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Sabine Schrader (Leipzig)


Iain Chambers (1996): Migration Kultur Identität. Tübingen: Stauffenburg.

Was in den 80er Jahren als 'Multikulti' bekannt geworden ist, hat seit einiger Zeit auch in Deutschland Einzug in die Universitäten erhalten. Die Konzepte von Multikulturalität finden ihren Rahmen in den Kulturwissenschaften, den Cultural Studies, die immer mehr en vogue sind: und zwar als Objekt der Untersuchung, als Wissenschaftsdisziplin, als Perspektive und letztlich auch als philosophische bzw. politische Erkenntnis. In Deutschland beginnt damit eine wissenschaftliche Auseinandersetzung um Multikulturalität, die vor allem in den anglo-amerikanischen Ländern seit Beginn der 80er Jahre verstärkt geführt wird. Dort wurden postmoderne Ansätze zum einen als zu theoretisch und sprachfixiert, zum anderen als eurozentristisch kritisiert, und man verabschiedete sich von denselben mit dem neuen Zauberwort des Postkolonialismus bzw. der Multikulturalität. Damit erhoffte man sich, der Repräsentation von Minderheiten gerechter zu werden und sie auf gesellschaftlich wirksame Differenzen neu zu denken. Es ist kein geringer Verdienst des Stauffenburg-Verlags, in seiner Reihe Stauffenburg Discussion – Studien zur Inter- und Multikultur/Studies in Inter- and Multiculture seit einigen Jahren Grundlagentexte ins Deutsche zu übertragen und neben bislang bekannten Autoren wie Homi Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak auch andere federführende Denker wie Iain Chambers in der Übersetzung von Gudrun Schmidt und Jürgen Freudl in die Diskussion einzubringen.

Chambers hält auf den ersten Blick das paratextuelle Versprechen des Verlags, eine Skizze aktueller Tendenzen der westlichen Kultur zu entwerfen. Das Schlüsselwort dabei ist Migration, da sie Ausdruck der Kultur unserer (post)modernen Verfaßtheit sei (35). Einer Kultur, der das Dauerhafte fehle, die synonym geworden sei mit Bewegung und Suche, mit der Artikulation und der Überschreitung von kulturellen Grenzen – mit anderen Worten: Migration – avanciere zur Metapher der modernen Kultur selbst.

Zur Disposition stehen die individuelle und kollektive Identitäten stiftenden Kategorien gender, race, nation, die zu Schlüsselbegriffen in der Debatte werden. Chambers nimmt diverse feministische (u.a. Von Joan Scott und Judith Butler) und postkoloniale Positionen (u.a. Edward Said und Homi Bhabha) auf und übt Kritik an jeglicher Form des abendländischen kategorisierenden Denkens; Überlegungen zu gender werden allerdings immer nur gestreift. Dafür verwebt er Versatzstücke der popular culture, wie z.B. die Werbekampagnen von Bennetton oder Popmusik, mit kanonisierter Literatur und theoretischen Texten von Derrida, Lacan oder de Certeau.




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Chambers lotet das "in-between" (Bhabha) der Kulturen aus, ihre Begegnungen und Verflechtungen. Migration bezeichne den Zustand des Unterwegs-Seins, das sich im Gegensatz zur Reise begreife, die einen Anfangspunkt, ein Ziel und die Rückkehr kenne. Der Autor greift Baudelaires Entwurf der modernen Stadt als Ort des transitoire auf und potenziert das Flüchtige durch die Migration. Denn es sind vor allem die Großstädte, in denen nach Chambers Multikulturalität verwirklicht werde: Die Metropolen werden zum "privilegierten Topos der modernen Welt" (17). Er zeigt an ihrem Beispiel, daß die Diskurse der Macht auch immer ein Potential Widerstands bieten (Foucault). In diesem Sinne werden gerade die traditionellen Zentren der Macht zu Orten des Austausches, des Wechselspiels zwischen Peripherie und Zentrum.

Von der Großstadt springt Chambers in die Beschreibung virtueller Welten, die bei vielen noch Gefühle von Unbehagen und Heimatlosigkeit auslösen. Aber genau wie die Metropolen verwischen sich in ihnen Grenzen und lösen sich Verkrustungen auf. Sie sind im Gegensatz zu den herkömmlichen Medien interaktiv, sie ermöglichen Kommunikationsräume, die nicht mehr an eine körperliche Präsenz gebunden sind. Sie führen uns vor, wie die Grenzen zwischen einer vermeintlichen Materialität der Lebenswelt und der Imagination verschwimmen.

Das multikulturelle Wechselspiel zeigt sich für Chambers auch in der Alltagskultur, wie z.B. in der wachsenden Begeisterung für die world music, aber nicht nur die Musik, sondern auch sein Medium, nämlich der Walkman, kann dementsprechend interpretiert werden. Er ist nicht nur Instrument, sondern auch Tun: Er wird zum Inbegriff der Einsamkeit und des Überquerens, der Ent- und Rekontextualisierung der Welten.

Die Phänomene Reisen, Migration, Bewegung konfrontieren uns auch mit den Grenzen unseres kulturellen Gedächtnisses, so daß sich Chambers am Schluß seines Essays mit der Institutionalisierung und Archivierung von Wissen auseinandersetzt. Sich vor allem auf Michel de Certeau berufend, weist er auf die Konstruiertheit von Geschichte und Nationalgeschichten hin und unterstreicht ihr narratives Prinzip. Überhaupt ist jedes Erzählen bei Chambers auch Migration im Sinne von Bewegung und Suche, gleichzeitig aber auch Verharren und öffnet den Weg in die Mehrdeutigkeit. Ausgehend von der Geertzschen Erkenntnis, daß Kultur Modell von und für etwas ist, kann man nach Chambers' Ansicht auch Kultur ändern, im Sinne von changing narratives. Die Cultural Studies sind für ihn eine transdisziplinäre Form des kritischen Denkens, des ständigen Untergrabens etablierter Denkmuster und werden zur Metapher "kritischer Begegnungen" für eine "reisende Stimme" (148).

Im postkolonialen Duktus versucht Chambers, die Eindeutigkeit zu unterlaufen – so wie Kultur zum Objekt und zum Subjekt des Erkenntnisinteresses wird, verschwimmen die Grenzen der Primär- und Sekundärquellen. Er führt vor, daß die Welt als Text lesbar ist, daß die jeweiligen narrativen Muster herausgearbeitet werden können. Doch trotz seiner teilweise originellen Metaphorik und den durchaus neuen Aspekten für eine derzeit auf viel Interesse stoßende Problematik bleibt nach der Lektüre eine gewisse Unzufriedenheit. Chambers bietet weder einen systematischen Überblick über die Forschung, noch eine kritische Auseinandersetzung mit den Texten, noch eine Analyse der genannten Medien, es ist nicht einmal ein grundlegendes wissenschaftliches Instrumentarium erkennbar, am ehesten könnte sein Buch trotz des umfangreichen wissenschaftlichen Anmerkungsapparats als Essay gelten.




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Der Text schwimmt letztlich auf der Welle eines ganz bestimmten Zeitgeistes. Der Walkman ist bei Chambers "privilegiertes Objekt heutigen Nomadentums" (58), zu denen er auch "das Kofferradio, de[n]r Laptop, das Handy und vor allem die Kreditkarte" zählt. Hier wird deutlich, wen Chambers meint, wer für sein Migrationskonzept steht. Es geht ihm um eine Handvoll Intellektuelle, wie z.B. Salman Rushdie, der in diesem Kontext nicht nur von Chambers immer wieder zitiert wird; der Autor meint auch sich selbst.

Dieses Zitat ist in vielerlei Hinsicht aufschlußreich: Chambers verwechselt zum einen Vehikel und Ursachen der Migration, zum anderen nimmt er trotz der recht umfangreichen Bibliographie wegweisende Texte, wie die von Deleuze/Guattari zum 'Nomaden-Denken' nicht zur Kenntnis, was bezeichnend für seine gesamte Arbeit ist. Es fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit anderen Konzepten. Ärgerlich ist aber vor allem sein elitäres Verständnis. Chambers vernachlässigt die eigentliche politische oder/und wirtschaftliche Massenmigration: Menschen, die zwar kein Zurück kennen, aber es sich doch erhoffen, und denen es meistens nicht möglich ist, die privilegierten Objekte des Nomadentums mit sich zu führen. Dabei liegt genau hier der Ausgangspunkt der multikulturellen Entgrenzungskonzepte, die voraussetzen, daß die mit der Massenmigration verbundene "globale Zirkulation kultureller Zeichen [...] heute das, was früher als dritte Welt woanders lokalisiert, ausgegrenzt und in seiner Realität verdrängt werden konnte, inmitten des Eigenen zurückkehren [lassen]" (Bronfen 1997: 6). Davon geht auch Chambers zu Beginn aus, legt es aber nicht wirklich seinem Konzept zugrunde.

Es müßte überprüft werden, ob die Konfrontation mit den Grenzen, zunächst natürlich geographischer, dann aber auch sprachlicher und kultureller Art bis hin zur Auflösung der Dichotomie selbst – fremd tatsächlich eine Dezentrierung des neuzeitlichen Individuums ermöglicht und die Wahrnehmung von Zentrum und Peripherie, von innen und außen in Frage stellen kann. Chambers reiht sich in die zahlreichen Entgrenzungskonzepte der letzten Jahrzehnte ein, die Zwischenräume bzw. ein Leben auf der Brücke zwischen den Welten proklamieren und dabei oft vergessen, daß es auf den Brücken am kältesten ist (McGowan 1997: 38). Und hier widerspricht der Text seinem Programm, die Pastiche- und Collagetechnik schafft keinesfalls Vielfalt und lädt auch nicht zu einer polysemen Lektüre ein, sondern vermittelt eine recht eindeutige, ausschließlich positive Konnotierung von Migration. Es ist ein Essay, ein Versuch im wortwörtlichen Sinne, nämlich der Versuch eines politischen Programms, in dessen Zentrum neue reisende "Gutmenschen" stehen (Mayer 1999: 231).

Zum Schluß bleiben große Zweifel nicht nur an der Methodik, sondern auch an der Botschaft von Chambers' Text. Auch wenn sich die Diasporas im Zeitalter der Globalisierung vermehren, die Metropolen Ausdruck der Heimatlosigkeit und nationalen Entwurzelung geworden sind, world music im Radio zu hören ist, muß kritisch gefragt werden, inwiefern nicht doch an den kollektiven Identitäten nation, gender, race festgehalten wird. Ob nicht vielmehr eine Defensivhaltung insbesondere der Immigrationsländer zu beobachten ist (vgl. Lützeler 1995), schließlich wird weiterhin am Nationenbegriff festgehalten, der zwar eine (west-)europäische Dimension erhalten hat, der aber ähnliche Inklusions- und Exklusionmechanismen mit sich bringt wie zuvor der enge Nationenbegriff der letzten 200 Jahre. Auf der praktischen Ebene zeigt nicht zuletzt die groteske Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland, wie weit wir von der Migration als möglichem Identitätsentwurf entfernt sind, wie sehr doch die Provinz – und nicht die Metropole – die Kultur prägt.




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Bibliographie

Bromley, Roger, Udo Göttlich und Carsten Winter (Hgg.) (1999): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: Klampen.

Bronfen, Elisabeth und Benjamin Marius (1997): "Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte", in: Bronfen, Elisabeth, Benjamin Marius und Therese Steffen (Hgg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenburg, 1-30.

Deleuze, Gilles und Felix Guattari (1972): Capitalisme et schizophrenie. Bd. 1 Anti Oedipe. Paris: Minuit.

Engelmann, Jan (Hg.) (1999): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader. Frankfurt a.M.: Campus.

Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung (1959). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Lützeler, Paul Michael (1995): "Vom Eurozentrismus zur Multikultur. Europäische Identität heute", in: Kessler, Michael und Jürgen Wertheimer (Hgg.): Multikulturalität. Tendenzen – Probleme – Perspektiven. Tübingen: Stauffenburg, 91-106.

Mayer, Ruth (1999): "Vielbevölkerte Zone – Kulturwissenschaften zwischen Gutmenschentum und dem Glamour der Rebellion", in: Engelmann 1999, 231-243.

McGowan, Moray (1997): "'Bosporus fließt in mir' Europa-Bilder und Brückenmetaphern bei Aras Ören und Zehra Çirak", in: Hans-Peter Waldhoff, Dursan Tan und Elçin Kürsat-Ahlers (Hgg.): Brücken zwischen Zivilisationen. Zur Zivilisierung ethnisch-kultureller Differenzen und Machtungleichheiten. Das türkisch-deutsche Beispiel. Frankfurt a.M.: IKO, 21-39, zitiert nach Simanowksi (1998)

Ostendorf, Berndt (Hg.) (1994): Multikulturelle Gesellschaft: Modell Amerika? München: Fink.

Simanowski, Roberto (1998): "Einleitung: Zum Problem kultureller Grenzziehung", in: Hort Turk (u.a.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus. Göttingen: Wallstein, 8-62.


Anmerkung

1 Vgl. Ostendorf (1994). Einen ersten guten Überblick verschafft neben der Stauffenburg-Reihe ein Sammelband von Bromley/Göttlich/Winter (1999). Eine angenehm kritische Auseinandersetzung bietet Engelmann (1999).

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