden kann.

Durch das Nebeneinander dieser verschiedenen Aspekte lässt sich Williams' "The Rose" durchaus als eine Collage lesen, die auch darin der bildlichen 'Vorlage' entspricht.

 

3.2 Vom Gedicht zum Bild:
Williams' The Great Figure und Charles Demuths I Saw the Figure 5 in Gold

Mit Charles Demuth verband Williams eine sehr enge Freundschaft, die von intensivem künstlerischem Austausch geprägt war, welcher bis zum überraschenden Tod des Malers 1935 anhielt (Farnham 1971: 175). Beide Künstler standen in der selben 'neuen' Tradition, die an der Ausbildung einer genuin amerikanischen Kunst im Rahmen des modernistischen Projekts interessiert war, einer "localized idea of modernism." Beide hatten auch ein gleichermaßen profundes Interesse am Verhältnis zwischen Literatur und Malerei und waren insofern versierte Kritiker für das Werk des anderen: "their understanding of the nature of the creative imagination was similar and [...] the development of their means of expression had been determined by the same sources" (Dijkstra 1969: 78).

Williams' Gedicht "The Great Figure", das den Abschluss des Bandes Sour Grapes (1921) bildet, initiierte ein beispielhaftes Zusammenspiel, welches diese gemeinschaftlich vertretenen Positionen verdeutlicht. In seiner Autobiographie beschreibt Williams die Umstände, die das Gedicht inspiriert haben:

Once on a hot July day coming back exhausted from the Post Graduate Clinic, I dropped in as I sometimes did at Marsden [Hartleys]'s studio on Fifteenth Street for a talk, a little drink maybe and to see what he was doing. As I approached his number I heard a great clatter of bells and the roar of a fire engine passing the end of the street down Ninth Avenue. I turned just in time to see a golden figure 5 on a red background flash by. The impression was so sudden and forceful that I took a piece of paper out of my pocket and wrote a short poem about it. (AUT 172)7


Einmal mehr fällt dabei die Nähe zu photographischen Techniken auf. Das Festhalten des Eindrucks als "picture unit" (Dijkstra 1969: 53), als "snapshot taken by the poet's perception" (Dijkstra 1969: 72), wird hier exemplarisch demonstriert:

Among the rain
and lights
I saw the figure 5
in gold
on a red
firetruck
moving
tense
unheeded
to gong clangs
siren howls
and wheels rumbling
through the dark city.

(SG 174)




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Die Idee des 'Schnappschusses' bedeutet hier allerdings keineswegs Stillstand. Vielmehr wird die Bewegung des ursprünglichen Eindrucks gewissermaßen in genau abgestimmten Dosen im Sinne einer fragmentierten Bewegung wiedergegeben. Dabei spielen wiederum die extrem kurzen Zeilen, die das Gedicht in "constant enjambement" (Cushman 1985: 22) halten, eine entscheidende Rolle. Die Zeilenumbrüche lassen die Eindrücke gleichsam wie zusammenhängende Einzelbilder eines Films erscheinen und kreieren so einen eigenen, losgelösten Zeitrahmen: "Movement is stilled within time, but continues on a new strictly limited, plane outside of time, determined no longer by actual progression but by visual tensions" (Dijkstra 1969: 77). In diesem Sinne leisten die kurzen Zeilen mit der 'Dehnung' des Moments auch seine Ästhetisierung.

Darüber hinaus verweist der gezielte Gebrauch von längeren und kürzeren Zeilen auf eine ebenso genau dosierte Fokussierung auf einzelne Objekte über das ganze Gedicht hinweg: "Even in this short poem there is a clear progression from beginning to middle to end" (Halter 1994: 99). Dabei markieren die ersten, vergleichsweise längeren Zeilen noch eine zügige Vorgehensweise, die sich auf "subordinated details" (Breslin 1977: 259), wie "rain and lights", beschränkt. Bis hierhin werden "generalized perceptions" (Breslin 1977: 259) angeboten, welche die Aufmerksamkeit des Lesers noch nicht binden können. Mit einer zunehmenden Verkürzung der Zeilen nach dem titelgebenden "I Saw the Figure 5", wird sowohl die Geschwindigkeit, mit welcher die Objekte bzw. die Farben ins Blickfeld gerückt werden, herabgesetzt, als auch eine genaue Fokussierung auf die einzelnen Elemente erreicht. Gegen Ende des Gedichts (d.h. mit den letzten beiden Zeilen) öffnet sich die Wahrnehmung wieder mit länger werdenden Zeilen und allgemeineren Bildern. In diesem Sinne scheinen die Zeilenbrüche zu Beginn und am Ende des Textes die langsam und intensiv wahrzunehmenden Objekte des Kernstücks einzurahmen:

Thus the last line[s] take[...] us back to the beginning; the poem opens and closes with a wide-angle shot, so to speak, of the dark city with its rain and lights, a background which very effectively frames the sudden appearance of the golden figure in an exciting flash of color, sound, and movement. (Halter 1994: 100)


Die Betonung der farblichen Dimension durch die goldene Ziffer auf einem roten Hintergrund lässt wiederum die große Nähe zur Malerei deutlich werden. Der von Halter betonte Kontrast der leuchtenden Farben im Mittelteil zu einem einrahmenden, neutralen Hintergrund aus "rain and lights" bzw. "dark city", wird bezeichnenderweise von Charles Demuth sehr direkt in dessen Poster-Portrait übertragen.

Doch die farbliche Dimension ist dabei nur ein Aspekt, der Williams' Gedicht neben dem unmittelbaren Einfangen des Moments im photographisch-filmischen Sinn in einer Tradition mit bildender Kunst stehen lässt. North verweist auf die auf Picasso und Braque zurückgehende Verwendung von Nummern in kubistischen Stillleben, die auf Williams' Malerfreund Marsden Hartley einen großen Einfluss ausgeübt hat (North 1988: 332, 333). Die kubistische Idee, dargestellte Objekte als Zeichen zu entlarven, indem sie Nummern gegenübergestellt werden, die in diesem Sinne Zeichen und Ding in einem sind, wird demnach von Williams direkt übertragen: "A picture of a numeral [...] is a numeral" (North 1988: 342). Das Einsetzen der Ziffer 5 anstelle des ausgeschriebenen Wortes lässt sich in dieser Tradition bzw. auch als Orientierung an Williams' Idee der "No ideas but in things" (Halter 1994: 4) sehen. Kubistisch kann auch das Setzen der Farbbegriffe "gold" und "red" jeweils an ein Zeilenende gelesen werden, da durch diese Isolation die Farben von ihren "Trägern" losgelöst scheinen.

Zudem spielt der Autor an einigen Stellen des Textes auch mit den Bedeutungen der Begriffe. Zunächst wird die durch den ironisch gemeinten Titel "The Great Figure" aufgebaute Lesererwartung, es könne sich hier um eine "Important Person" (Breslin 1977: 260) handeln, in der dritten Zeile zügig einem "anticlimax" (Breslin 1977: 260) zugeführt. Ähnlich wie dieser Titel lässt sich auch das exakt in die Mitte des Gedichts gesetzte "moving" doppelt lesen. Einerseits im Sinne der physikalischen Bewegung des Löschfahrzeugs gedeutet, kann andererseits hier auch eine emotionale Bewegung verstanden werden, die wiederum einen Hinweis auf die Bedeutung von "tense" gibt. "[U]nheeded" kann angesichts der "gong clangs" und "siren howls" nur im übertragenen Sinn, als Hinweis auf die geschärfte Wahrnehmung des Dichters, gelesen werden: "the individual whose special sensitivity enables him to be thrilled by something that is 'unheeded' by all the others around him" (Halter 1994: 98).




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Die bereits erwähnte Stellung von "moving", in der siebten Zeile des Gedichts mit jeweils sechs Zeilen auf beiden Seiten, scheint aus mehreren Gründen wichtig zu sein. Die ursprüngliche Version des Textes enthält direkt nach "moving" eine weitere Zeile mit den Wörtern "with weight and urgency" (North 1988: 329). Die Entfernung dieser Zeile ermöglicht zum einen die oben angeführte mehrfache Lesbarkeit von "moving" im Sinne einer Zuordnung zur vorangehenden oder nachfolgenden Zeile. Zum anderen betont diese Revision ein weiteres Mal das visuelle Erscheinungsbild des Gedichtes: "Without the line, the poem has a symmetrical shape, tapering toward the middle and then growing again" (North 1988: 329). Somit steht die doppelt besetzte, zentrale Zeile auch als Wendepunkt: "'moving' becomes a visual turning point that seems to send the poem off on an entirely new course" (North 1988: 329/330). Diesen "new course" sieht Breslin neben der gestalterischen Komponente vor allem als eine Aktivierung der Leserwahrnehmung. Nachdem die Ziffer 5 nicht nur als zentrales und titelgebendes Element erkannt, sondern auch eindeutig verortet worden ist, wird sie in zweifacher Weise in Bewegung gesetzt: "Yet just when the reader seeks to come to rest, the snapshot springs into action – with 'moving'" (Breslin 1977: 260). Dieses Zusammenspiel der Bewegung der Objekte im Gedicht mit der Bewegung in der Wahrnehmung des Lesers scheint auch das zentrale Anliegen bei der Übertragung des Textes in das Bildmedium durch Demuth gewesen zu sein.

Charles Demuth, I saw the Figure 5 in Gold, 1928

Abbildung 2. Charles Demuth I Saw the Figure 5 in Gold 1928
Öl auf Spanplatte, New York, The Metropolitan Museum of Art.
The Alfred Stieglitz Collection. 1949

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I Saw the Figure 5 in Gold (1928, Abb. 2) ist das letzte einer Reihe von Poster-Porträts, welche Demuth als Hommage an befreundete Künstlerkollegen malte (neben Williams u.a. an Gertrude Stein, John Marin, Georgia O'Keefe, Eugene O'Neill). Demuth thematisiert in seinem Bild auf sehr energetische Weise das in seiner Kunst zentral behandelte Verhältnis von Abstraktion und realistischer Darstellung. Der überwiegend grau und düster gehaltene Hintergrund lässt diese Ambivalenz deutlich werden.




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Die zahlreichen Linien, die das Bild durchziehen, münden in der oberen Hälfte des Gemäldes mehrheitlich in zumindest erkennbaren Strukturen von Gebäuden oder in Begrenzungen von hellen Flächen, die durch Lichteinfall erzeugt scheinen. In der unteren Hälfte des Posters bilden diese "raylines" oder "forcelines" (Halter 1994: 102) allerdings völlig abstrakte Formen aus Licht und Farbe. Ähnlich weitgehend abstrahiert Demuth das zentral gesetzte Löschfahrzeug. Aus mindestens zwei Perspektiven gezeigt, ist es in zahlreiche Flächen von unterschiedlichen Rottönen unterteilt, die teilweise übereinander zu liegen scheinen. Einige der "raylines" durchziehen die roten Flächen (wie auch zwei der drei komplett gezeigten Ziffern), andere werden von den Feldern überdeckt, wiederum andere befinden sich nur innerhalb dieser Flächen. Die beiden über das rote 'Fahrzeug' gesetzten Scheinwerfer deuten auf eine Frontalansicht hin, wohingegen die Anwesenheit der Ziffern eher auf eine Seitenansicht schließen lässt. Zudem scheint der linke der beiden Scheinwerfer gleichzeitig als eine an einem Laternenpfahl befestigte Lichtquelle zu fungieren. Diese 'Befestigung' widerspricht der energischen Bewegung, die ein weiteres Paar Scheinwerfer am oberen Bildrand suggeriert.

Bewegung erscheint auch als das primäre Motiv, die titelgebende 5 gleich dreimal in das Bild zu setzen (wobei der gelblich gehaltene und von Linien durchzogene Bogen in der rechten oberen Bildecke eine weitere 5 andeutet). Demuth lässt die Ziffern nicht nur schrittweise auf den Betrachter zukommen. Zusammen mit den dünnen, nach aussen verlaufenden Linien suggerieren die mittig gesetzten Fünfen auch große Geschwindigkeit. Einmal bei der größten Ziffer angekommen, wird die Wahrnehmung des Betrachters wieder zurück ins Zentrum des Bildes, auf die kleinste Ziffer gelenkt. Dabei spielt das Bild auch mit dem Widerspruch aus vorgetäuschter Tiefe und betonter Zweidimensionalität. Da die zweite der Ziffern, die auch mit dem Zusatz "No." versehen ist, sprichwörtlich aus Gold (d.h. aus Blattgold) (Halter 1994: 102) gefertigt ist, betont sie gegenüber den anderen Fünfen die Flachheit und Gemachtheit des Bildes und blockiert die Bewegung zwischen den Zahlen. Dennoch vermitteln die Ziffern zusammen mit dem abstrahierten Fahrzeug eine starke Energie, die auf den Betrachter gerichtet ist und die umliegenden Gebäude der gemalten Stadt in den Hintergrund bzw. beiseite zu drängen scheint.

In dieser Energie sieht Dijkstra die angemessene Übertragung des in Williams' Gedicht so auffällig gesetzten 'tense':

Demuth's figure 5 strains and pulls, receding and projecting itself again onto the canvas, its original movement in time transformed into visual tensions, caught within the warring pressure lines of darkness and lamplight, a golden object held suspended on the red fires of sound. (Dijkstra 1969: 78)


Über diese Dimension hinaus, ist Demuths Gemälde auch als Porträt des Dichters Williams selbst zu verstehen. Tatsächlich erscheint Williams nicht nur im Sinne einer Übersetzung der von ihm festgehaltenen Erfahrung im Bild, sondern auch bildhaft in Form mehrerer Kürzel. Im oberen Bereich des Gemäldes finden sich die teilweise abgeschnittenen Spitznamen "Bill" und "Carlo[s]", am unteren Bildrand ist das Werk sowohl mit den Initialen des Malers als auch mit denen des Dichters signiert. Die so betonte enge Zusammenarbeit wird auch durch das am rechten Bildrand untergebrachte, humoristische "Art Co." unterstrichen. Diese Idee einer "Art Company" lässt das Argument eines Portäts auch durch eine weitaus fundamentalere 'Anwesenheit' Williams' in diesem Bild rechtfertigen: "[H]e appears in the clash between title and painting, word and image, in and as the relationship between poetry and visual art" (North 1988: 344).

Das Verhältnis zwischen Gedicht und Bild ist auch hier, wie im Falle von Roses und "The Rose", nicht beschreibend. Es sind wiederum die Wirkungen des Werkes auf den Rezipienten, die auf ein anderes Werk übertragen werden sollen, wie etwa die in Williams' Gedicht zentral behandelten Aspekte der Bewegung und der Wahrnehmung: "As in Williams' poem, we are brought quickly to a center which seems insignificant but which, as the act of experiencing the work unfolds, reverberates into a 'Great Figure'" (Breslin 1977: 261). Demuths Gemälde erscheint dabei ungleich abstrakter als Williams' Gedicht. Diese Qualität erscheint im Sinne einer Wirkungsübertragung aber notwendig: "Demuth's work is abstractionist in many ways that [...] enable him to recreate the effect of the poem" (Breslin 1977: 262).




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Abstraktion erhält so in beiden Fällen eine ähnliche Aufgabe im Hinblick auf die Wahrnehmung des Betrachters bzw. Lesers: "[W]e are always kept conscious of the fact that we are looking at a painting, as in Williams we are constantly reminded we are reading" (Breslin 1977: 263).

Der ästhetisierte Moment, der durch kurze Zeilen und auffällige Enjambements fragmentiert, in einen eigenwilligen Zeitrahmen übertragen wird, findet in der schrittweise auf den Betrachter zukommenden 5 eine deutliche Entsprechung. Auch die Rahmung und Betonung der in Bewegung befindlichen Elemente durch die umgebende, unbewegliche 'dunkle Stadt' kann in beiden Werken gesehen werden. Neben dieser Parallele in Bezug auf die Behandlung von Wahrnehmung verweisen darüber hinaus sowohl Williams' Gedicht als auch Demuths Bild auf das zunächst von Picasso und Braque umgesetzte zeichentheoretische Experiment der Verwendung von Ziffern in kubistischen Stillleben und Collagen. In beiden Fällen kann die zentrale, direkt wiedergegebene 5 als ein Zusammenfallen von Bezeichnetem und Bezeichnendem gesehen werden. Somit lässt sich eine weitere Parallele in der Verortung beider Werke in der gleichen avantgardistischen Tradition bildender Kunst finden. In diesem Kontext wird Demuths Gemälde gewissermaßen als 'Rückführung' von Williams' Text in sein "'native' visual medium" (Dijkstra 1969: 78) lesbar. Die Leistung von Demuths Übertragung des Gedichts sieht North, ebenfalls jenseits von Beschreibung, im Einordnen des Texts in diese Tradition modernistischen Malens: "By placing Williams' poem visually in this category, Demuth creates a critique that is formally and historically more sophisticated than any written one in existence" (North 1988: 338–340).

 

4 Vergleichendes Resümee

"How easy to slip / into the old mode, how hard to / cling firmly to the advance – " (SA 191), heißt es in der letzten Strophe von Williams' Gedicht "The Black Winds". Das Festhalten am Fortschritt im Sinne eines modernistischen Kunstprogramms ist Williams' Projekt seit der Begegnung mit moderner Malerei grundlegend eingeschrieben. Die Ausformung einer eigenwilligen dichterischen Sprache funktioniert für den Autor somit nur in intensivem Kontakt und Austausch mit anderen Künstlern: "Williams could not have achieved what he did if he had been alone" (Halter 1994: 12).

Im direkten Bezug auf die bildende Kunst versucht Williams dabei den 'Effekt' des Bildes, seine wahrnehmungsverändernde Qualität, die sich in einem "essential principle of design" (Sayre 1983: 125) niederschlägt, zu übersetzen. Die beiden voranstehend behandelten Beispielpaare demonstrieren diesen Anspruch einer 'Qualitätsübertragung', der sowohl vom Bild zum Gedicht als auch umgekehrt funktionieren kann. Bei beiden Paaren ist daher der Zugang zum Werk des jeweils anderen Mediums allenfalls fragmentarisch beschreibend. Die in Juan Gris' Stillleben gezeigten Alltagsobjekte werden sowohl in der Collage wie auch im Gedicht in neue Kontexte gesetzt, neu gesehen und somit zu neuen Dingen. Diese Idee einer Neuentdeckung im Sinne einer Bewusstseinserweiterung bedeutet für Williams' Gedicht deshalb auch die Umsetzung der Forderung nach einer neuen dichterischen Sprache.

Demuths Poster-Porträt – im Gegensatz zur Paarung Roses/"The Rose" in enger Zusammenarbeit mit dem Dichter entstanden – bezieht die große Nähe zu Williams' Gedicht aus gleichen grundlegenden Prämissen im Kunstverständnis. Der direkte Bezug zur Alltagswelt des Künstlers, das Festhalten des Moments und der Intensität des Erlebten sind fundamentale Werte, die von beiden Künstlern umgesetzt werden. So ist das Fragmentieren und Ästhetisieren des wahrgenommenen Augenblicks das primäre Anliegen in der Übertragung von "The Great Figure" zum Bild, das hier darüber hinaus auch für den Dichter stehen kann.

Williams' Heranziehen von Bildern für die Produktion von Gedichten lässt sich somit eher im Sinne einer "recreation" oder "imitation" (Breslin 1977: 258), nicht aber als Kopieren sehen. Dijkstra betont die Idee einer "transposition" (Dijkstra 1969: 78), während North, im vielleicht radikalsten Vorschlag, von der Übertragung als "critique" (North 1988: 338) spricht. In jedem Fall scheint dieser jenseits von Deskription angesiedelte Zugang, der sich aus Williams' "fundamental stylistic indebtedness to art" (Dijkstra 1969: 78) ergibt, eine weitaus größere intentionelle Nähe zum Bild zu ermöglichen, als dies mit Beschreibung im engeren Sinne möglich ist.




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Diese Nähe zum Werk der bildenden Kunst manifestiert sich in Williams' Arbeiten in der ihm so wichtigen "unity of design" (SA 198), in der sich alle Prämissen seines poetologischen Konzepts vereint finden und die auch vor einer lyrischen 'Aussage' Priorität genießt. Die gelungene Übertragung des Bildes in das lyrische Medium kreiert nach Williams noch einmal das 'gleiche' Objekt:

The design of the painting and of the poem I've attempted to fuse. To make it the same thing. And sometimes I don't want to say anything. I just want to present it I don't care if it is representational or not. But to give a design. A design in the poem and a design in the picture should make them more or less the same thing. (Sayre 1983: 125)


 

In dieser Idee eines umfassenden Designs zeigt sich einmal mehr die Dominanz des Visuellen in Williams' Lyrik, ein Design das nicht nur von bildender Kunst ausgeht, sondern, wie Demuths I Saw the Figure 5 in Gold beweist, auch wieder in diese zurück übersetzt werden kann. In diesem Sinne lebt Williams' Dichtung in hohem Maße von ihren intermedialen Referenzen. Demuths Verweis auf dieses lebendige Zusammenspiel der Künste und der Künstler in Form der doppelten Signatur seines Poster-Porträts bzw. in der Idee der "Art Company" trägt dem Rechnung. Der Kubist porträtiert so nicht nur seinen Dichterfreund William Carlos Williams, sondern exemplifiziert zugleich eine amerikanische Moderne, in der die Grenzen zwischen den Künsten durchlässig geworden sind.

 

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Williams, William Carlos (1956): In the American Grain. New York.

Williams, William Carlos (1954): Selected Essays of William Carlos Williams. New York.

Williams, William Carlos (1986): "Spring and All", in: Walton Litz und Christopher McGowan (Hg.): The Collected Poems of William Carlos Williams, Volume 1, 1909–1939. New York. 175–236.

Williams, William Carlos (1986): "Sour Grapes", in: Walton Litz und Christopher McGowan (Hg.): The Collected Poems of William Carlos Williams, Volume 1, 1909–1939. New York. 132–174.

 

Anmerkungen

1 Zitate aus Texten von Williams sind in dieser Arbeit mit folgenden Abkürzungen versehen: Spring and All = SA, In the American Grain = IAG, The Autobiography of William Carlos Williams = AUT, Selected Essays of William Carlos Williams = SE, The Embodiment of Knowledge = EK, Sour Grapes = SG.

2 Dieser Aspekt wird im Abschnitt 2.2 dieses Aufsatzes genauer beleuchtet.

3 Siehe Abschnitt 2.3.

4 Das auch in diesem Aufsatz besprochene Gedicht "The Great Figure" lässt sich hier als Beispiel anführen.

5 Juan Gris war ein Pseudonym. Gris' eigentlicher Name war José Victoriano Gonzáles.

6 Das 14. Gedicht aus Spring and All.

7 Allzu wörtlich sind diese Inspirationen freilich nicht zu nehmen, da der "hot July day" der nächtlich-verregneten Stadtszene im Gedicht ("...rain / and lights [...] through the dark city") widerspricht (North 1988: 332). Michael North verweist wie McGowan (1984: 91) auch auf die Möglichkeit eines direkten Einflusses auf Williams' Gedicht durch Marsden Hartleys Bild Portrait of Berlin (1913).

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