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Jörg Türschmann (Freiburg)



Das poetische Netz: Möglichkeiten der Beschreibung von Internetkultur anhand der Wissenschaftsphilosophie von Michel Serres



The Poetic Web: Describing Internet Culture by Means of Michel Serres' Philosophy of Science
Penelope’s web is one of the most famous figures in the philosophical writings of Michel Serres. It symbolizes both a pre-established order and randomness or disorder. In the first volume of the Hermes series Serres proposes Penelope’s web as a pattern for communication. The article re-interprets the motif of Penelope’s web as a model for the World Wide Web. Both activities, surf and navigate, can be reduced to two sorts of internet users. Serres' philosophy of science offers a new interpretation of this well-known opposition. By crossing the lines of science and poetry, Serres allows for the movement between structure and improbability. This traveling draws attention to the relationship between technical conditions of the Web and human intentions.



Die folgenden Überlegungen, die unter dem Titel "Das poetische Netz" gesammelt sind, gehen von dem keineswegs neuen Grundgedanken aus, dass das lineare Denken ausgedient habe. Diese These ist immer auch in Verbindung mit der Entwicklung von Rechnertechnologie und deren Auswirkung auf kulturelle Austauschprozesse aufgestellt worden. Als theoretischer Ausgangspunkt soll die mathematisch begründete Theorie der Netze von Michel Serres dienen. Serres hat immer den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Poesie gesucht. Aufgrund dieser Grenzüberschreitung scheint er in seinen Publikationen sehr unterschiedliche Themenbereiche aufzugreifen. Doch bilden den Gegenstand seiner vielfältigen Betrachtungen durchgängig die Aspekte der Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit, der Berechenbarkeit bzw. Unberechenbarkeit von Kommunikationsprozessen. Der Wissenschaftsphilosoph Serres gilt als der 'letzte Strukturalist'. Seine Schriften sind weit weniger bekannt und anerkannt als die seines langjährigen Gesprächspartners und Lehrers Michel Foucault oder seines Mentors Gaston Bachelard. Der Grund hierfür mag in Serres' eigentümlichem Wissenschaftsverständnis liegen. Für Serres bedingen sich sowohl Wissenschaft und Poesie, Theorie und Praxis, als auch die sciences humaines und die sciences exactes gegenseitig. Serres, der lange zur See gefahren ist, überträgt seine Erfahrung des ständigen Aufbruches auf die eigene Arbeit und bietet vielfältige Brückenschläge zwischen Literatur und bildender Kunst, zwischen mathematischer Theorie und ästhetischer Anmutung, was sich auch im metaphernreichen Stil seiner Schriften niederschlägt.

In seinem umfangreichen Werk Hermès dient ihm die antike Sagenfigur als Ausgangsbild für die Beschreibung zahlreicher Formen von Übertragung, Übermittlung oder Übersetzung. Hermès enthält die in den Medienwissenschaften wohl bekannteste Passage seiner Schriften, nämlich zum Netz der Penelope.




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Die Übertragung von Serres' Begriff des Netzes auf eine sprachlich gefasste Konzeption des Internets scheint eine dankbare Aufgabe zu sein, liegt allerdings in keiner dezidierten Form vor. Möglicherweise lässt gerade die augenscheinlich grundlegende Analogie von Netz und Internet eine solche Übertragung beliebig oder gar tautologisch erscheinen. Im Folgenden sollen einige Hinweise auf die Tragweite der möglichen Beziehungen zwischen Serres' Überlegungen und den Eigenheiten gegenwärtiger Internetkultur gegeben werden.


1 Das Netz der Penelope

Der erste der fünf Hermes-Bände mit dem Untertitel Kommunikation besteht aus einer Reihe von Aufsätzen, die bereits früher erschienen sind. Der bekannteste davon heißt "Das Kommunikationsnetz: Penelope" (Serres 1991: 9–23) und bildet einen Teil der Einleitung zum ersten Hermes-Band. Er erschien bereits 1964, also noch unter dem Einfluss des Strukturalismus. Der Mythos der Penelope erzählt Folgendes: Penelope, die treue Gattin des Odysseus, hielt die Freier, die sie während der Irrfahrt des Odysseus bedrängten, mit dem Vorwand hin, erst für Laertes, Odysseus' Vater, ein Leichengewand fertigen zu müssen. Das, was sie am Tag gearbeitet hatte, trennte sie aber nachts immer wieder auf, bis sie verraten wurde. Für Lorenz Engell ist das Gewand "nichts anderes als der Text, also die Kommunikation". Dieser Text ist nicht mehr "linear", sondern "netzförmig". Er ist "umkehrbar, was gewebt, gesagt und übermittelt wurde, kann zurückgenommen und zurückgeführt werden" (Engell 1999: 129). Ohne Weiteres scheint sich Serres' Vorstellung der Kommunikationsnetze auf das World Wide Web übertragen zu lassen. Es handelt sich um ein "netzförmiges Diagramm", in dem zu einem bestimmten Zeitpunkt eine "Mehrzahl von Punkten" durch eine "Mehrzahl von Verzweigungen" – wie Serres sagt (1991: 9) – oder auch Wegen miteinander verbunden sind. Serres bietet selbst folgende Grafik an (ebd.: 10):

Abb. 1: Kommunikationsnetze nach Michel Serres




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Kein Punkt ist privilegiert. Punkte können als Schnittpunkte zweier Wege, Wege als Verbindung zweier Punkte angesehen werden. So kann das Netz intern beliebig differenziert werden. Das Netz steht zu einem bestimmten Zeitpunkt mit seiner Beschaffenheit für eine globale Situation.

Sechs Eigenschaften hält Serres fest:

  1. Zwischen zwei Punkten gibt es eine Mehrzahl von möglichen Wegen. Daher geht es nicht um Dialektik zwischen These und Antithese, sondern um eine "Pluralisierung und Generalisierung der dialektischen Sequenz" (ebd.: 12).
  2. Es erfolgt eine "Wahrscheinlichkeitsverteilung" in Bezug auf die möglichen Wege (ebd.: 13). Außerdem gibt es verschiedene Determinationstypen als Beziehung zwischen den Punkten, von denen Kausalität nur ein Typ ist. Jeder Punkt kann mehrfach determiniert und determinierend sein. Er kann daher unterschiedlich "bewertet" werden.
  3. Die Determinationstypen, die einen Punkt bestimmen, können zueinander sogar in Widerspruch stehen, z.B. durch gleichzeitiges Vorliegen von Kausalität und Unabhängigkeit. Punkte besitzen keine "Äquipotenz" unabhängig von der jeweiligen Situation (ebd.: 14). Der Vergleich mit dem Schachspiel zeigt, dass es theoretisch gleichfähige Figuren gibt (zwei Türme z.B.), die aber in jeder Spielsituation anders zu bewerten sind. Und es gibt Figuren, die definitorisch unterschiedliche Fähigkeiten besitzen (Bauer vs. Dame), aber ihre Fähigkeiten entsprechend der Spielsituation verändern können. Im Schachspiel vermischen sich zwei instabile, differenzierte Machtnetze miteinander. Es herrscht Komplexität.
  4. Im globalen Netz gibt es lokale Teilnetze – Serres spricht auch von "Familien" (ebd.: 16) –, deren interne Beziehungen mehr ergeben als die Summe der Einzelbeziehungen ihrer Elemente untereinander (z.B. ein Pasch).
  5. Das Kommunikationsnetz beschreibt theoretische oder historisch-reale Situationen. Es unterliegt der "Transformation, einer globalen Evolution der Situation in einem Raum-Zeit-Kontinuum". Hier zeigt sich deutlich der holistische Ansatz, den Serres verfolgt. Ähnlich wie Saussure geht er davon aus, dass ein Stellungswechsel eines Punktes, einer These, eines Situationselements oder ein Wechsel des Determinationstyps jeweils das gesamte System verändert, insofern es durch die Beziehungen seiner Elemente zueinander definiert ist. Die hohe Komplexität und Mobilität macht den spielerischen Verlauf der Entwicklung unvorsehbar. Dies gilt umso mehr für die reale Geschichte. Allerdings gibt es zwei Typen von Situationen: die globalen Situationen vorbereitenden Charakters, die unterdeterminiert oder sogar indeterminiert sind, wie zu Spielbeginn, und die globalen Situationen entscheidenden Charakters, die überdeterminiert oder sogar pandeterminiert sind, also der letzte Zug, der zum Schachmatt führt. In der wechselseitigen Durchdringung der Teilnetze erfolgt die "fortschreitende Realisierung des Konzepts der Determinierung". Dieses Fortschreiten kann schnell, langsamer, verzögert oder gar nicht erfolgen. Der historische Fortschritt besteht dann in einer "Krise" (ebd.: 19), wenn die fortschreitende Determinierung erfolgt. Die Wege dorthin sind vielfältig. Serres sieht auf diese Weise die Möglichkeit, Zufall und Notwendigkeit gleichermaßen zu berücksichtigen. Es geht also immer um die "Transformation des Wahrscheinlichen ins Überdeterminierte". Serres nennt dies "das Gesetz des elementaren Zyklus eines Prozesses": "Eine allgemeine Situation wandelt sich stets in der Weise, dass sie von der Wahrscheinlichkeit zur Überdeterminierung übergeht" (ebd.: 21).



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  7. Der "Kausalitätsstrom" ist nicht mehr kausal, weil Kausalität nicht mehr irreversibel ist. Wer etwas beeinflusst, wird selbst beeinflusst. Es liegen "Formen semizyklischer Kausalität" vor (ebd.: 22). Die Auffassung bricht mit der Annahme logischer und zeitlicher Irreversibilität: Sender und Empfänger fallen in einer Instanz zusammen, Wirkung und Ursache ebenso.

Dieses netzförmige Diagramm ist laut Serres eine "abstrakte philosophische Struktur" (ebd.: 23). Für diese Struktur kann man verschiedene Modelle finden, wenn man den Gipfeln, also den Punkten und den Kommunikationsflüssen einen so genannten "Inhalt" gibt. Dieser Inhalt kann abstrakt oder empirisch sein. Abstrakte Inhalte könnten eine bestimmte Mathematik oder eine "Theorie der Schemata" sein. Empirische Inhalte können auf diese Weise als historische Phänomene verstanden werden.


2 Bezug zum Internet

Wohin gehört nun das Internet? Ist es ein abstrakter oder ein empirischer Inhalt, der das netzförmige Diagramm im Modell verkörpert? Man darf mit Fug und Recht behaupten, dass alle Merkmale, die Serres für das Kommunikationsnetz aufzeigt, in irgendeiner Weise auf das Internet übertragen werden können. Es fragt sich eben nur, inwiefern es sich um Abstraktion oder Empirie handelt, wenn das Internet für das netzförmige Diagramm Modell steht. In jedem Fall ist es ein historisches Phänomen, da die Computertechnologie eine jüngere, zeitlich verankerte Erfindung darstellt. Andererseits ist die Vernetzung in einer Weise umgesetzt, dass eben von einem "Medium aller Medien", von einem "Hypermedium", vom "Vertexten von Texten" und von "Hypertexten" die Rede sein kann, dass also das Internet nur eine Metapher für ein Netz von Möglichkeiten ist.

Meines Erachtens lassen sich drei unterschiedliche Herangehensweisen verfolgen:

  1. Es ist denkbar, das Internet als einen Schritt in der Geschichte bisheriger Kommunikationsnetze zu verstehen. So gibt es zunächst das Straßennetz, das Eisenbahnnetz oder das Netz der Schifffahrtslinien, in der die menschlichen Körper noch bewegt wurden. Dann gibt es das Telephon- und Telegraphennetz als Nachfolger der Netze aus Buschtrommeln und Leuchtfeuern. Hier wird der Körper zur Kommunikation nicht mehr fortbewegt. Dann gibt es die Synopsis, die Vergeistigung in Form von Landkarten als Netze aus Linien. Diese wurden bei Borges oder Eco als so groß gedacht, dass wir uns nicht mehr außerhalb von ihnen bewegen, sondern einen Teil davon bilden. Dieser imaginäre Eintritt des menschlichen Körpers in das einst von ihm selbst veräußerlichte System aus Wegstrecken findet seinen weiteren Ausdruck in der Vernetzung von Wissen in einer Bibliothek. Der Katalog verweist auf Wissensspeicher, die auf engstem Raum versammelt und miteinander in Beziehung gesetzt sind. Historie bzw. Empirie und Abstraktion rücken aufeinander zu.



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  3. Eine zweite Herangehensweise könnte in einer anderen Form von Historisierung bestehen. Denkbar ist es, eine Vielzahl von Fällen fortschreitender Realisierung des Konzepts der Determinierung zu beschreiben. Dies meint nichts anderes, als die zunehmende Auflösung der Gleichwahrscheinlichkeit einer Vielzahl möglicher Wege durch das Internet aufzuzeigen bei seiner Nutzung, etwa bei der Informationsrecherche oder bei der Bewegung in einem Chatforum. Damit würde die Geschichtsschreibung angesichts des Internets in viele episodische Erzählungen oder Protokolle zerfallen, die zwar im Einzelnen einen linearen Verlauf aufweisen, im Allgemeinen aber immer wieder die fortschreitende Determination durchspielen und letztlich im Abstrakten als reversibel zu gelten haben. Vorsicht ist aber bei dieser Behauptung geboten, weil die Irreversibilität nur aus systemischer Sicht gegeben ist. Wo der Surfer nur den Kontakt sucht, strebt der Navigator nach dem Kontrakt. Geht der Navigator einen Vertrag ein, gibt er seine Kreditkartennummer preis und schließt damit einen verbindlichen Kaufvertrag ab, ist eine Revision dieses Vorgangs bloß aufgrund eines spontanen Gesinnungswandels nur schwierig denkbar. Dies sind aber nur individuelle Geschichten. Wird der Bauer aus dem Feld geschlagen, geht das Spiel dennoch weiter.
  4. Ich möchte mich mit einer dritten Herangehensweise genauer beschäftigen. Diese integriert ein Stück weit die beiden vorgenannten Erklärungsmöglichkeiten. Ein Grund dafür, diesen Weg einzuschlagen, ist zunächst, dass so Michel Serres' Wissenschaftsphilosophie noch eingehender berücksichtigt werden kann. Den Ausgangspunkt bildet der widersprüchliche erkenntnistheoretische Status des von Serres vorgeschlagenen netzförmigen Diagramms. Es ist eben die Form einer Struktur sowohl für abstrakte als auch empirisch-historische Inhalte.

Man muss sich daran erinnern, dass es Serres um die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis geht. Für ihn stehen die abstrakte Analyse, die so genannte "Logoanalyse" (ebd.: 32), und die symbolische Analyse einander gegenüber. Er versucht eine Versöhnung von beidem und bringt dabei den Kulturbegriff ins Spiel, wie er im zweiten Teil der Einleitung zum ersten Hermes-Band unter dem Titel "Struktur und Übernahme: Von der Mathematik zu den Mythen" darlegt, ein Artikel, der zum ersten Mal bereits 1961 erschien (Serres 1991: 25–44).




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3 Form und Inhalt

Letztlich geht es dort um ein In-Beziehung-Setzen von Form und Inhalt. Für Serres ist die "Klassik" das Zeitalter, "wo die Kultur zugunsten der Wahrheit ignoriert wird" (ebd.: 26). Dagegen wendet sich die "Romantik" den so genannten "kulturellen Inhalten" als solchen zu. In der Klassik geht es um die "Wahrheit", in der Romantik dagegen um den "Sinn". Das ideale Modell einer Ordnung, ihr Archetyp ist für die Klassik die Mathematik. Der Archetyp der Romantik hat dagegen keine strenge Ordnung. Hier zählt ein konkretes Modell, auf das analysierte kulturelle Inhalte projiziert werden. Es geht um die Technik der symbolischen Analyse. "Der Inhalt [...] wiederholt Inhalt für Inhalt ein konkretes universelles Symbol" (ebd.: 27). Dieses Symbol oder konkrete Modell wird aus dem Bereich des Sinnes selbst ausgewählt. Auf diese Weise "steigen" die Mythen "auf die Erde herab", wie Serres sagt. Mythen dienen als konkrete Modelle. Der Mythos ist "der erste Ursprung" (ebd.: 28). Der Übergang von der Klassik zur Romantik ist der Übergang "vom Hellen ins Dunkle", "vom Wahren zum Sinnhaften", "vom Normativen zum Symbolischen", "vom Transzendenten zum Ursprünglichen", "vom Rationalen zur Gesamtheit der Bedeutungsfunktionen" (ebd.: 28–29). Klassik und Romantik vereint Serres nun zu dem, was er "Neue neue Kritik", "Neuer, neuer wissenschaftlicher Geist", "neue Klassik" oder auch "kritischer Formalismus" nennt. Die symbolische Analyse fasst zusammen, ist ein "arbeitssparendes Denken" (ebd.: 39). Damit ist aber nichts über die Ordnung, die "wahre Ordnung" des Sinns gesagt. Die symbolische Analyse übersetzt Sinngehalte in Zeichen, die kodiert und dekodiert werden können. Die formale Analyse schafft eine neue Sprache, "die aus ihren eigenen Regeln hervorgeht". Die symbolische Analyse stellt sich dagegen unter den Sinn. Die formale Analyse wiederum beherrscht den Sinn, denn sie konstruiert ihn in einer Struktur. "Diese Struktur ist dann das formale Analogon sämtlicher konkreter Modelle, die sie organisiert" (ebd.: 40). Die strukturale Analyse oder auch Logoanalyse zeigt, dass die Vernunft auch den ungeordneten, mythischen Modellen zugrunde liegt. Die symbolische Analyse besteht im "Wiedererkennen" der Ursprungsmythen. Die Logoanalyse dagegen besteht darin, von einer Form aus einen Gegenstand zu "rekonstruieren" (ebd.: 41). Die Klassik verschrieb sich der regionalisierten Vernunft, die neue Klassik dagegen gilt einer "generalisierten Vernunft" (ebd.: 42). Damit sind die Mythen "in einem letzten Akt der Überladung, in ihrer allerletzten Determination bedeutungstragende Modelle transparenter Strukturen, Modelle der Ordnung der Erkenntnis, des Verstandes und der Wissenschaft" (ebd.: 43).

Der Kulturbegriff bildet eine Klammer zweier Bewegungen, nämlich von Analyse und Konstruktion. Die Analyse ist in diesem Fall die Bewegung vom Inhalt zur Form, die Konstruktion die Bewegung von der Form zum Inhalt. Hier Serres' Erläuterung zur Analyse als Bewegung vom Inhalt zur Form:

Die Analyse eines kulturellen Inhalts, ob es sich dabei nun um Gott, einen Tisch oder eine Waschschüssel handelt, ist dann und nur dann eine strukturale Analyse, [...] wenn sie eine formale Menge von Elementen und Relationen isoliert, über die man reden kann, ohne sich auf die Bedeutung des betreffenden Inhalts zu beziehen (ebd.: 40).




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Hier seine Worte zur Konstruktion als Bewegung von der Form zum Inhalt: "[...] es ist möglich, eine kulturelle Entität zu konstruieren, indem man eine Form mit Bedeutung füllt" (ebd.: 41). In diesem Sinne kann man dafür plädieren, dass es in der Auseinandersetzung mit dem Internet immer um Internetkultur gehen muss.


4 Poesie und Wissenschaft

Mit dem Begriff des "poetischen Netzes" nun soll die Verbindung von Kunst und Wissenschaft bei Serres angedeutet werden. Für Serres steht aber fest: Ohne Kunst gibt es keine Wissenschaft, und ohne Wissenschaft gibt es keine Kunst. Daher wählt er den Harlequin oder den Hermaphrodit als Sinnbild, um diese Verbindung beschreiben zu können. Serres versteht sich selbst als Hermes, nämlich als ein Bote, der die Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst schlägt, also auch zwischen mathematischer Abstraktion und philosophischem Zweifel. Poesie ist in diesem Sinne das Rauschen der Wissenschaft. Kunst, Poesie, Fiktion und Wissenschaft bedingen sich gegenseitig.

Dies ist nur möglich, indem das Rauschen zu einem wesentlichen Teil der Kommunikation erklärt wird, als Drittes in einem Dialog. Die Philosophie ist eine Disziplin zur Untersuchung des Rauschens, denn sie beschäftigt sich mit der Kakophonie, mit der Kakografie, die jeden Kommunikationsprozess begleitet und zu vereiteln versucht. Dieses Problem stellt sich in der Mathematik nicht, wie Serres erklärt: Das Symbol ist für den Mathematiker "eine abstrakte Entität, die durch das konkrete grafische Zeichen lediglich evoziert wird. Erkannt wird diese Entität über die Homöomorphie der betreffenden grafischen Zeichen" (ebd.: 52). Seiner Meinung nach hat der Mathematiker mit der Dekodierung der Symbole eben keine Schwierigkeiten, "weil er innerhalb einer Gemeinschaft denkt, die das Rauschen bereits besiegt hat". Die Abstraktion und das gemeinschaftliche Wir sind für den Mathematiker ein und dasselbe.

Philosophen fragen dagegen, was der Fall wäre, "wenn es keine Mathematik gäbe". Damit ist man bei der Frage angelangt, wie Kommunikation, Kakografie und Kultur zusammenhängen. "Der Akt der Beseitigung der Kakografie, also der Versuch, das Rauschen zu eliminieren, ist [...] die Voraussetzung für das Gelingen der Kommunikation" (ebd.: 52). Kultur ist bei Serres immer mit dem Konkreten, mit dem Inhaltlichen verhaftet, das ins Mathematisch-Abstrakte bzw. in eine Struktur überführt wird auf dem Weg der Beseitigung der Kakografie, welcher selbst die Voraussetzung für Kommunikation ist.

Kunst ist Rauschen, Kultur dagegen in ihrer Zielfunktion nicht. Dennoch gibt es auch in der Kultur das Rauschen. Dies hat damit zu tun, wie Ideen im Verlauf der Geschichte überliefert und verbreitet werden. Sie unterliegen unabdingbar einem Verlust, nämlich der Entropie, nach der sich die Elemente in einem Raum gleichmäßig zu verteilen suchen. Sie verlieren ihre einstige Schärfe, bis sie nicht mehr zu erkennen sind. Serres stellt hier zwei Akteure paradigmatisch einander gegenüber. Bei beiden geht es um das Verhalten gegenüber der Gegenwart, in der die Karten ständig neu gemischt werden. Da ist der Spieler, der Denker über Strategien für die Zukunft. Er sieht sich ständig dem Zufall ausgesetzt. Er unterliegt notwendig dem Gesetz der Entropie, des Rauschens, des Vergessens seiner Ideen.




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Er muss nach den mathematischen Gesetzen der Vorhersagbarkeit früher oder später eine tragische Weltsicht annehmen. Allerdings ist er auch ein Erzeuger, der "neue Elemente in die historische Kette wirft" (ebd.: 37). Ihm gegenüber steht der Historiker mit einer "mutigen Sicht". Er verschafft der Kultur Bestand durch die Suche nach Wahrheit, durch Rekonstruktion einer Geschichte ohne Rauschen. Er beschäftigt sich mit dem Zufall in der Gegenwart als Ergebnis der Vergangenheit und sucht eine Ordnung dafür. Der Spieler dagegen sucht die Ordnung in der Zukunft. Er spielt aber ebenfalls ein wichtige Rolle, weil er durch die Auflösung seiner Ideen im Rauschen dazu beiträgt, dass ein System nicht implodiert, wenn es zu erstarren droht. Damit gilt für Serres: "Die Geschichte ist die Negentropie in der Entropie der Kultur" (ebd.: 37). Serres geht es um Ähnliches auf höherer Ebene, er beabsichtigt "eine oft ahistorische Übertragung von Konzepten aus einem Problemfeld in ein anderes" (ebd.: 37). Am Ende steht immer das Netz der Penelope. Die Gegenwart ist durch dieses Netz abgebildet: eine komplexe, ständig sich verändernde Situation, die den Zufall als solchen in sich aufnimmt.


5 Surfen und Navigieren

Denkbar ist es, unter dem Spieler und Grübler über die Ordnung in der Zukunft den Surfer zu verstehen, der sich von seinen Entdeckungen überraschen lässt. Der Historiker dagegen, der Erinnerung und Beständigkeit in der Kultur schafft, ist der Navigator. Er unterwirft seine Entdeckungen seinen Erwartungen, von denen er sich nicht abbringen lässt. Beide Seiten können als Paradigmen im Umgang mit der Internetkultur gelten und sind als Metaphern bereits präsent.

Jo Reichertz hat vor einigen Jahren in einem aufschlussreichen Aufsatz mit dem Titel "Metaphern als Mittel der Sinnzuschreibung in der 'Computerwelt'" einige Überlegungen angestellt, auf die ich mich im Folgenden beziehen möchte. "Surfin' USA" birgt für Reichertz Assoziationen zu sportlicher, abenteuerlicher Jugendkultur. Reichertz fasst den Sinn der Metapher so zusammen: "Abenteuersport, Jugend, Clique, schöne Mädchen, Freizeit, Wohlstand, Musik, Schönheit, Sonne, Strand, Fun und ein bisschen (sauberer) Sex" (Reichertz 1998: 180).

Die andere Metapher ist die des Navigierens (ebd.: 180–181): Einer der bekanntesten Internet-Browser heißt "Navigator". Das Navigieren setzt die Anwendung von Wissen als Orientierungshilfe voraus. Es dient der Standortbestimmung. Der Navigator braucht zuverlässige Instrumente und gültige Regeln. Er wendet Mathematik, Geometrie und Arithmetik an. Für Reichertz ist das Navigieren eine "Institution der Erwachsenen", und zwar der "männlichen". Es ist "Berufstätigkeit", nicht Sport. Es dient nicht der Erzeugung und Überprüfung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern nur der Anwendung nach den Gesetzen wissenschaftlicher Rationalität unter Ausschluss jeglicher Intuition. Der Navigator oder auch Explorateur ist kein Genie, das sich einem kurzweiligen Vergnügen hingibt.

Für Reichertz schließen sich das Surfen und Navigieren gegenseitig aus. Er sieht die Zukunft des Internets im Kampf um die passende "Leitmetapher" dokumentiert. Für ihn ist der Ausgang dieser Auseinandersetzung keine Frage der "'Empirieverbundenheit'", sondern "Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses" (ebd.: 182–183), und dieser wird seiner Meinung nach zuungunsten der Freunde des Surfens ausgehen. Das Internet und wir mit ihm werden also 'erwachsen'.




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6 Lebensphilosophische Tradition: Augenblicks- und Langzeitperspektive

Mit Surfen und Navigieren ist ein Gegensatz formuliert, der sich schon zu Zeiten vor dem Internet im Bereich der Lebensphilosophie finden lässt. In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts entwickelt Georg Simmel entsprechende Gedanken bei seinem Versuch, das Wesen des Abenteuers zu beschreiben. Simmel schreibt:

Das Abenteuer ist die Exklave des Lebenszusammenhangs, das Abgerissene [...] – während es dennoch, wie über diese Strömung hinweg und ihrer Vermittlung unbedürftig, mit den geheimsten Instinkten und mit einer letzten Absicht des Lebens überhaupt zusammenhängt und sich dadurch von der bloß zufälligen Episode, dem, was uns bloß äußerlich passiert, unterscheidet (Simmel 1998: 33).

Der Abenteurer ist ein "Spieler", der mit ähnlichem theoretischen Stellenwert auch bei Serres vorkommt. Der Spieler verwandelt den Zufall in ein paradoxes Versicherungssystem, weil er eine Wendung von der "Sinnlosigkeit des Zufalls" zu einer "geheimnisvollen Notwendigkeit" vollzieht (Simmel 1998: 28 u. 37). Mit dem Abenteuer haben die "Jugend", der "romantische Geist", die "Subjektivität" und die "Punktualität" im "Hier und Jetzt" zu tun. Auf der anderen Seite gehören der "historische Geist", das "Alter", die "Objektivität" und die "retrospektive Nachdenklichkeit" zusammen. Laut Simmel braucht es beispielsweise im Augenblick einer amourösen Eroberung einer Frau aber "Schicksalsgunst", die "Gnade der unberechenbaren Mächte". Daraus ergibt sich: "In dem stolzesten, selbstgewissesten Ereignis dieses Gebiets liegt etwas, was wir in Demut hinzunehmen haben" (ebd.: 33).

Jürgen Habermas kritisiert Simmels "Männerfantasien" als "kühne Ontologisierung zeitgenössischer Phänomene": "Wieder einmal steht die Frau dem Pol des Daseinsgrundes und der Subjektivität, der Geschichtslosigkeit und der Passivität, der Geschlossenheit und der Totalität näher als der Mann" (Habermas 1998: 16). Die Frau als Struktur sozusagen, der Mann als Erzeuger, der Neues schafft. Übertragen auf die Internetkultur hieße dies: Eine geschlechtsspezifische Polarisierung erfolgt selbst heute noch bei der Beschreibung des Umgangs mit dem Internet. Diese Interpretation beinhaltet eine passive Rolle der Frau, die im Widerspruch stünde zur Wertschätzung, die dem Webstuhl der Penelope von feministischer Seite entgegengebracht wird als sinnbildliches Instrument zur Verwirklichung einer aktiven Frauenrolle in der patriarchalischen Gesellschaft des antiken Griechenlands (Sienkewicz 1996).


7 Maritime Metaphern

Von besonderem Interesse in der Rede über den Umgang mit dem Internet sind die maritimen Metaphern. Das Meer steht laut Reichertz für drei unterschiedliche Sichtweisen (1998: 177–178): Erstens erscheint es als eine Bedrohung aufgrund seiner Bodenlosigkeit. Zweitens ist das Meer eine "Freiheitsverheißung". Das Unbekannte jenseits des Horizonts verspricht ein besseres Leben. Schließlich steht das Meer drittens für die Ewigkeit. Wer sich auf hohe See begibt, begibt sich in göttliche Hände. Das Lebensschiff, das Staatsschiff und das Kirchenschiff sind sprechende Bilder in dieser Richtung. Michel Serres ist der Sohn eines Fischers und ist selbst zwei Jahre lang zur See gefahren. Eines seiner Bücher trägt den Titel Die Nord-West-Passage (Serres 1994). Peter Bexte schreibt zu Serres (Bexte 1995):




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Schiffe gelten ihm als Resümee der Welt, wie er zu Turner anmerkt. Das System der Wissenschaften hat er als 'zusammenhängenden Körper ähnlich einem Ozean' beschrieben, und die Philosophie nennt er ein Netz im Meer, durchrauscht vom Element. All seine strukturalen Analysen haben diesen ozeanischen Überschuß. Mir ist kein anderer Philosoph bekannt, dem das Rauschen des Meeres so sehr in den Sinnen liegen würde. In den Sinnen und im Stil. Serres' Texte rauschen.

Dies bestätigt Serres mit eigenen Worten (Serres 1997):

Une fois que l'information circule, il ne peut plus y avoir de rareté nulle part. Le réseau est un lieu où l'on ne cache plus rien. Mon grand espoir est que sur le réseau, le vrai pirate soit le pirate de la vérité, c'est-à-dire qu'il y lance tout. La disparition du secret complet était un phénomène absolument imprévu il y a dix ou vingt ans. Aujourd'hui encore, les grandes firmes achètent des savants, des secrets de fabrication, et c'est une des difficultés de la recherche scientifique. Demain arriveront dans les laboratoires, des pirates qui mettront tous les secrets dans le réseau. Le savoir ne sera plus dans des lieux, des espaces de rareté que la société protège. Il va être un océan, un volume dans lequel la société se plonge, se perd. La rareté pourra venir de l'énormité de l'information, mais on trouvera des parades en travaillant sur des navigateurs de plus en plus puissants.

Grundsätzlich ist Serres angesichts des digitalen Datenaustausches optimistisch. Das "Netzwerk", wie er seinerzeit das Internet nennt, das Netzwerk ist ein Speichermedium. Es folgt in dieser Funktion der Schrift und dem Buchdruck. Und es wird deshalb eine befreiende, entlastende Funktion haben, wie sie bereits der aufrechte Gang mit sich brachte, als die Hände nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden und für andere Aufgaben zur Verfügung standen. Außerdem wird sich die Dritte Welt nicht mehr von den Wissensbeständen der Ersten Welt ausschließen lassen. Das Copyright schützt nicht mehr vor einem ungehinderten Zugriff auf die Daten anderer Kulturkreise. Datenpiraterie ist für Serres eine positive Erscheinung. Sie ist die notwendige Entropie in der Negentropie. Die Figur des Hermes als Schutzpatron der Diebe ist das passende Sinnbild dafür. Daher plündert Serres Kunst und Wissenschaften gleichermaßen.


8 Mensch-Maschine-Beziehung

Irene Neverla (1998), die versucht, angesichts des Internets den Begriff des Mediums für die Publizistik zu erfassen und für den postmodernen Ansatz der Mensch-Maschine-Gleichsetzung in Form der Cyborgs mit fragmentierter, disseminierter Identität plädiert, vertritt eine zu Serres' Vorstellung einer grundsätzlich engen Beziehung zwischen Wissenschaft und Mythen ähnliche Auffassung:

Die unserem Denken über das neue Medium eigentümliche Mischung von rationalen und mythischen Komponenten ist zwar nicht auf das Netz-Medium beschränkt. [...] Aber naheliegend ist doch die Vermutung, dass die Fixierung auf das Netz-Medium eine Antwort der Gesellschaft auf den gegenwärtigen Modernisierungsschub darstellt (Neverla 1998: 32-33).




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Dem geht eine kurze Übersicht über die Entwicklung des Verständnisses von Internetkultur voraus (Neverla 1998: 29–33). Neverlas Absicht ist es, sich dem Begriff des Mediums, also im Singular, zu nähern. Die erste "Bewegung" besteht aus den "Explorern" und den "Navigatoren", die in unbekanntes Neuland aufbrechen. Der "naive" und der "technokratische" Medienbegriff sind hier wichtig. "Am Horizont" steht als Versprechen eine "neue Gesellschaft". Pierre Lévy entwickelt Neverla zufolge den Ausblick auf eine Gesellschaft vernunftbestimmter Individuen, die herrschaftsfrei miteinander leben. Die "materielle Basis" für dieses Verständnis bildet das Netz als "Rhizom" in der Definition von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Hier handelt es sich ihrer Meinung nach um einen mythologischen Medienbegriff. Er ist der Aufklärung verpflichtet. Schließlich ist es die Postmoderne, die mit ihrem dekonstruktivistischen Denken die Sicht freigibt auf eine Verschmelzung von Mensch und Maschine. Cyborgs sind fragmentarisierte Identitäten. Natur und Kultur verschmelzen miteinander. Ein "eigenes Symbolsystem" entsteht, worauf auch Ralf Schnell mit Neverlas Worten hinweist (Schnell 2000: 265). Neverla hält diesen Ansatz für die vielversprechendste Utopie. Sie sieht nur zwei Probleme: Die Differenz geht verloren für das Denken, und außerdem gibt es keinen Blick mehr auf die Geschichte. Sie sorgt sich daher um die Erkenntnismöglichkeiten durch diesen Ansatz. Sie fragt als Vertreterin der empirisch ausgerichteten Publizistik, wie dann die heuristisch notwendigen Größen der Differenz und der Geschichte noch ins Spiel kommen.

Eine Antwort könnte mit Serres lauten: indem man paradoxerweise trotz anderweitiger Behauptungen ein Mensch-Maschine-Dialektiker par excellence bleibt wie Serres, der das allerdings in dieser ausdrücklichen Form sicher abstreiten würde. Serres akzeptiert zwar Maschinen als "Struktur-Technologie" (1991: 38), als materielle Rekonstruktionen, als Nachbauten dunkler kultureller Inhalte, würde sie aber als vollständige, weil rauschfreie Strukturrepräsentation begreifen. Doch sind diese kulturellen Inhalte auf der anderen Seite für Serres notwendige Abenteuer. Man kann ergänzen: Sie sind menschlich, denn der Mensch entwickelt Assoziationen. Es ist zwar fraglich, ob die Assoziativität des menschlichen Denkens auf physiologische Vorgänge unmittelbar in der Art zurückgeführt werden darf, wie es Ralf Schnell vorschlägt, der sich auf Alexander Kluge bezieht:

"Das Nervensystem des Menschen ist nicht direkt verkabelt. Zwischen den Nervenenden (den Synapsen) befindet sich jeweils ein Zwischenraum, ähnlich einer schlechten Wegstrecke, einer immer wieder unterbrochenen Straße. Auf dieser besonderen, umständlichen Organisationsweise der nur ungefähren Verknüpfungen beruhen menschliche Eigenschaften wie Freiheit, Gefühle" [Kluge]. Solchen 'ungefähren Verknüpfungen' entspringen die Spielräume, mit denen Sprache arbeitet. Das Internet aber ist – wie sein Basiselement, der Computer, auch – die Direktleitung par excellence (Schnell 2000: 267).




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Dieser Hinweis ist anregend, insofern Funk- und Kabelverbindungen in der Rechnertechnologie auch als ein kulturelles Phänomen zu bewerten sind, indem der Mensch seine Spontaneität mit Hilfe des Netzes veräußert und zugleich durch eine nachhaltige Erinnerung zu bewahren versucht. Der Mensch ist zwar sozusagen das Rauschen, die Empirie des rein materiellen, allein funktionstüchtigen Netzes. Doch muss er selbst auch als Historiker vernünftige, rational begründete, identitätsstiftende Differenzen herausarbeiten, die der allein kommunikationstechnisch gestützten Entropie in der Überlieferung menschlicher Ideen entgegenwirken. Deshalb repräsentiert das Netz der Penelope letztlich etwas anderes als die Technologie des globalen Computernetzwerkes.


Bibliographie

Bexte, Peter (1995): "Leinen los", in: Michel Serres: Über Malerei: Vermeer – La Tour – Turner. Aus dem Französischen übers. von Michael Bischoff. Dresden: Verlag der Kunst, 113–126. [http://www.home.snafu.de/pedasy/leinen_los.html, 23.3.04]

Engell, Lorenz (1999): "Einführung in das Kapitel 'Wege, Kanäle, Übertragungen'", in: Lorenz Engell / Oliver Fahle / Britta Neitzel u.a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur: Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Wien: DVA, 127–133.

Habermas, Jürgen (1998): "Simmel als Zeitdiagnostiker", in: Georg Simmel: Philosophische Kultur: Gesammelte Aufsätze über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Berlin: Wagenbach, 7–17.

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