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Dietrich Scholler (Berlin)


"Mais on ne voit chez vous que des choses lugubres!" –
Enzyklopädische Sichtbarkeit in Flauberts Bouvard et Pécuchet1


Traditionally encyclopedias present a coherent order of the world which is reflected by the orbis doctrinae and links existing between sciences. Apart from written encyclopedias there are 'visual encyclopedias' like treasure-vaults, collections, and museums. On the one hand their encyclopedic dimension consists of a reduction of the macrocosmos to a kind of microcosmos. On the other hand visual encyclopedias, like encyclopedic books, are charaterized by the idea of totality. Firstly historical and semiotic aspects of visual encyclopedias are described. Secondly these aspects are pointed out in the fourth chapter of Flaubert's Bouvard et Pécuchet, chapter, in which the protagonists become collectors. Finally we try to give an explanation of the strange dispositio of Flaubert's museum.


1 Erzählte enzyklopädische Sichtbarkeit

Flauberts Spätwerk Bouvard et Pécuchet (= BP) erschien posthum im Jahre 1881 und blieb unvollendet, obwohl es auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken konnte. Schon in den 50er Jahren ist in Flauberts Korrespondenz vom sogenannten Dictionnaire des idées reçues, dem zweiten Teil des späteren Romans, die Rede. Bis zu seinem Tod las und exzerpierte Flaubert im Hinblick auf Bouvard rund 1500 Bücher aus allen Gebieten der Wissenschaften und Künste. Es erstaunt daher nicht, wenn er seinen letzten Roman in einem Brief aus dem Jahre 1876 in den Rang eines Testaments hebt: "Et pourtant, je ne voudrais pas mourir avant de l'avoir fait, car en définitive, c'est mon testament" (Flaubert 1975: 437).

In Flauberts literarischer Hinterlassenschaft wird das Wissen der Zeit in umfassender Weise verarbeitet und über eine zumindest in Ansätzen vorhandene Fabel entfaltet. Traditionell obliegt die Aufgabe der Wissenssammlung und -darstellung einer Enzyklopädie. Den Begriff Enzyklopädie verdanken wir einer falschen Rückübersetzung (ins Altgriechische) der Bezeichnung orbis doctrinae durch italienische Renaissancephilologen (vgl. Hennigsen 1966). Seither steht Enzyklopädie zunächst für die septem artes liberales, dann für eine barocke Universalwissenschaft, die naturwissenschaftliche Fortschritte berücksichtigt und den Kanon der freien Künste sprengt.2 Schließlich verwandelt sich der generische Begriff Enzyklopädie in einen Eigennamen, der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für d'Alemberts und Diderots epochales Unternehmen reserviert wird. Auch wenn die Enzyklopädiengeschichte noch zahlreiche andere Spielformen hervorgebracht hat, so lassen sich mit Dierse (1977) drei Grundtypen angeben: Darstellung des Zusammenhangs aller Wissenschaften, Sammlung und Darstellung alles Wissens in alphabetisch geordneten Lexika, systematisierende Darstellung einer Wissenschaft in einschlägigen Handbüchern oder Reallexika.

Neben diesen klassischen Bedeutungen sind im Hinblick auf meine Untersuchung zwei weitere Typen zu nennen: narrative und visuelle Enzyklopädien. Im ersten Fall handelt es sich um die erzählerische Auslegung und Inszenierung von Weltentwürfen einer bestimmten Epoche, die gleichsam in statu nascendi, d. h. in die Dynamik ihrer Hervorbringung zurückversetzt werden.




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Ein Beispiel hierfür wäre De Nuptiis Mercurii et Philologiae von Martianus Capella, ein Schulbuch aus dem 10. Jahrhundert, das bereits zwischen 410 und 429 verfaßt wurde und die einzige antike Enzyklopädie ist, die dem christlichen Mittelalter bekannt war. Ebendort wird das Wissen konkretisiert und mittels minimalem narrativen Programm in Szene gesetzt. Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Hochzeit zwischen Merkur und Philologie. Als Hochzeitsgeschenk übergibt Merkur der Philologie sieben Dienerinnen, welche die freien Künste verkörpern. Die folgenden Kapitel III bis IX bieten Erzählungen dessen, was die Künste zu leisten imstande sind. Narrative Enzyklopädien sind also um Konkretion des Wissens bemüht, eine Form der Konkretion freilich, die immer noch an das relativ abstrakte Zeichensystem Schrift gebunden ist. Genau letztere spielt in der sichtbaren Enzyklopädie eine untergeordnete Rolle. Ihr Medium ist die Anschauung, d. h. die sichtbare Enzyklopädie versucht, die Welt des Wissens durch unterschiedliche Formen der Anschaulichkeit zu repräsentieren, den immensen Makrokosmos im (beschaulichen) Mikrokosmos zu bannen, wie das etwa in fürstlichen Sammlungen der Fall ist. Zum Beispiel hat man die Sammlung des habsburgischen Kaisers Rudolf II (1552-1612) als "encyclopedia of the visible world" (Evans 1973: 177) bezeichnet. Enzyklopädisch sind solche Sammlungen, weil sie versuchen, eine Einheit von Vollständigkeit, Systematik und sinnlicher Wahrnehmbarkeit herzustellen, die letztlich in die moderne Idee des Museums mündet.3

Vor diesem Hintergrund ist Bouvard et Pécuchet als narrative Enzyklopädie4 einzustufen. Allerdings wird schnell klar, daß sich der systematische Zusammenhang der Wissenschaften den Protagonisten nicht erschließt. Daher könnte das im vierten Kapitel gegründete Museum eine enzyklopädische Alternative darstellen, weil es ohne Begriffe auskommt und auf Anschaulichkeit setzt.

Doch bevor Flauberts literarische Umsetzung der Idee der visuellen Enzyklopädie untersucht werden soll, ist der theoretische Ort des Museums zu bestimmen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere jene historischen Vorstufen des Sammelns ins hellste Licht zu rücken, die schließlich zur Gründung von Museen geführt haben. Denn wie die Erzählerironie schon im Incipit des Museumskapitels5 verrät, hat die Sammlung der beiden Enzyklopädisten weniger mit einem zeitgenössischen Museum als vielmehr mit einer barocken Wunderkammer gemein, oder besser - und diese Behauptung soll im folgenden bewiesen werden - sie entzieht sich allen Zuordnungen, weil sie (fast) alle obsoleten Ordnungen enzyklopädischer Sichtbarkeit zitiert und dadurch in komischem, wenn nicht groteskem Kontrast zur avancierten Museumskunde des 19. Jahrhunderts steht.


2 Grabbeigabe, Schatz, Gehäus, studiolo, Wunderkammer und Museum

Nach Pomian (1988) läßt sich der Ursprung der modernen Institution des Museums über unterschiedliche Formen von Sammlungen zurückverfolgen. Ob es sich um Grabbeigaben im Neolithikum, um Opfergaben in antiken Musentempeln, um christliche Reliquiensammlungen oder um Schatzkammern weltlicher Fürsten handelt - allen Gegenständen dieser Sammlungen ist gemeinsam, daß sie aus der ökonomischen Zirkulation herausgehalten werden und "an einem abgeschlossenen [...] Ort [...] angesehen werden können" (Pomian 1988: 16).6 Ihre Funktion




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besteht darin, eine Beziehung zum Unsichtbaren herzustellen. Sie sind Mittler zwischen Erdenbewohnern und der Welt des Jenseits. Für den Betrachter zeugen die Gegenstände besagter Sammlungen auch von ihren Produzenten, die zeitlich und räumlich weit entfernt sein können. Für die Antike führt Pomian als Beispiel die Hyperboräer an, die ebenfalls Opfergaben nach Delphi schicken (Pomian 1988: 40). Mit anderen Worten:

Selbst als Vermittler zwischen Erde und Jenseits, zwischen Profanem und Sakralem können die Opfergaben innerhalb der profanen Welt einfach Gegenstände bleiben, die das Ferne, Verborgene oder Abwesende repräsentieren (Pomian 1988: 40).

Weiterhin sind solche Gegenstände über ihren Status als Bedeutungsträger zu charakterisieren. Seit der Jungsteinzeit spaltet sich das Sichtbare auf in nützliche Gegenstände, "die konsumiert werden können oder die dazu dienen, sich Subsistenzmittel zu verschaffen" und "Semiophoren, Gegenstände ohne Nützlichkeit" (Pomian 1988: 49f.). Bei letzteren handelt es sich um Dinge, die bloße Bedeutungsträger sind. Daher beruht ihr Wert nicht auf dem Gebrauchswert, sondern auf der Tatsache, daß sie zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem vermitteln. Im Mittelalter handelt es sich häufig um monströse Objekte, die im göttlichen Schöpfungsplan eigentlich gar nicht vorkommen dürften oder zumindest ungeheuer waren und an zentraler Stelle in den Kirchen ausgestellt werden.7 Die einschlägige Literatur (Lugli 1983, Olmi 1992, 1996) erwähnt u. a.: den Rippenknochen eines Wals in der Kirche von Halberstadt, ein ausgestopftes Krokodil in Santa Maria delle Grazie bei Mantua, einen Meteoriten in einer elsässischen Kirche (Ensisheim) sowie Rhinozeroshörner und Straußeneier. Erklärt werden derartige mirabilia wie folgt:

Allora, se non è un capriccio del Creatore che si attribuisce una devianza dalle regole, si deve di necessità tornare all'antica interpretazione di monstrum nel suo significato etimologico di segno, ammonimento, ricomponendo un tessuto complesso e delicatissimo per il quale, attraverso qualsiasi fenomeno naturale, può essere decodificato un messagio divino (Lugli 1983: 20).

Einerseits zeugen die zur Ergötzung des Publikums ausgestellten monströsen Gegenstände als göttliche Zeichen vom Fernen, Abwesenden oder Verborgenen. Andererseits nimmt man den mirabilia durch die Aufstellung im vertrauten sakralen Raum die Spitze ihrer Ungeheuerlichkeit, das Monströse wird gleichsam auf Dauer gestellt und dadurch exorziert.

Neben diesen sakralen entstehen auch weltliche Aufbewahrungsorte, weil Reliquien zunehmend zwischen den Herrschern als Geschenke ausgetauscht werden und die Renaissancegelehrten damit beginnen, ihre Studierstuben im Sinne enzyklopädischer Sichtbarkeit zu gestalten. Es entsteht das studiolo oder Gehäus. Der deutsche Begriff geht auf einen Kupferstich Albrecht Dürers zurück (Der Heilige Hieronymus im Gehäus, 1514), der als ikonischer Vorgriff auf das Museum gilt und als topischer Ausgangspunkt für eine Serie ähnlicher Darstellungen anzusehen ist.8 Auf Dürers Kupferstich ist der Ansatz zu erkennen, die Welt, freilich abseits der Welt, in einem Zimmer enzyklopädisch zu repräsentieren, und zwar dergestalt, daß Bibliothek und sichtbare Enzyklopädie eine Verbindung eingehen. Der Heilige Hieronymus, im Hintergrund der




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Kammer über ein Schriftstück gebeugt, kann, wenn er um sich schaut, einen Löwen, einen Totenschädel, Bücher, eine Sanduhr, einen Sonnenhut sowie einen übergroßen Kürbis sehen.

Abgeschiedenheit gilt auch für die Renaissancefürsten bei der Einrichtung eines studiolo9 als prima ratio: Es befindet sich entweder neben der Schlafkammer im privaten Kern der Anlage (Città del Vaticano; Palazzo Ducale, Urbino) oder am Ende einer Zimmerflucht (Palazzo Ducale, Gubbio; Belvedere di Innocenzo VIII, Città del Vaticano). Als Prototyp gilt die Studierstube Federico da Montefeltros im Palazzo Ducale in Urbino, dessen Bau am Ende des 15. Jahrhunderts fertiggestellt wurde. Naturgemäß betreibt der Renaissancefürst ungleich mehr Aufwand bei der Inszenierung seines Mikrokosmos als der Heilige Hieronymus. Der obere Teil der Wände ist mit 28 Porträts versehen, die Intarsien auf dem unteren Teil spiegeln dem Beobachter die perfekte Illusion von Sitzgelegenheiten und Wandschränken vor. Unter den ebendort ausgestellten, fingierten Objekten findet man ca. 30 Handschriften, astronomische und verschiedene musikalische Instrumente, Papageien, eine mechanische Uhr, ein Schwert, eine mit Nägeln versehene Keule sowie eine Ritterrüstung. Wissenschaftliche und martialische Gegenstände stehen also etwa im Gleichgewicht, das heißt: "In esse si mette in immagine la polarità concettuale di armae et litterae" (Liebenwein 1988: 70), ein Konzept, das von Boiardo und Castiglione zum hofmännischen Postulat erhoben wird. Auch die von Federico ausgestellten Porträts vereinen Geist und Kühnheit. Eine Intarsie zeigt ihn, mit Philosophenmantel und Lanze ausgestattet, wie er sich den personifizierten Tugenden Glaube, Barmherzigkeit und Hoffnung zuwendet. Auf dem zweiten Porträt wird Federico als Lesender im Harnisch dargestellt, inmitten der erlauchten Konterfeis von antiken Schriftstellern, Kirchenvätern und Humanisten - der Duca im Dialog mit Cicero, Augustinus und Petrarca. In der Tat sind die Darstellungen so angeordnet, daß der Eindruck eines Gelehrtenpolylogs entsteht, ein Topos der 'interaktiven Enzyklopädie', der seinerzeit sowohl im pädagogischen wie im sakralen Diskurs im Schwange ist und von den Buchdruckern im Frontispiz einschlägiger Werke vielmals verbildlicht wird.10 Beispielsweise zeigt das Frontispiz einer venezianischen Ausgabe (1529) der Divina Commedia zehn Porträts von antiken Autoren, die den Eindruck erwecken, als befänden sie sich in einem Disput (Liebenwein 1988: 73). Der Bezug zur Antike in den humanistisch geprägten Privatsammlungen äußert sich auch in den gesammelten Objekten. Im Grunde geschieht damit etwas Erstaunliches: "aus Abfall werden Semiophoren" (Pomian 1988: 56). Antike Überreste werden nicht länger als Unrat oder gar "Kulturverwesungsabschnitzel" dem Ekelhaften zugerechnet (Rosenkranz 1990: 253), sondern als Forschungs- und Ziergegenstände angesehen.

Im 16. Jahrhundert verwandeln sich die studioli endgültig in Sammlungen, in Kunst- und Wunderkammern. Erstmals werden in der nachantiken Architekturgeschichte Gebäude errichtet, deren ausschließlicher Zweck darin besteht, eine Sammlung zu beherbergen. Ein vielzitiertes Beispiel bietet Erzherzog Ferdinands Schloß Ambras in Tirol. In vier zweistöckigen, miteinander verbundenen Gebäuden (1573) befinden sich Bibliothek, Kunst- und Rüstkammer sowie römische Antiquitäten. Diese und ähnliche Sammlungen barocker Herrscher11 erheben den Anspruch, "Teatri del mondo" (Olmi 1992: 177) darzustellen, Theater, denen in Gestalt des Fürsten ein prometheischer Direktor vorsteht, der die harmonische Schöpfung gleichsam




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nachinszeniert und das Spiel von Analogien und Korrespondenzen zwischen Natur- und Kunstformen zum festen Bestandteil seiner Dramaturgie macht. Bredekamp weist darauf hin, daß die eher schwach ausgeprägte Systematik der Kunstkammer darauf zurückzuführen ist, daß es sich auch um einen Spielraum handelt. Zum Beispiel enthalten die Schaukästen des Museo Cospiano (1677) in Bologna "Objekte aus allen Reichen der Natur, antike Kleinskulpturen neben zeitgenössischen Statuetten sowie Waffen und Werkzeuge" (Bredekamp 1993: 70). Die versammelten Objekte sind jedoch kaum geordnet, sondern einander zugesellt, um die Grenzen zu überspielen, um visuelle Brücken zu bauen, um, so der Kunstkammertheoretiker Johann Daniel Major, "in zerstreuter / vorsetzlicher Unordnung" (Major 1688: 9) zu wirken.

Die Sammler wollen sich und ihre Gäste also weniger belehren als vielmehr ergötzen. Gefragt sind daher in erster Linie möglichst kuriose, einzigartige und preziöse Gegenstände. Wie die Wallfahrer zu einschlägigen Mirakelstätten, so pilgern junge Adlige auf ihrem grand tour zu den Wunderkammern Europas, um über Mirabilia zu staunen. Durch die Entdeckungsfahrten nach Ost- und Westindien erschließen sich neue Quellen bestaunenswerter Objekte. Neugierig werden die heimkehrenden Schiffe in den europäischen Hafenstädten erwartet. So etwa von Albrecht Dürer, der das Gehäus seines Heiligen Hieronymus (1514) im Anschluß an seine niederländische Reise (1520/21) womöglich üppiger ausgestattet hätte, denn er erwirbt dort laut Tagebuch allerlei Exotika wie "indianische Nüsse, Papageien, Korallen, Schildkrötenpanzer, Hörner, Zedernholz, [einen] Totenkopf, Magnetstein, Pfeile, Austern", vom portugiesischen Faktor außerdem "etlich Federn, calecutisch Ding" ( Dürer zit. nach Goldmann 1982: 156). Der eher vage referenzsemantische Gebrauch des Adjetkivs calecutisch deutet darauf hin, daß exotische Zeichenträger zunächst noch keiner exakten geographischen oder ethnologischen Beschreibung unterzogen werden, sondern als Exotika für das Ferne, Erstaunliche, aber auch Bedrohliche schlechthin stehen. Im gleichen Maße jedoch wie im Mittelalter das in Noahs Arche nicht vertretene Monströse durch Zurschaustellung unter dem vertrauten Kirchenschiff seiner Wirkung beraubt wurde, werden unheimliche Semiophoren aus der Neuen Welt in den Kunstkammern der Fürsten und Gelehrten 'heimlich'. Mögen Exotika auch von unwirtlichen Gegenden, von schreckenerregenden Völkern zeugen, im Mikrokosmos und Zeitraffer des Kabinetts unterstehen sie den kontemplativen Grillen des Besitzers, der sich damit nicht nur als imperator urbi, sondern auch orbi verstehen konnte.

Von ähnlichem Schauwert wie die Exotika sind die in vielen Kunstkammern versammelten Naturabgüsse, Schüttelkästen und Automaten. Als Vorstufen auf dem Weg zur perfekten maschinellen Naturnachahmung sind die im 15. Jahrhundert erfundene Technik des Naturabgusses sowie die sogenannten Schüttelkästen anzusehen. Erstere führen nach Quicchebergs Museumsinstruktionen zu lebendig aussehenden Nachbildungen ("qua arte apparent omnia viua"; Quiccheberg, zit. nach Bredekamp 1993: 109), letztere erwecken darüber hinaus den Eindruck der Bewegung.12 Eine Steigerung bieten schließlich die Automaten, weil sie wie selbstbewegte Gebilde erscheinen. Als Maschinen verdanken sie ihre Perfektionierung den neuen Erkenntnissen der Mechanik, was den Gedanken einer möglichen technischen Nutzanwendung nahelegt. Doch die Geschichte des Automatenbaus13 lehrt, daß Automaten wider Erwarten stets im Dienst der Schönheit standen, ja, daß sie insbesondere in Epochen




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überfeinerten, mitunter dekadenten ästhetischen Raffinements als Gipfelschaustücke galten (Spätantike, Manierismus, Rokoko) und erst im 19. Jahrhundert auf das Niveau schnöder Jahrmarktsbelustigung herabsanken.

Während die Automaten nicht zuletzt durch (scheinbar) perfekte Simulation des Organischen das Rokoko-Publikum noch zu betören vermögen und von d'Alembert in der Encylopédie in den höchsten Tönen gerühmt werden, verkümmern jene Sammlungsorte, die sie traditionell beherbergen: Die Kunstkammer ist mit dem Utilitarismus und Ordnungsdenken der Aufklärung nicht mehr vereinbar, was Diderot im Artikel Cabinet d'histoire naturelle mehr als deutlich zum Ausdruck bringt:

Pour former un cabinet d'histoire naturelle, il ne suffit pas de rassembler sans choix, & d'entasser sans ordre & sans goût, tous les objets d'histoire naturelle que l'on rencontre; il faut savoir distinguer ce qui mérite d'être gardé de ce qu'il faut rejeter, & donner à chaque chose un arrangement convenable. [...] un cabinet d'histoire naturelle est fait pour instruire; c'est là que nous devons trouver en détail & par ordre, ce que l'univers nous présente en bloc (Diderot 1976: 240).

Es mag paradox klingen, aber im Grunde genommen endet die Geschichte enzyklopädischer Sichtbarkeit strictu senso just in jener Epoche, in der das Museum der Begriffe mit der Encylopédie seinen Höhepunkt erreicht. So mangelhaft die Kunst- und Naturalienkabinette in bezug auf die systematische Anordnung der Objekte auch gewesen sein mögen, immerhin konnten sie den Anspruch der Totalität erheben. Dagegen begnügen sich die Museen mit einer "completezza ordinata con metodo, formata di sequenze concatenate, organizzata per serie" (Olmi 1992: 201).

Nach kleineren Vorspielen setzt die Geschichte der Museumsgründungen im 18. Jahrhundert ein. 1734 öffnet in Rom das Museo Capitolino, 1753 gründet das britische Parlament das British Museum. Im Laufe der Zeit differenziert sich das Museum in unterschiedliche Typen aus. Als Haupttypen unterscheidet Pomian kunstorientierte von technikorientierten Museen. Erstere versammeln ausschließlich Artefakte, die räumlich isoliert und ohne größere Erläuterungen ausgestellt werden, weil sie für sich sprechen. Letztere präsentieren neben Artefakten auch Produkte der Natur, deren geordnete Aufstellung mit vergleichsweise großem didaktischen Aufwand betrieben wird (Pomian 1988: 92). Auch wenn die in technikorientierten Museen ausgestellten Sammelstücke einmal Nutzgegenstände oder gar Abfall gewesen sein mögen, so werden sie im Museum ebenso auratische Bedeutungsträger wie Kunstwerke, die diesen Status schon immer innehatten. Schließlich sei ein letztes Merkmal genannt: Im Museum spiegelt sich das enzyklopädische Streben nach "zeitlicher und räumlicher Universalität" (Pomian 1988: 97) wider. Letzteres drückt sich darin aus, sichtbare Zeugnisse sämtlicher Zeitalter und außereuropäischer Kulturen in sukzessive entstehenden Abteilungen zu präsentieren.14

Im Horizont dieser Überlegungen ist nach dem Stellenwert des Museums in Bouvard et Pécuchet zu fragen. Gelingt es den beiden, über den Umweg der sichtbaren Enzyklopädie Wissen darzustellen und zu vermitteln?




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3 Dispositio und elocutio in Flauberts Museum

Zwar wird das Zusammentragen verschiedener Gegenstände im Roman als Museumsgründung dargestellt, aber da sich das Publikum ausschließlich aus dem Bekanntenkreis der beiden Sammler zusammensetzt, handelt es sich eher um eine Privatsammlung im oben genannten Sinn. Außerdem genügt schon ein flüchtiger Blick auf die Sammlungsstücke, um über den Bildungsauftrag dieses Museums ins Rätseln zu geraten. Es enthält u. a. Gesteinsproben, einen galloromanischen Sarkophag, Haushaltswaren, eine kupferne Zierschale, die einen zärtlichen Mönch und eine Schäferin zeigt, Fackeln, Schrauben und Türschlösser, ein mittelalterliches Panzerhemd nebst Streitaxt, einen Sombrero, eine riesenhafte Holzpantine voll Laub und den Resten eines Vogelnests, zwei Kokosnüsse, ein Geldstück, das von einer Ente ausgeschieden wurde, eine mit Muscheln besetzte Kommode, eine Schnapsflasche, die eine Birne enthält, sowie eine Figur des Heiligen Petrus (BP: 163, 164). Diese unvollständige Aufzählung von Objekten erhellt bereits, daß die Sammlung der Protagonisten keinem bestimmten Museumstyp zuzuordnen ist. Hinter dem bunten Sammelsurium nicht aufeinander beziehbarer Gegenstände läßt sich nirgends eine ordnende Hand ausmachen. Der Erzähler verzichtet darauf, die Ordnung der Dinge - wie im Falle des Wissenschaftssystems15 - zumindest ironisch wiederherzustellen. Vielmehr fühlt man sich durch die Lexik an die spielerische dispositio einer Wunderkammer erinnert, etwa dann, wenn von "curiosités les plus rares" (BP: 163), von einer "pièce unique", von einer "monstrueuse galoche" oder von einem "décime16, rendu par un canard" (BP: 164) die Rede ist. Bouvards und Pécuchets Museum enthält also alle erdenklichen Arten von Semiophoren: Zeichenträger, die von vornherein als semiotische Artefakte geplant waren (Petrusstatue), Abfall, der diesen Status der räumlichen (Kokosnüsse) oder zeitlichen (Panzerhemd, Streitaxt) Ferne verdankt, solche schließlich, die als mirabilia vom Numinosen zeugen (Geldstück). Irritierend wirkt nicht nur das Durcheinander unterschiedlicher Klassen von Semiophoren, irritierend wirkt insbesondere die Konfrontation von auratischen Zeichenträgern mit bloßen Nutzgegenständen: "Quand on avait franchi le seuil on se heurtait à une auge de pierre (un sarcophage gallo-romain) puis, les yeux étaient frappés par de la quincaillerie" (BP: 163).

Als Altertum zeugt der galloromanische Prachtsarg von entfernten Zeiten und vermittelt so mit dem Unsichtbaren der Vergangenheit. Darüber hinaus bezieht er seine Aura daher, daß in ihm ein Toter bestattet wurde, daß er möglicherweise Reliquien oder andere Grabbeigaben enthielt. Gerade der Tod hat die Sammler stets in doppelter Weise fasziniert: Einerseits sind die Kabinette Orte des memento mori, in denen sich die nature morte, das stille Leben, ansammelt. Andererseits soll die gegenwärtige Welt vor dem Tod bewahrt werden, wovon ausgestopfte oder einbalsamierte Tiere und sogar Menschen zeugen.17 Indes entzieht die Flaubertsche elocutio einer möglichen Resonanz jegliche Grundlage: Beim Eintritt ins Museum stößt man an den als "auge de pierre" bezeichneten Sarg, zudem beeinträchtigen herumliegende Haushaltsgegenstände die ästhetische Voreinstellung möglicher Betrachter. Hinzu kommt, daß die positive Bewertung der Objekte, z. T. markiert als Attribut zum Rhema ("pièce unique", "rendu par un canard"; BP:




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164), sich womöglich 'parteiischer' Figurenperspektive verdankt, die, wie im Falle von "auge de pierre", durch abwertende Erzählerrede konterkariert wird.

Doch nicht nur die auf Pécuchet und Bouvard zurückfallende unglückliche Anordnung der mehr oder weniger bedeutenden Objekte ist verantwortlich für den Verlust ihrer Aura. Vielmehr handelt es sich um ein epochenspezifisches Problem. Wissenschaftliche Entgrenzungsprozesse, die Entfesselung der technischen Produktivkräfte und nicht zuletzt die Industrialisierung der Kunst beschleunigen im 19. Jahrhundert den Prozeß der Entzauberung der Welt. Daß diese nur pauschal genannten Tendenzen in der Museumslandschaft der Protagonisten Spuren hinterlassen, soll am Beispiel verschiedener Objekte gezeigt werden.

Exemplare fremder Fauna und Flora wie Muscheln und Steine werden in der Neuzeit als Semiophoren entdeckt. Als Folge der ersten großen Expeditionsreisen finden sie Eingang in die Kabinette der Fürsten und Gelehrten, "denn man nahm sie nicht aufgrund ihres Gebrauchswerts mit, sondern ihrer Bedeutung wegen als Repräsentanten des Unsichtbaren - exotischer Länder, anderer Gesellschaften und fremder Klimazonen" (Pomian 1988: 55). Die "commode en coquillages", die "boîte à ouvrage en coquille" sowie Pécuchets Kokosnüsse gehören dieser Kategorie von Zeichenträgern an, ja, man kann sie als typische Ikonen neuzeitlicher Kunst- und Wunderkammern bezeichnen.18 Doch nicht erst aus der Perspektive des ausgehenden 20. Jahrhunderts, bereits für einen Museumsbesucher um 1850 dürfte sich der exotische Hauch besagter Ausstellungsstücke verflüchtigt haben. Ein exotischer Gegenstand vermag nur so lange in Staunen zu versetzen, wie das von ihm Bezeichnete in der Ferne residiert. Ganz abgesehen davon, daß aus dem Exotikum Kokosnuß im Zeitalter des Kolonialismus ein importiertes Nahrungsmittel wird, wird sein Bezeichnetes nicht nur von den Kolonisatoren in Besitz genommen, sondern auch für die Daheimgebliebenen dokumentarisch erschlossen. Das bloß imaginäre Fremde, das die okzidentalen Kollektivphantasien noch im frühen 19. Jahrhundert in seinen Bann schlägt, wird dem europäischen Publikum in Form von Weltausstellungen und Illustriertenphotos nahegebracht.

Daß die Aura des Orients durch seine Präsentation auf den ersten Weltausstellungen verloren ging, belegt Maag (1986) an verschiedenen Zeugnissen von Ausstellungsbesuchern. Als Beispiel führt er u. a. Théophile Gautiers Text L'Inde an, den letzterer der Londoner Weltausstellung (1851) widmete. Gautiers Beitrag ist insofern aufschlußreich, als er zeigt, daß sich der phantastische Traum von Indien in dem Augenblick auflöst, wo der Träumer im Warenmeer der Weltausstellung die Augen aufschlägt:

Ah! combien souvent, lorsque nos pieds foulaient lentement le ruban de bitume qui conduit de l'Obélisque à l'arc de l'Etoile, notre pensée se promenait dans les jungles, où le tigre, avec une pose de sphinx, lèche sa patte de velours de sa langue âpre comme une lime [...]; sous les mangliers dont les branches pleureuses se replantent et se multiplient en innombrables arcades, en sorte qu'un arbre est bientôt un bois; [...]; à l'ombre des monstrueux baobabs âgés de six mille ans comme le monde, et qui ont peut-être vu Adam sous leurs jeunes pousses [...] (Gautier 1978: 248).

Die erhitzte Phantasie, die dem Pariser Asphaltflaneur einen fabelhaften (sphinx), verführerisch-gefährlichen (patte de velours vs. âpre comme une lime), auf zauberhafte Weise




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anthropomorphen (branches pleureuses), ja, monströsen Urwald vorgaukelt - diese Phantasie erkaltet, als der Ausstellungsbesucher vor den Produkten der englischen Provinz Indien steht:

[...] le gigantesque empire, berceau du genre humain, aujourd'hui province anglaise, a été rangé très artistement et très méthodiquement dans des cases et catalogué avec le même flegme que la coutellerie de Sheffield ou de Birmingham (Gautier 1978: 243).

Maag kommentiert dieses Zitat mit der Bemerkung, Indien sei sozusagen in Kisten nach London verschickt worden (Maag 1986: 109) - dem ist nichts hinzuzufügen.

Aber auch die Bilder in den Illustrierten - z.B die 50er-Jahrgänge der Zeitschrift L'Illustration (Maag 1986: 112) - haben den Bezug zum Orient so sehr versachlicht, daß Pécuchets Kokosnüsse nur noch als banaler Unrat erscheinen. Das Unsichtbare, das von vergleichbaren Bedeutungsträgern einstmals evoziert wurde, wird dem großen Publikum mittels beliebig zu vervielfältigenden, regelmäßig erscheinenden Abbildern verfügbar gemacht.19 Der systematische Abbau von Phantasiebildern aus der Ferne wirkt sich auch auf die literarische Produktion aus. Maag fügt hinzu, daß es nur allzu sehr in der Logik dieser Entwicklung liege, wenn die Gattung "Reiseerzählungen aus dem Orient" ab der Mitte des vorigen Jahrhunderts schließlich mehr und mehr verkümmere (Maag 1986: 113).


4 Von Heiligen und Automaten

Die visuelle Enzyklopädie Bouvards und Pécuchets ist weit davon entfernt, das Universum im Sinne Diderots durch angemessene Auswahl, Anordnung und Didaktisierung der Dinge methodisch sinnvoll abzubilden. Aber immerhin sind die Protagonisten darum bemüht, die versammelten Gegenstände nach einer ästhetischen Reizwertskala anzuordnen. Zum Beispiel werden die kostbarsten Raritäten ("les curiosités les plus rares"; BP: 163) in der Mitte des ersten Ausstellungsraums auf einem Tisch zur Schau gestellt (exhiber), Panzerhemd und Streitaxt schmücken (orner) die rechte Wandseite. Raumsemantik und Verbwahl deuten also auf ein ästhetisches Ordnungsprinzip, umso mehr als die konnotative Bedeutung von exhiber auf das ostentative Zeigen abhebt. Auch in dieser Hinsicht verweist das Museum auf anachronistische Sammlungstypen, denn diese neigen zur schmückenden Anordnung von Naturalia und Artificialia. Das bereits erwähnte 'museo' Ferdinando Cospis, von dem ein Stich aus dem Jahre 1677 existiert20, zeigt beispielsweise als Fluchtpunkt eine Dantebüste, auf welche Waffen, Masken und bestialische Monstren wie Eisenspäne auf einen Magneten hin ausgerichtet sind. Die Objekte bilden Ornamente - Pfeile und Schwerter sind wie Strahlenkränze um Schilde herum angeordnet -, die ihrerseits mit den anderen Gegenständen in symmetrischen oder hierarchischen Beziehungen stehen und in der Summe ein Superornament ergeben, das keinem erkennbaren Klassifikationsprinzip folgt und allein das Auge erfreut.

Zudem kann man am Beispiel von Cospis 'museo' erkennen, daß ältere Sammlungen häufig über ein Zentrum verfügen, das durch die bedeutendsten Objekte ausgefüllt wird und die Aufmerksamkeit des Besuchers in besonderem Maße auf sich zieht. Cospis Dantebüste als Sammlungsfluchtpunkt ist auf sakrale Sammlungstraditionen zurückzuführen. In den Kirchen sind es traditionell die Reliquien, denen ein erhabener Ort vorbehalten wird, genauer:




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Occupano spesso la posizione preminente di Hochaltar al centro del presbiterio e riassumono in qualche modo, nell'ampio spettro di presenze di Christo, Madonna e santi, un olimpo prottetivo della chiesa e dei suoi frequentatori (Lugli 1983: 30).

Genau einen solchen 'Schutzolymp' haben Bouvard und Pécuchet ebenfalls eingerichtet. Er befindet sich in der Fensteröffnung an erhöhter, gut ausgeleuchteter Stelle und beherbergt unter einem rosenbekränzten Baldachin eine Statue des Heiligen Petrus:

Mais le plus beau, c'était dans l'embrasure de la fenêtre, une statue de saint Pierre! Sa main droite couverte d'un gant serrait la clef du Paradis, de couleur vert pomme; sa chasuble que des fleurs de lis agrémentaient était bleu ciel, et sa tiare très jaune pointue comme une pagode. Il avait les joues fardées, de gros yeux ronds, la bouche béante, le nez de travers et en trompette (BP: 164).

In Pomians theoretischer Grundlegung des Museums wird Gemälden oder Skulpturen von Heiligen die Rolle des Mittlers zwischen Erde und Jenseits zugeschrieben, "da sie jenseits der Grenze leben, durch die das Sakrale vom Profanen geschieden ist" (Pomian 1988: 40). Im Bild werden die vermeintlichen Züge des Modells nachgeformt, was es dem Betrachter erlaube, eine Biographie mit der Figur zu verbinden. Die Stärke solcher Bilder liege nun darin, daß ihnen eine Macht zugeschrieben werde, durch die sie unmittelbar am Heiligen partizipierten (Pomian 1988: 41).

Obgleich Bouvard und Pécuchet in ihrer Petrusstatue das schönste Ausstellungsstück sehen, dürfte es kaum die von Pomian beschriebenen Korrespondenzen herstellen. Was in Wahrheit ein ernüchternd häßliches Kitschobjekt ist, erscheint figurenperspektivisch als Gipfel der Sammlung. Während bisher noch eine Mischung aus Erzähler- und Figurenrede dominierte, geht an dieser Stelle der nicht-adversative, steigernde Konnektor mais 21, gehen superlativische Semantik und Zeichensetzung eindeutig auf die Perspektive Pécuchets zurück und sind ironisch zu verstehen. Hatte die Mischung aus einander widersprechenden Bewertungen den Leser bislang verunsichert, so enthält der Abschnitt im Anschluß an die Beschreibung der Petrusstatue das Auflösungszeichen für die andauernden Dissonanzen. Ebendort heißt es: "Pécuchet, de son lit, apercevait tout cela en enfilade - et parfois même il allait jusque dans la chambre de Bouvard, pour allonger la perspective" (BP: 165). Mit dieser nachträglichen Enthüllung eines Perspektivträgers kommt zum einen ein klassisches Flaubertsches Ironieverfahren (vgl. Warning 1982) zum Zuge. Darüber hinaus evozieren Raumsemantik und Lexik den kontemplativen Aspekt des studiolo. Denn Pécuchets versonnener Blick auf den häuslichen Mikrokosmos erinnert an den des Renaissancemenschen, der in seinen Sammlungsgegenständen vor allem "punti di appogio per l'immaginazione" (Chastel 1964: 41) sah, die mitunter eine anregende Abschweifung vom Studium gestatten. Denn auch Flauberts Museum stellt ja eine Einheit aus begehbarer Enzyklopädie und Bibliothek dar.

Die Verschiebung eines sakralen Bedeutungsträgers in den profanen Rezeptionsrahmen des Museums gibt dabei noch keinen hinreichenden Grund für die Ernüchterung ab. Gipskunst und Devotionalien bilden eine Konstante in Flauberts Romanwerk. In diesem Zusammenhang weist Koppe auf die erbaulichen Figurengruppen in Arnoux' Kunsthandel Aux arts gothiques (L'Éducation sentimentale) sowie auf den Brevier lesenden curé de plâtre im Garten der Bovarys




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hin (Koppe 1977: 67). In diese Reihe sind nicht zuletzt Objekte wie "des Jésus-Christ en noix de coco" oder "une petite vierge en pâte bleue" (BP: 335) zu stellen, religiöser Kitsch, der die bekehrten Wallfahrer Pécuchet und Bouvard an der Marienstätte La Délivrande erwartet.

Im Lichte dieser inter- und intratexuellen Bezüge zeichnet sich ab, was die Petrusstatue zu einem problematischen Kunstwerk macht: seine technische Reproduzierbarkeit. Im 19. Jahrhundert verfällt nicht nur die Aura exotischer Länder. Pécuchets kontemplativer Kunstgenuß beim Anblick der Petrusfigur wirkt obsolet, weil auch die Kunst mit dem Aufkommen des art industriel entzaubert wird. Den Prozeß der Entauratisierung hat bekanntlich Walter Benjamin in seiner wegweisenden Studie Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf den Begriff gebracht. Ebendort wird Aura als "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" (Benjamin 1978: 440) definiert. Das Verschwinden dieses Phänomens erklärt er wie folgt:

Die Dinge sich "näherzubringen" ist nämlich ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch deren Reproduzierbarkeit darstellt. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstandes aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt, wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem (Benjamin 1978: 440).

Gewiß, der Hinweis auf die "Wochenschau" deutet darauf hin, daß die Epochenschwelle erst mit dem Aufkommen des Films vollends überschritten wird. Aber schon im art industriel wird die Aura hinfällig, weil sie in Gestalt des überall käuflichen Verbrämungskitsches paradoxerweise multipliziert wird. Durch zirkulierende Abbilder - häufig Produkte industrieller Serienproduktion - verlieren Kunstwerke ihre Einmaligkeit.

Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, daß Pécuchet und Bouvard gegenüber den ersten Museumsbesuchern, Mme Bordin und M. Marescot, auf das Besondere oder Einmalige ihrer Sammlungsstücke abheben. Dies geschieht, indem die sichtbare Enzyklopädie binnenfiktional um narrative und dramatische Elemente bereichert wird. Jetzt erfährt man, daß der anfangs erwähnte alte Balken im Vestibül nichts geringeres als der ehemalige Galgen von Falaise sei, die große Kette im Flur aus einem Verlies stamme und der von Schüssen durchbohrte Hut am Kamin dem getöteten Räuber David de La Bazoque gehört habe. Von dem Zehn-Centimes-Stück wissen wir bereits, daß es auf wunderbare Weise von einer Ente ausgeschieden wurde, wie auch nachdrücklich die Einzigartigkeit der mittelalterlichen Streitaxt hervorgehoben wird. Auf den ersten Blick verfügen diese Objekte im Unterschied zur Statue des Heiligen Petrus über eine Aura: Sie sind weder häßlich noch beliebig reproduzierbar und scheinen wie geschaffen, den Museumsbesucher in Staunen zu versetzen. Gestaunt wird freilich unter Vorbehalt: Mme Bordin reagiert mit dem Ausruf: "Mais on ne voit chez vous que des choses lugubres!", und Marescot kommentiert die Museumsobjekte mit angewidertem Lächeln (BP: 170). Es sei daher postuliert, daß der Gruppe der 'düsteren', vermeintlich auratischen Gegenstände etwas Häßliches anhafte, was nicht am Objekt selbst ablesbar ist.




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Den erstgenannten Gegenständen - Galgen, Kette, Hut - ist gemeinsam, daß sie auf die Welt des Verbrechens und damit, legt man Karl Rosenkranz' epochale Ästhetik des Häßlichen zugrunde, auf das Geisthäßliche22 in Form des Verbrecherischen verweisen. Allerdings sind Verbrechen je nach dem Grad materialer resp. formaler Unfreiheit und dem sozialen Rang des Verbrechers zu unterscheiden. So etwa erwecke das Böse in Shakespeares Richard III beim Publikum tiefen Abscheu, und doch sei die formale Seite der Freiheit, nämlich die Mittel zur Erreichung des verbrecherischen Zwecks, "auf dem Gipfel ihrer Virtuosität" (Rosenkranz 1990: 266) angelangt: Intelligenz, Willenskraft und nicht zuletzt die erhabene soziale Position des Bösewichts lassen die Verbrechen dämonisch erscheinen und verleihen ihnen eine kalte, einmalige Würde. Dagegen lassen die um Bouvards und Pécuchets Schauerstücke gesponnenen Mären eher auf jene Gemeinheit des Gewöhnlichen schließen, die Rosenkranz als Grundzug des zeitgenössischen, französischen Boulevardtheaters resp. Feuilletonromans ausmacht (Rosenkranz 1990: 264). Denn bei dem raunend ins Feld geführten Verbrecher David de La Bazoque handelt es sich wohl eher um einen Fall von habituell gewordener Schuftigkeit, kaum geeignet, den durchlöcherten Hut zum Relikt bedeutender Kämpfe zu stilisieren: umso weniger, als der Bandenchef, wie man erfährt, aus den eigenen Reihen denunziert wird, was den Eindruck niedriger Gesinnung nur bestärkt.

Es kommt hinzu, daß der innerfiktionale Wahrheitswert derjenigen Propositionen, die die arché der Objekte verbürgen sollen, mitunter zweifelhaft bleibt, weil die ursprüngliche Äußerungsinstanz nicht mehr auszumachen ist. So ist etwa die Aussage, wonach es sich bei dem Balken um den ehemaligen Galgen von Falaise handele, nur eingeschränkt gültig, denn Bouvard übernimmt sie vom Verkäufer, der diese Auskunft seinerseits von seinem Großvater bekommen haben will (BP: 169). Der Ursprung des Objekts verliert sich also im Nebel der Geschichte.23

Auch das Zehn-Centimes-Stück wird durch eine Geschichte aufgewertet, die den Museumsstandort des prosaischen Gegenstands legitimieren soll. Binnenfiktional steht die Münze für das Wunderbare. Eine weitere Bedeutungsdimension erschließt sich freilich, wenn 'extratextuelle' Umstände berücksichtigt werden. Die Tatsache, daß die Münze von einer Ente ausgeschieden wurde, läßt aufmerken und berechtigt zu der Annahme, daß auf ein ungleich berühmteres Ausstellungsstück angespielt wird: nämlich auf die berühmte Vaucansonsche Ente.24 Vaucansons selbstbewegte Tiere und Androiden bieten dem aufgeklärten Publikum Projektionsflächen für philosophische Theoreme. Insbesondere aber sind sie in der Spätzeit des Ancien Régime disponible Simulacra für eine rokokoselige Adelsschicht, die den Ernst der historischen Umbruchsituation nicht erkennen will und in einer Mischung aus heiterem Aufbruchswillen und verspielter Untergangsstimmung für die danses macabres dieser zweckfreien Maschinen äußerst empfänglich war. Freilich verzweigt sich die Geschichte der Rokokoautomaten am Ende des Aufklärungszeitalters: Als ästhetische Objekte werden sie nicht länger von kindischen Adligen im Kunstkabinett, sondern von Bürgerskindern auf dem Jahrmarkt bestaunt, und als technische dienen sie fortan als Perfektibilitätsvehikel. Gefragt ist der praktische Nutzen von Maschinen. Es erstaunt daher kaum, daß Voltaire den Automatenbauer Vaucanson in die illustre Gemeinschaft großer Naturforscher einordnet und ihn im Discours en vers sur




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l'homme
zum Konkurrenten des Prometheus stilisiert.25 An der Schwelle zum 19. Jahrhundert entpuppt sich Prometheus als Archivar, denn Vaucanson sammelt als erster Mensch in der Geschichte der sichtbaren Enzyklopädie Maschinen. Es entsteht eine Sammlung, die im Jahre 1794 zur Gründung des ersten französischen Technikmuseums führt. Die Hauptaufgabe dieses Conservatoire national des arts et métiers besteht in der Anlage eines Depots für die Originale von Maschinen, Instrumenten und Zeichnungen mit dem Zweck "de perfectionner les arts et métiers" (Larousse, s.v. "Conservatoire des arts et métiers"), wie es in den Artikeln I bis III des Gründungsdekrets heißt.

Indem nun Flaubert in Bouvards und Pécuchets Museum statt einer künstlichen, verdauenden Ente das unverdaute Produkt einer natürlichen Ente plaziert, greift der ironische Grundton ins Satirische aus, weil nicht nur pragmatisches Wissen über die Sprechsituation, sondern darüber hinaus einschlägige Semantiken vorausgesetzt werden. Mit anderen Worten: An dieser Stelle wird die Fiktion zugunsten einer auf empirische Fakten verweisenden Tendenz funktionalisiert, eine Tendenz, die sich nur demjenigen Leser erschließt, der über Kenntnisse der Automaten- bzw. Technikgeschichte verfügt.26

Wenn allerdings solche Kenntnisse vorauszusetzen sind, dann heißt das noch lange nicht, daß Flauberts Satire auf "extratextuelle Realumstände" oder "unmittelbar auf die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts" (Mahler 1995: 41) abzielt. Denn:

Die Literatur hat nicht unmittelbare Beziehungen zur hypothetischen "black box" der "eigentlichen Realität", sondern nur zu dem kulturellen Wissen und Denken über die "Realität": nur mit diesem Denken und Wissen werden literarische Propositionen von den zeitgenössischen Rezipienten verglichen. [...] für die Literaturgeschichtsschreibung sind nur die Relationen der Literatur zu den Realitätsvorstellungen, nicht aber zur Realität, relevant (Titzmann 1989: 59).

Da 'Realität' immer schon diskursiv vermittelt ist, können die Realia nicht an sich erfaßt werden, sondern nur ihre diskursiven Hervorbringungsregeln. Folglich wäre m. E. das jeweilige Objekt der Satire nicht die 'Sache selbst'. Vielmehr wäre es zu modellieren als ein Redegegenstand, der jeweils zu bestimmenden Regularitäten der Rede unterliegt. Angewandt auf Flauberts Spätroman im allgemeinen bzw. auf das Museumskapitel im besonderen heißt das, daß unterschiedliche Diskurse (Enzyklopädiengeschichte, Museumsdiskurs, pädagogischer Diskurs u. a.) des Diskurstyps Enzyklopädismus 27 punktuell ins Schußfeld des Satirikers Flaubert gerückt werden. In dem an dieser Stelle untersuchten vierten Kapitel von Bouvard et Pécuchet gelten Flauberts Giftpfeile dem Museumsdiskurs, der sich seit dem epistemischen Bruch am Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Feld enzyklopädischer Sichtbarkeit etabliert. Mit anderen Worten: Indem Flaubert statt eines Museums dessen historische Vorstufen präsentiert und durch einen heterodiegetischen Erzähler punktuell abwertet, wird nicht eine anachronistische Form des Sammelns, sondern die zeitgenössisch virulente Sammel- und Klassifizierungsmarotte satirisiert. In concreto: Nicht Vaucansons Ente, sondern die auf einschlägigen Hervorbringungsregeln beruhende, nachfolgende Institutionalisierung und Vulgarisierung seiner Maschinen stehen im Fokus der Satire. Dienten die Automaten einmal als zwecklose Kabinettschaustücke höfischer Kultur, so werden sie in einer veränderten diskursiven Formation zu Bausteinen einer




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populistischen Wissenschaftsreligion. Als rekonstruierbare Formationsregeln im Sinne Foucaults28 wären der Institutionalisierungs- und Pädagogisierungsschub sowie der flankierende lexikographische Diskurs zu nennen. Wie nicht nur das Beispiel der Vaucansonschen Sammlung zeigt, geht mit der Musealisierung die Durchsetzung des staatlichen Primats einher. Denn das Conservatoire des arts et métiers wird nicht nur per Dekret verstaatlicht, indem seine Funktionen genau festgehalten werden. Darüber hinaus untersteht es direkt dem Ministerium für Landwirtschaft, Handel und Verkehr. Nicht zuletzt wird das Conservatoire als Volksbildungsanstalt genutzt:

Des cours publics et gratuits y sont professés aux heures où tous les travailleurs, même les ouvriers et les artisans, peuvent en profiter après le labeur de la journée (Larousse, s.v. "Conservatoire des arts et métiers").

Glaubt man dem salbungsvollen Lexikoneintrag des Grand Dictionnaire universel, dann führt eine solche staatliche Indienstnahme zu einer Apotheose von Nation und Revolution, mit der dem Jahrhundert eine Krone aufgesetzt wird.

Quand on [...] ramène ses regards sur le Conservatoire des Arts et Métiers, libéralement ouvert à tous les artisans, on est presque tenté d'être fier de son siècle et de sa nation. Ajoutons, pour ne pas être ingrat, et de notre grand Révolution (Larousse, s.v. "Conservatoire des arts et métiers").

Das Grand Dictionnaire, ultimatives Museum der Begriffe des 19. Jahrhunderts, schickt sich an, der sichtbaren Enzyklopädie in Gestalt des Conservatoire einen verbalen Triumphbogen zu bauen - ein Lemmaauszug, der umkommentiert in Flauberts Torheitentresor, seinem Sottisier, in der Abteilung "Perles du style officiel" (Flaubert 1995: 259) hätte Platz finden können.


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Anmerkungen

1 Für wichtige Hinweise danke ich Holger Jebens

2 Ein Beispiel für diese Umorientierung in der Enzyklopädiengeschichte bietet die Science universelle des Charles Sorel. Dieser sieht in den artes liberales kein brauchbares Konzept mehr für eine systematisierende Gesamtdarstellung aller Wissenschaften. Vgl. Scholler (im Druck).

3 Vgl. hierzu Neumeister (1990), der eine systematische Skizze zum Thema geliefert hat. Demnach lassen sich Sammlungen von Objekten gegenüber solchen von Abbildungen, Symbolen oder abstrakten Wissens unterscheiden. Stellvertretend für die zahlreichen Beispiele enzyklopädischer Sichtbarkeit seien Kirchenschätze, barocke Kunst- und Wunderkammern, moralistische Emblematik, Stammbäume sowie die beliebten Tortendiagramme heutiger Meinungsforschung genannt.

4 Die Kombination von Enzyklopädie und Roman hat dazu geführt, daß Bouvard et Pécuchet lange Zeit weder als Wissenschaftskritik noch als Roman geschätzt wurde. Erstere werde von zwei Tölpeln vorgetragen und beweise daher gar nichts (Faguet 1899: 135), und letzterer falle gegenüber den großen Vorgängern Madame Bovary und L'Éducation sentimentale deutlich ab (vgl. Brombert 1966 und Bart 1967). Das mag seinen Grund zum einen darin haben, daß erst ein postmoderner Rezeptionshorizont den Widerstreit zwischen enzyklopädischer Paradigmatik und romanesker Syntagmatik nicht mehr als Mangel, sondern als "differentiale Qualität" (Schulz-Buschhaus 1977: 194) erkennen konnte. Daß zum zweiten Bouvard et Pécuchet nicht nur den im Schwange stehenden Desillusionsroman sondern obendrein sein eigenes Werk ironisch überbietet (vgl. Scholler 1996), muß als weitere differentiale Qualität eingestuft werden.

5 Zu Beginn des vierten Kapitels heißt es lakonisch: "Six mois plus tard, ils étaient devenus des archéologues; ­ et leur maison ressemblait à un musée" (BP: 163). Verbsemantik und focalisation externe des heterodiegetischen Erzählers deuten bereits am Kapitelanfang auf ironische Vorbehalte. Zur Ironisierung des Museums als enzyklopädische Alternative vgl. bereits Scholler 1991.




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6 Vgl. dagegen Lugli (1983: 12), der die Meinung vertritt, daß schon in der Antike das Prestige als wichtigste Triebfeder für das Sammeln gelten muß und von einer Sammlung erst dann die Rede sein kann, wenn sakrale Gegenstände profanisiert und für private Zwecke bestimmt werden. Als Beispiel führt er den durch Cicero zu trauriger Berühmtheit gelangten sizilianischen Statthalter Verres an, der eine mit Gold und Elfenbein verzierte Tür aus dem Tempel der Minerva in Syrakus entwendet und in den eigenen Palast einbaut.

7 Der Gefallen am Monströsen äußert sich auch in einer weit verbreiteten Bestiarienliteratur, die von christlichen Autoren geschaffen wird, um die a priori harmonische Schöpfung mit ihren abnormen Hervorbringungen zu versöhnen (Augustinus). Eine andere Strategie wählt Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae, indem er etwelche Schimären in die seinerzeit unbekannte, noch nicht christianisierte Welt versetzt (Lugli 1983: 20).

8 Vgl. hierzu die bei Goldmann (1982) und Liebenwein (1988) erwähnten Hieronymusdarstellungen in der bildenden Kunst. Als topisch lassen sich Motive oder einschlägige Szenographien auch dann ausweisen, wenn die ersten Parodien vorliegen. Das Bild des Renaissancegelehrten inmitten von Tieren und anderen Objekten muß sich schon zu Zeiten Rabelais' zum Topos verfestigt haben, sonst hätte dieser in Pantagruel jenen nicht parodieren können. Ebendort findet man im 13. Kapitel des III. Buches einen solchen Gelehrten, der in der Abgeschiedenheit seines studiolo keine Ruhe findet, weil die versammelten Bestien sich nicht gelehrt sondern viehisch äußern (Rabelais 1994: 390).

9 Die folgenden Ausführungen beruhen größtenteils auf Liebenweins (1988) grundlegender Studie zum studiolo, worin Ursprung und Verbreitung dieses Raumtyps erörtert werden. Demnach entstehen die ersten Studierstuben Mitte des 14. Jahrhunderts, breiten sich daraufhin insbesondere unter den italienischen Renaissanceherrschern aus und verwandeln sich am Ende des 16. Jahrhunderts in enzyklopädische Sammlungen - wie im Falle der Sammlung Francesco I de' Medicis, die auf ein ikonographisches Programm des Benediktiners Vincenzo Borghini zurückgeht.

10 Dahinter verbirgt sich der im Bereich enzyklopädischer Sichtbarkeit immer wiederkehrende Versuch einer reductio ad unum, der Versuch, den Kreis des Wissenswerten mit einem Blick zu erfassen. Einen Hang zur Reduktion weisen auch die sogenannten Kunstschränke auf. Das Universum wird gleichsam miniaturisiert und nach einem bestimmten System in die Schubladen eines eigens zu enzyklopädischen Zwecken hergestellten Möbelstücks gepackt. Der einzige Kunstschrank, dessen Inhalt noch (teilweise) existiert, gehörte dem Kunsthändler Philippe Hainhofer (1578-1630) und wurde dem schwedischen König Gustav Adolf bei seinem Einzug in Augsburg (1632) zum Geschenk gemacht (vgl. Tous les savoirs 1996: 291). Im übrigen hat sich die Tendenz zur Miniaturisierung des Universums im Laufe der Geschichte in dem Maße verstärkt, wie die Datenmengen zugenommen haben. Davon zeugen Komprimierungsprogramme, die Speicherplatz auf der Festplatte schaffen oder auch die CD-Rom - die Welt als Scheibe als bisheriger Gipfel der ars memorativa.

11 Zu Inhalt und Aufbau barocker Kunst- und Wunderkammern vgl. Bredekamp (1993).

12 Schüttelkästen sind in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachgewiesen. Ein solcher Schüttelkasten aus Schloß Ambras ist von oben einsehbar und enthält ein Stück Waldboden mit dazugehörigen Käfern, Schnecken und Lurchen, die nur lose am Boden befestigt sind und durch Schütteln bewegt werden können.

13 Vgl. hierzu Judersleben (1994), dessen kulturgeschichtliche Studie zur Automatenkultur des Rokoko auch einen instruktiven Abriß über die Geschichte des Automatenbaus enthält.

14 Meijers (1996: 323) weist darauf hin, daß ironischerweise ausgerechnet im Land der Encyclopédie kein enzyklopädisches Museum entstanden ist. Die in der Encyclopédie entwickelte Museumskonzeption wurde in anderen Städten Europas verwirklicht (z. B. die Kunstkamera in St. Petersburg und das Fridericianum in Kassel). Aber auch diese Projekte, die darin bestanden, den Totalitätsanspruch der Kunstkammer als eine Art Supermuseum zu tradieren, waren im Grunde obsolet. Es erstaunt daher nicht, daß Diderot selbst im Anschluß an seine Reise nach St. Petersburg die Kunstkamera mit keiner Silbe erwähnt. Zwar gab es auch in Frankreich (1793) die Idee, ein enzyklopädisches Museum zu gründen, aber sie wurde verworfen: Louvre und Jardin des Plantes blieben getrennt (Meijers 1996: 325).

15 Bouvards und Pécuchets Studium der Einzelwissenschaften erfolgt ohne System. In den meisten Fällen stolpern die Protagonisten von einer Disziplin zur nächsten. Dennoch läßt Flaubert den Systemgedanken in Bouvard nochmals ironisch aufscheinen. Bouvard und Pécuchet folgen, darin dem erzählten Ich in Prousts A la recherche du temps perdu




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ähnlich, insgeheim einer vocation invisible. Denn die Reihenfolge der von beiden studierten Wissenschaften beruht durchaus auf einer enzykloädischen Logik: dem Studium der Naturwissenschaften folgt das der Geisteswissenschaften. Von den anwendungsorientierten Agrarwissenschaften im zweiten bis zur Philosophie im neunten Kapitel nimmt der Abstraktionsgrad der Disziplinen beständig zu. Die vocation invisible der Protagonisten besteht folglich darin, daß sie die Etappen des orbis doctrinae ohne Bewußtsein durchschreiten. Als ironisch ist dieses Verfahren zu bezeichnen, weil sich der Kreis der Wissenschaften - freilich deformiert - nur für den Leser schließt.

16 Die Wahl des Worts décime läßt auf eine Rarifizierungsstrategie schließen. Laut Petit Robert ist es erst seit 1795 belegt und ungebräuchlich, d. h. dieser stilistisch höherwertige Begriff sowie die wundersame Tatsache, daß der décime von einer Ente ausgeschieden worden ist, verhilft einem banalen pièces de dix centimes zu Museumswürden.

17 Als bekanntestes Beispiel gilt Soliman, die gleichnamige Figur in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der in der Hautevolée als Mohr Karriere machte und auf kaiserlichen Befehl präpariert und ins Museum gestellt wurde. Vgl. hierzu Goldmann 1982: 158.

18 Als kostbare Naturalia, die auch häufig weiterverarbeitet wurden, nennt Lugli "avorio, osso, uova di struzzo, conchiglie, legni pregiati, nuoci di cocco" (Lugli 1983: 16). Dabei kann die Weiterverarbeitung von Rhinozerushorn, Kokosnüssen oder Nautilusmuscheln als der Versuch angesehen werden, "den Gegenständen ihr Grausiges und Unverständliches zu nehmen" (Goldmann 1982: 157). Ebendort sind auch Trinkgefäße aus Rhinozerushorn und Kokosnüssen abgebildet.

19 Daß die Magie des Wortes Orient nur so lange währen kann, wie die Vorstellung davon vage bleibt, hat Paul Valéry erkannt: "Pour que ce nom produise à l'esprit de quelqu'un, son plein et entier effet, il faut, sur toute chose, n'avoir jamais été dans la contrée mal déterminée qu'il désigne. Il ne faut la connaître par l'image, le récit, la lecture, et quelques objets, que de la sorte la moins érudite, la plus inexacte, et même la plus confuse. C'est ainsi que l'on se compose une bonne matière de songe" (Valéry, zit. nach Maag 1986: 113).

20 Das Museum ist auf dem Frontispiz des Museumsinventars abgebildet. Vgl. die Reproduktionen in Bredekamp (1993) und im Ausstellungskatalog Tous les savoirs du monde (1996).

21 Der komplexe argumentative Konnektor mais läßt sich an dieser Stelle nicht durch seine adversative Grundfunktion erklären. Denn die mit mais eingeleitete Proposition soll ja keineswegs einen Gegensatz zu den vorangehenden Textsegmenten markieren. Dem Konnektor eignet in diesem Kontext vielmehr eine rhetorisch steigernde Wirkung, die sich daraus ergibt, daß eine Präsupposition zurückgewiesen wird, nämlich die durch die Argumentationsrichtung erwartete Proposition. Mit anderen Worten: Selbst das erwartete stärkste Argument ist nicht stark genug, um die überragende Qualität der Statue auszudrücken. Zur argumentativen Funktion von Konnektoren vgl. Ducrot 1980.

22 Rosenkranz unterscheidet drei Wesensformen des Häßlichen: das Naturhäßliche, das Kunsthäßliche und das Geisthäßliche. Ersteres entsteht, wenn Übermaß und Unmaß die an sich von der Natur angestrebten, reinen Formen zerstören (Rosenkranz 1990: 20). Das Kunsthäßliche ist möglich, weil es wie das Kunstschöne Erscheinung der Idee ist. Da es zum Wesen der Idee gehöre, die "Existenz ihrer Erscheinung frei zu lassen" (Rosenkranz 1990: 38), kann auch das Negative, und damit das Häßliche gesetzt werden. Das Geisthäßliche schließlich kann zwischen den Polen Freiheit und Notwendigkeit skaliert werden. Während Handlungen aus Freiheit die Schönheit der Seele beurkunden, verhäßlicht alle Notwendigkeit und bringt, je nach dem Grad der Unfreiheit, Verbildungen wie das Kleinliche, Rohe, Abgeschmackte oder Böse hervor (Rosenkranz 1990: 29).

23 Zum Problem der Äußerungsinstanz vgl. Schuerewegen 1987.

24 Im maschinengläubigen Zeitalter der Aufklärung löst Jacques de Vaucanson bei den Mitgliedern der Académie Royale des Sciences großes Erstaunen aus, als er ihnen drei raffinierte Automaten in Gestalt eines Trommlers, eines Flötenspielers und einer Ente präsentiert. Glaubt man Vaucansons Beschreibung, dann war letztere imstande, Hals und Flügel zu bewegen, das Gefieder aufzuplustern, zudem konnte sie Nahrung aufnehmen und diese dank eines "chymischen Laboratoriums" (Vaucanson 1748: 22) sogar verdauen.

25 Im fünften Discours heißt es: "C'est ainsi [...] / Que Clairaut, Maupertuis, entourés de glaçons, / D'un secteur à lunette étonnaient les Lapons, / Tandis que, d'une main stérilement vantée, / Le hardi Vaucanson, rival de Prométhée, / Semblait, de la nature imitant les ressorts, / Prendre le feu des cieux pour animer les corps" (Voltaire 1961: 235).




PhiN 1/1997: 62


26 Seit Warnings (1982) bestechender Analyse gilt es eigentlich als abgemacht, Flaubert als standpunktlosen Verbreiter totaler Ironie zu feiern. Im Unterschied zur rhetorischen gehe bei Flaubert die Ironie ihres insularen Charakters verlustig und sie könne, da Hinweise auf ein erzählerisches Orientierungszentrum in seinen Romanen getilgt seien, nicht mehr ohne weiteres in eigentliches Sprechen zurückübersetzt werden. Warnings überzeugende Position wurde unlängst von Mahler angegriffen. Dieser gibt zu bedenken, daß die ironische Schreibweise ihrerseits zugunsten des Satirischen funktionalisiert werde, weil Flaubert kulturelle Semantiken voraussetze und deshalb eine satirische Lektüre erforderlich sei (Mahler 1995: 28). Mahlers Vorschlag ist bedenkenswert. Vielleicht hat die Flaubertforschung zu einseitig den manischen Stilisten und Virtuosen der impassibilité herausgestellt und dabei das satirische Potential seiner Prosa unterschätzt. Denn Mahler weist an zahlreichen Beispielen aus Bouvard et Pécuchet nach, daß eine Interpretation ohne Kenntnis entsprechender kultureller Semantiken auf halbem Wege stehen bleibt.

27 Als Diskurstyp kristallisiert sich der Enzyklopädismus erst im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus, was nicht zuletzt die Begriffsgeschichte bestätigt. Denn der Begriff encyclopédisme als Bezeichnung für die systematische Anhäufung von Kenntnissen in verschiedenen Wissenszweigen ist laut Petit Robert erst im Jahre 1864 belegt.

28 In L'Archéologie du savoir werden diese wie folgt definiert: "On appellera règles de formation les conditions auxquelles sont soumis les éléments de cette répartition (objets, modalité d'énonciation, concepts, choix thématiques). Les règles de formation sont des conditions d'existence (mais aussi de coexistence, de maintien, de modification et de disparition) dans une répartition discursive donnée" (Foucault 1969: 53).

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