PhiN-Beiheft 2/2004: 66



Harald Saller (München)



Zugriff auf Wissen, Zugang zum Sinn. Anmerkungen zu Texten, Kommentaren und semantischen Netzen



Access to Sense and Knowledge. Notes on Texts, Commentaries, and Semantic Nets
Compared to other procedures that are part of or closely connected to procedures of editing texts, commentaries seem to be neglected to a certain extent by theory and systematic approaches. Moreover, new implications may arise with the establishing of the digital media, which is likely to make the situation even more complicated. Texts become more fluid, move easily between different environments that have the potential to modify their properties, and therefore, their meaning. This potential can be ascribed to commentaries as well. A few examples show how philological scholarship can profit from the possibilites of dissolving and rearranging texts, meaning, and knowledge. This article deals with the conceptual and cognitive implications of text and knowledge in the electronic media.



Vorbemerkung

Das Erscheinen eines Artikels, der aus der Perspektive der Germanistik und Philosophie spricht, in einem Sammelband zu einer romanistischen Tagung ist wohl symptomatisch für die zunehmende interdisziplinäre Vernetzung, die elektronische Medien sowohl ermöglichen als auch opportun machen. Die Leitfrage bei den folgenden Anmerkungen zu elektronischen Wegen der Erschließung von Texten ist, inwieweit die elektronische Disposition und Vorverarbeitung textueller Daten den kognitiven Vorgängen von Textrezeption entspricht. Dabei steht die Wechselbeziehung zwischen Text und Kommentar im Mittelpunkt, als greifbare Überlagerung von Text, Textsinn und korreliertem Wissen. Nachdem die materielle Einheit von Textträger und Text auf konzeptueller Ebene und auch auf der Ebene der Wahrnehmung aufgelöst ist, treten funktionale 'Leerstellen' auf, da die traditionellen Instanzen der Fixierung, Begrenzung und Verbreitung von Texten aufgehoben sind. Es ist zu erwarten, dass neue, noch kaum bekannte Instanzen an diese Stellen treten.


1 Zum Kommentarbegriff

1.1 Grundbedingungen

Bevor man die Möglichkeiten und Aufgaben des Kommentars im Zeitalter der elektronischen Medien diskutiert, wären zunächst die vorhandenen Begrifflichkeiten zu klären. Ein wichtiger, im wesentlichen technischer Aspekt ist die Verknüpfung mit dem Text. Ein Kommentar bezieht sich für gewöhnlich auf einen durch editorische Vorarbeit erschlossenen und stabilisierten Text. Um die Verknüpfungen zum Text konsistent zu halten, muss ein Kommentar unter meist mehreren Editionen eine bestimmte als Referenztext auswählen; das erübrigt sich natürlich bei kommentierten historisch-kritischen Ausgaben. Schwierigkeiten ergeben sich für die Eindeutigkeit der Bezugnahme, wenn ein neuer Kommentar sich auf Vorgänger stützt, die andere Versionen zugrundelegt hatten.




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Konkordanzen können das Problem insofern nicht vollständig lösen, als die Textzustände verschiedener Ausgaben selten übereinstimmen. Wenn sich Kommentare auf elektronische Texte beziehen, wird die Sache noch komplizierter, insbesondere wenn diese nicht nur einen einzigen konstituierten Text bieten. Die Flüchtigkeit des Mediums kommt erschwerend hinzu. Um Text, Kommentar und deren Verknüpfung aufrecht zu erhalten, wird die langfristige Pflege von Datenbeständen durch Institutionen noch mehr zur Bedingung wissenschaftlicher Kommunikation, als sie es, v.a. mit der Aufrechterhaltung des Bibliotheksbetriebs, ohnehin schon war.

Wissenschaftlicher Status, Aufgaben und v.a. Methode und Gestaltung von Kommentaren sind nach wie vor um einiges vielfältiger, umstrittener und weniger systematisch greifbar als die anderen Abteilungen der Editionswissenschaft. Mehr noch, es ist herrscht keine Übereinkunft darüber, ob ein Kommentar überhaupt integraler Bestandteil einer Edition ist.


1.2 Begriffsbestimmungen

Vorläufig lässt sich der Begriff Kommentar wie folgt umreißen: Ein Kommentar ist eine Verknüpfung eines Textes mit für das Textverständnis relevanten Wissensbereichen, in der Textdimension organisiert nach der Textstruktur und in der Wissensdimension organisiert nach sach- und fachspezifisch abgegrenzten Bereichen. Diese Bereiche können Themen, Problemstellungen, sprachliche Merkmale etc. sein. Auch Erläuterungen zu textkritischen Entscheidungen können dem Kommentar zugerechnet werden, als diskursive Ergänzung zum textkritischen Apparat.

Die Beantwortung der Frage nach der Aufgabe eines Kommentars scheint vergleichsweise unproblematisch bei theoretischen Texten bzw. Sachtexten, insbesondere bei philosophischen Texten: Hier ist zu fragen nach dem Muster Frage-Antwort oder Problem-Lösung,1 während bei poetischen bzw. fiktiven Texten das Kommentierungsbedürftige und -würdige tendenziell schwerer zu bestimmen ist;2 die Vielfalt und der rasche Wechsel literaturwissenschaftlicher Interessenlagen, Theorien und Moden stellen eine Herausforderung dar. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, gegen das strenge problema-lysis-Schema mehrere Lösungsmöglichkeiten für eine bestimmte Frage anzubieten, was dem heute vorherrschenden Interesse an 'offenen' Texten entgegenkommt (Fowler 1999: 433). Nicht von der Hand zu weisen ist außerdem die historische Beobachtung, dass bei aller zu unterstellenden Absicht der jeweiligen Kommentatoren, einen Text durch Lösung seiner Probleme hermeneutisch abzuschließen, dennoch oder gerade deshalb spätere Kommentatoren ihre Vorgänger kritisch kommentierten und eigene, konkurrierende Lösungen anfügten. Dies führt dazu, dass Kommentare sich zu ständig anwachsenden kumulativen Wissenspeichern entwickeln.3 Genau darin bestand das Gestaltungsprinzip einer mittelalterlichen Kommentargattung, nämlich des Katenenkommentars.4 Nebenbei wird natürlicherweise ihre innere Verweisstruktur ständig komplexer; zu den pragmatisch-medientechnischen Implikationen weiter unten mehr.




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Erkenntnis verspricht außerdem der wissen(schaft)ssoziologische Ansatz: die Frage nach den Autoren, deren Texte kommentiert werden, der Zielgruppe, für die kommentiert wird, den Verfassern von Kommentaren, den in Produktion und Rezeption von Kommentaren beteiligten Schulen, und den Auswirkungen hinsichtlich der Autorität des Textautors und auch des Kommentators sowie der Kompetenz des Lesers (Most 1999: VIII–XI).

Eine praktikable Klassifizierung der in den heutigen Geisteswissenschaften gängigen Kommentarformen wurde von H. G. Senger aufgestellt: 1) Sacherläuterungen in Anmerkungsteilen, v.a. in Studien- und Leseausgaben; 2) bei historisch-kritischen Editionen: der Kommentar ist aufgelöst in werk- und editionsgenetischen Bericht, Text-, Quellen-, und Rezeptionsapparate, Adnotationen und kommentierende Register; 3) separater Vollkommentar mit Zeilen-, Satz- oder Abschnittskommentierung, mit Blick auf den Gesamtzusammenhang; 4) historisch-kritischer Metakommentar, der Vorgängerkommentierungen mit einbezieht (Senger 1993: 68f.).


1.3 Kommentierung als qualitatives Zeugnis von Textverständnis

Es ist sicherlich plausibel, das Umkodieren als grundlegenden Akt des Sprach-, also auch Textverstehens mit der Tätigkeit des Kommentierens in Zusammenhang zu stellen. Sobald man von einer kreativen Rezeption sprechen kann, verlagert sich der Schwerpunkt sogar vom Text zu seiner weiteren (z.B. kommentatorischen) Verarbeitung.5 Historisch belegt findet man dies im sowohl von Mündlichkeit als auch von Schriftlichkeit geprägten Mittelalter. Die für das Mittelalter prägende Grundsituation des Gelehrten, die für die eigene Gegenwart gültigen Wahrheiten und Weisheiten den Schriften von Autoritäten entnehmen zu müssen, wirkt aus heutiger Sicht sehr beschränkend und vielleicht gar intellektuell nicht allzu anspruchsvoll. Auf der anderen Seite aber enthält schon das in der Überlieferung aufscheinende Sprachverständnis des Mittelalters und damit auch das Konzept der Identität von Information (wann sind zwei unterschiedliche Äußerungen in Sinn und Bedeutung äquivalent?) gegenüber dem neuzeitlich-modernen Prinzip der Wortwörtlichkeit wiederum mehr Freiheiten. Ohne die Verpflichtung und Mittel zur Wortwörtlichkeit ist man zum Umkodieren gezwungen und damit auch zum Verstehen des Textes wenigstens auf basaler Ebene.6 Wenn ein mittelalterlicher Gelehrter einen Text glossiert, mit Anmerkungen versieht oder systematisch bearbeitet, schreibt er dem so entstehenden Textensemble den Vorgang des Verstehens ein. Besonders deutlich wird dies, wenn der Text in Gehalt und Darstellung reichlich Widerstände bietet. Anstatt etwa einen völlig neuen Text zu schreiben, der alle enthaltenen Gedanken für ein zeitgenössisches Publikum formuliert wiedergibt, versuchte man, den Text in seiner gegebenen Gestalt zu erklären. Ein solcher Kommentar hat prinzipiell zwei Ausrichtungen: das Umkodieren zur Verständnissicherung einerseits und den Rückbezug auf die sprachliche Vermittlung im Text andererseits, also die Frage, wo und wie genau im Text der jeweilige Gedanke spezifiziert ist.7 Letzteres stellt wiederum eine Gemeinsamkeit dar mit Kommentaren zu solchen Texten, in denen Ästhetik eine bestimmende Rolle spielt. Nun unterliegt das Verständnis, das durch eine Kommentierung vermittelt und stabilisiert wird, bei Kommentator und Benutzer zeitgegebenen Bedingungen.




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Es gilt daher sicherlich für alle Epochen, dass ein solches Unterfangen stets innerhalb gegebener Grenzen stattfindet und prinzipiell unabgeschlossen ist, und dass Kommentare, indem sie reproduzieren, immer auch produktiv sind. Daher sind bei Kommentaren sowohl diachrone als auch synchrone Pluralitäten zu beobachten (Senger 1993: 72f.).

Anzumerken wäre nun im Hinblick auf Konzepte wie das eines semantischen Netzes, dass die Tätigkeit des Umkodierens in einer bestimmten (natürlichen) Einzelsprache zwar geeignet ist, Textverständnis nach außen hin zu dokumentieren, womöglich aber nicht nowendig in direkter Weise mit dem mentalen Prozess des Textverstehens korreliert. Geht man mit Quillian (1968: 232f.) davon aus, dass das menschliche Gedächtnis sprachliche Informationen in gleicher Weise speichert wie Inhalte anderen Typs, darunter auch Sinneswahrnehmungen, ist auch leicht zu erklären, warum die kommentierende Anreicherung textueller Information mit visuellen Zusätzen (sei es mit druck- bzw. schreibtechnischen Mitteln oder mittels Hinzugabe von Bildern, Graphiken u.dgl.) so gut funktioniert. Daraus wäre weiterhin zu folgern, dass die grafische Darbietung eines Textes Einfluss darauf hat, wie der Text verstanden wird.


1.4 Binnendifferenzierung

Binnendifferenzierungen der Textgattung Kommentar können nach verschiedenen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Wolfgang Raible schlägt vier Grundformen vor, die hergeleitet sind aus dem Typ von Bearbeitung, den ein Kommentar darstellt, und wesentlich quantitativ bestimmt sind: Reduktion, Amplifikation, Kompilation (ein Text, der aus mehreren Texten gewonnen ist) und parallele Texte (Raible 1995: 60–65).

Weiterhin lässt sich bei historischen kommentierenden Texten nach dem Anspruchsniveau differenzieren, das sich beispielsweise in technischen Merkmalen wie der Exaktheit des Zitierens zeigt, und als weitere Kommentarform der poetische Kommentar einführen, wie Christoph Huber (1999: 323–352) für die mittelalterliche Literatur vorschlägt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung Hubers, dass die Autoren solcher poetischer Kommentare zuvor haupsächlich wissenschaftliche Texte verfasst hatten (ebd.), was wohl ein Indiz für das produktive Potenzial des Modells 'Text und Kommentar' ist.


2. Kommentare und elektronische Medien

2.1 Grundfragen

Wie entwickelt sich nun die Tätigkeit des Kommentierens unter Verwendung elektronischer Medien weiter? Erwiesenermaßen haben elektronische Hypertexte das Potenzial, Grenzen zwischen Texten aufzulösen – und damit auch die Grenzen zwischen Texten und ihren Kommentaren. Ebenso steht es mit den Grenzen zwischen Schreiben und Lesen.8




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Auch die Grenzen zwischen Texten und nichttextuellen Informationen/Daten sind in Bewegung geraten. Textuelle und grafische Daten bilden bereits dann eine Einheit, wenn ein Text in einem bestimmten strukturgebenden Rahmen erscheint; im elektronischen Medium sind Text und Layout voneinander ablösbar bzw. sie können einander beliebig zugewiesen werden. Die visuelle Strukturierung ist insofern ein wichtiger Aspekt, als sie bei den kognitiven Akten der Textrezeption mitwirkt, wenn aus dem physischen Raum ein konzeptueller Raum erzeugt wird,9 und, wie oben bereits gesagt, das Textverständnis beeinflusst.

Eine weitere Tendenz ist die Dezentralisierung. Die Gewichtung von Ausgangstext, d.h. dem Text, von dem die Lektüre ihren Anfang nimmt, und den Texten, die mit diesem verlinkt sind, etwa Anmerkungen zum Ausgangstext, verschiebt sich zugunsten letzterer (Landow 1992: 69f.).

Im folgenden soll anhand einer Auswahl von Projekten die Vielfalt der Konzepte und der Realisierungswege aufgezeigt werden. Das Projekt einer neuen Notker-Edition wird dabei besonders viel Raum beanspruchen, nicht zuletzt weil es das Projekt des Verfassers ist, der hiermit um Verständnis bittet. Die Arbeitsfrage bei der Betrachtung der konkreten Projekte und Lösungen ist: Wie werden ein Text und das Wissen zur Erhellung seiner Struktur und Semantik für die maschinelle Verarbeitung einerseits und für den Benutzer andererseits repräsentiert?


2.2 Beispiel Parzival: Hypertexte für Überlieferung und Interpretation

Auf dem Gebiet der germanistischen Mediävistik gehen derzeit zwei elektronische Projekte einen der prominentesten mittelhochdeutschen Klassiker von einander diametral gegenüberstehenden Seiten an: der Überlieferung und der Sekundärliteratur.

Das Editionsprojekt "Wolfram von Eschenbach, 'Parzival'. Eine überlieferungskritische Ausgabe in elektronischer Form"10 unter der Leitung von Michael Stolz setzt an der Methodik der Klassifizierung von Überlieferungsträgern an. Zur Anwendung kommt ein neues Paradigma bei der Analyse von Merkmalsähnlichkeiten – und möglichen Abhängigkeiten – zwischen Textzeugen. Die aus der Evolutionsbiologie entlehnten Verfahren zur Analyse phylogenetischer Interrelationen wären ohne Computer nicht denkbar, die Präsentationsform der im Internet zugänglichen Demo-Edition11 mit ihrer Vernetzung von Text, Varianten und Handschriftenfaksimiles kaum machbar. Die Probeedition ist wie folgt organisiert: Ausgangspunkt für die Navigation ist der Basistext, eine normalisierte und teils korrigierte Wiedergabe der Leithandschrift, des Codex Sangallensis 857. Dem dargebotenen Text sind Informationen zur jeweiligen Überlieferung seiner Bestandteile überlagert, womit eine textkritische Kommentierung vorliegt: Wörter, zu denen es Varianten gibt, sind verlinkt, was in der Standardeinstellung des Browsers eine entsprechende Hervorhebung bewirkt.




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Dazu gibt es noch eine Auszeichnung zweier besonderer Typen von Varianten: Wörter, deren Varianten markant, also sinnverändernd sind, erscheinen kursiv. Die sogenannten Präsumtivvarianten, d.h. alternative, sinngemäß äquivalente Ausdrücke, werden unterstrichen. Es liegt auf der Hand, dass die zugrundeliegenden Kategorisierungen von einem menschlichen Editor-Subjekt getroffen werden müssen, da sie einem Computerprogramm unmöglich wären. Im Kern stellen diese per Textauszeichnung vermittelten Anmerkungen editorische Kommentare dar.

Das von David Yeandle geleitete Projekt "Stellenbibliographie zum Parzival Wolframs von Eschenbach"12 (erste CD-ROM 2002 erschienen) nähert sich sozusagen von der entgegengesetzten Seite: der überbordenden Menge an Sekundärliteratur. Obwohl es den umfangreichen und sehr differenziert gestaffelten Kommentar von Nellmann (1994) gibt, wurde eine umfassende Bibliographie als Desiderat erachtet. Sie könnte freilich die Basis für neue Kommentarvorhaben darstellen. Was diese bibliographische Datenbank auszeichnet, ist die Organisation ihrer Bezugsstellen: die Zuordnung der Literaturangaben erfolgt versweise. Ausgangspunkt der Navigation ist also der edierte Text.13 Darüberhinaus gibt es noch weitere Ordnungssysteme: zwei thematische Register, ein Autorenregister, einen Wortindex zu den Titeln und drei weitere Register, die die Literatur nach Typen, Sprachen und Jahrgängen ordnen. Eine Gemeinsamkeit zur Konzeption von Kommentaren besteht in den Themenbereichen, nach denen die Literaturangaben gegliedert sind. Diese Ordnungsdimension ist im Gegensatz zur sich mechanisch von selbst ergebenden Auswahl der Referenzstellen ein kritischer Faktor, denn hier werden gleichsam diejenigen Koordinaten vergeben, auf die die systematische Benutzung aufbaut. Freilich scheint die begriffliche Aufschlüsselung von Sekundärliteratur14 vergleichsweise schwerer in den Griff zu bekommen sein als das Einhalten einer sich selbst vorgegebenen thematischen Ordnung beim Verfassen eines Kommentars. Von den elektronischen Vernetzungsmöglichkeiten wird insofern Gebrauch gemacht, als man vom edierten Text aus direkt mit dem Trierer Verbund mittelhochdeutscher Wörterbücher15 verbunden werden kann. Doch letztendlich wäre gerade ein solches Unterfangen – eine stetig zu erweiternde und womöglich in ihrer Systematik und Navigation zu überarbeitende Bibliographie – ein Musterbeispiel für verteiltes Arbeiten in einem Netzwerk von Forschern und somit auf einem Webserver wesentlich besser untergebracht als exklusiv auf einer CD-ROM, die, wenn kein erheblicher Preisrutsch erfolgt, nur als Raubkopie erschwinglich ist.16


2.3 Beispiel Notker: Neuedition und Vollkommentar im Hypertext

Die im folgenden beschriebene Probeedition der Praefatiuncula (Vorrede) und des ersten Kapitels der De interpretatione-Bearbeitung Notkers des Deutschen dient als Modell für eine zukünftige kommentierte Hypertext-Edition des gesamten Textes.17




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Eine erste Kommentierung im weiteren Sinne stellt bereits die visuelle Textauszeichnung dar, deren Differenziertheit stufenweise steuerbar ist. Sichtbar gemacht wird damit die Struktur des Textes (oder auch: des Textensembles), der sich zusammensetzt aus 1) dem Grundtext (lateinische Aristoteles-Übersetzung des Boethius), 2) in den Grundtext eingefügten Kontextglossen, 3) lateinischen Umformungen des Grundtextes, 4) althochdeutschen Übersetzungen und 5) kommentierenden Textelementen.

Um auf die zu erwartenden unterschiedlichen Bedürfnisse eines interdisziplinären Benutzerkreises zu reagieren, wurde nicht nur der 'eigentliche' Kommentar nach Bezugsstellen und nach Thematik gestaffelt, sondern auch der strukturelle Kommentar durch Textauszeichnung. Dementsprechend bietet das Benutzerinterface fünf sogenannte Differenzierungsstufen an.

In Differenzierungsstufe 0 werden Grundtext und die von Notker stammenden Textbestandteile nicht voneinander unterschieden. Es wird aber für jedes neue Grundtextsegment mitsamt nachfolgendem Notkertext ein neuer Absatz gebildet und damit bereits eine strukturelle Eigenschaft erfasst, die über die in der Handschrift sichtbare Textgliederung hinausgeht.18

In Differenzierungsstufe 1 wird zwischen Grundtext und Notkertext ein Absatz gebildet. Der Grundtext erscheint fett gedruckt, alles von Notker stammende, einschließlich der Kontextglossen, normal.

Differenzierungsstufe 2 hebt zusätzlich Notkers lateinische Umformungen des Grundtextes durch Sperrdruck hervor.

In Differenzierungsstufe 3 werden Notkers eigenständige Kommentareinschübe eingerückt. Ihr Umfang reicht von einzelnen Syntagmen bis hin zu mehreren Sätzen. Der Beginn eines neuen Sinnabschnitts wird in dieser Differenzierungsstufe zudem durch einen größeren Absatzabstand markiert.

Differenzierungsstufe 4 führt die Unterscheidung zwischen Entsprechung und Abweichung ein: Wörter oder Passagen, die eine syntaktische und/oder sinngemäße Entsprechung in einer vorangegangenen Textstufe haben, erscheinen weiterhin recte. Ebenfalls recte erscheinen Hinzufügungen, die auf sprachliche Notwendigkeiten des Althochdeutschen zurückgehen (meist Artikel und ergänzte Verben). Alle Textelemente, die eine Sinnveränderung bewirken, also eine Abweichung von der vorangegangenen Textstufe darstellen, werden kursiv gedruckt. Außerdem werden die Bezüge zwischen Bestandteilen der aufeinanderfolgenen Textstufen folgendermaßen visualisiert: Fährt man mit der Maus auf ein Wort, das mit einem Wort oder einer Passage aus der vorangehenden Textstufe in Beziehung steht, so wird diese Interrelation angezeigt, indem das betreffende Wort selbst sowie die ihm korrespondierenden Wörter/Passagen gelb hinterlegt werden.




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Abb. 1: Benutzeroberfläche der elektronischen Notker-Probeedition
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Das Benutzerinterface (vgl. Abb. 1) ist wie folgt aufgebaut: Die horizontale Navigationsleiste oben ist zweigeteilt. Der linke Teil stellt die Hauptnavigationsfläche dar und ist statisch, während der rechte Teil dann ein Auswahlmenü von Kommentaren bereithält, sobald man eine Textstelle anklickt, zu der es mehrere Kommentartypen gibt. Ganz links in der Hauptnavigationsleiste befindet sich die Kapitelauswahl, rechts davon die Auswahl der Differenzierungsstufen, dann folgt die Wahlmöglichkeit einer original-handschriftlichen oder einer modernen Interpunktion, und schließlich die Wahlmöglichkeit, ob die Verlinkung von Textstellen zum Kommentar sichtbar sein soll;19 ansonsten werden sie erst beim Überfahren mit der Maus sichtbar.

Im linken Textfenster findet sich stets der edierte Text in der jeweils selektierten Form, im rechten Fenster wahlweise eine Übersetzung, ein diplomatischer Abdruck des Textes oder der jeweils angewählte Kommentar.

Zum linken Textfenster gehört auch die vertikale Navigationsleiste, die mit dem Text beim Scrollen mitwandert, denn sie ersetzt sozusagen die Zeilenzählung in buchgebundenen Textausgaben. Der rechte Teil dieser Navigationsleiste zählt die durch Notkers Grundtexteinteilung entstandenen Segmente; die Segmentzähler sind zugleich dergestalt mit dem diplomatischen Abdruck verlinkt, dass man auf den angewählten Textbereich in der diplomatischen Textwiedergabe verwiesen wird. Die Flächen links hiervon zeigen Referenzspannen im Text an, d.h. Abfolgen von Segmenten, die inhaltlich zusammenhängen und zu denen es jeweils Einzelkommentare (dafür steht das mit dem Kommentar verlinkte "E") gibt. Die äußerste linke Fläche umspannt meist größere Textmengen und führt zu einem Abriss des jeweiligen philosophischen Problems (dafür steht das mit dem Kommentar verlinkte "P"), das im bezeichneten Textabschnitt behandelt wird.




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Weitere Kommentare sind auf einzelne Wörter und Passagen innerhalb des Notkerschen Textanteils bezogen und mit diesen verlinkt.

Im Interface sind also gewissermaßen die beiden konzeptuellen Achsen 1) Aufteilung des Textes in Lemmata und 2) thematische Aufteilung des Kommentars auf jeweils eine vertikale und eine horizontale Achse projiziert worden. Der Kommentar ist in folgende Kategorien eingeteilt, im Auswahlmenü wie folgt benannt: "Textkritik", (Text-)"Analyse", "Erläuterung" und "Quelle".20 Der textkritische Kommentar gibt Rechenschaft über editorische Entscheidungen. Der textanalytische Kommentar gibt gegebenenfalls ergänzende Informationen zu den Interrelationen zwischen den Textschichten, die bei Selektion von Differenzierungsstufe 4 graphisch dargestellt sind. Die als Erläuterungen bezeichneten Kommentare sind auf inhaltlich-semantische Fragen ausgerichtet, womit oft auch textanalytische Fragen verbunden sind. Der Quellenkommentar enthält relevante Ausschnitte aus den von Notker benutzten Texten einschließlich deutscher Übersetzung.

Das Modell in seiner gegenwärtigen Gestalt ist ein in sich geschlossener Hypertext, realisiert mit den Technologien HTML, CSS (Cascasding Style Sheets) und JavaScript.21 Für die Navigation durch den Benutzer soll dies im wesentlichen auch so bleiben, da die Edition sowohl im Internet als auch plattformunabhängig auf CD-ROM verfügbar sein soll. Es ist aber vorgesehen, Anschlussmöglichkeiten zu integrieren, um Synergien mit gegenwärtigen und zukünftigen korrelierten Projekten, wie beispielsweise Online-Wörterbüchern, vorzubereiten. Speziell bei Wörterbüchern kommt hauptsächlich eine Verknüpfungsrichtung in Frage, nämlich vom Text zum Wörterbuch. Hierfür bieten sich konventionelle, feste Hyperlinks an, die direkt das gewünschte Lemma im Wörterbuch adressieren.22 Natürlich muss die URL des Wörterbuchs bzw. Lexikons hierfür konstant bleiben. Um von anderen Hypertexten aus verlinkt werden zu können, ist vorgesehen, nicht nur die HTML-Ausgabe, sondern auch den TEI/XML-Quelltext mit ausführlicher Dokumentation verfügbar zu machen. Verknüpfungen nach außen sollen ebenfalls realisiert werden, indem in geeigneter Weise Metadaten zur Verfügung gestellt werden. Zur Anwendung kommen wird hierfür die Standardtechnologie RDF (Resource Description Framework; mehr dazu unten).23 Damit ist das Referenzieren von Ressourcen möglich, ohne einen direkten, fest kodierten HTML-Hyperlink zu verwenden. Idealerweise können sich andere Kommentatoren mittel- und langfristig weiterhin auf denselben editerten Text bzw. einzelne Textstellen beziehen, auch wenn dieser sich weiterentwickelt und womöglich seine Adresse wechselt.

Zur Möglichkeit einer offenen Kommentierung zu Notker erhebt sich natürlich die Frage, inwieweit dieser neu gegründete Diskurs geregelt verläuft. Zwei Grundprinzipien bieten sich an: 1) ein sehr offenes System, in dem, etwas vereinfacht gesagt, ein jeder Schreib- und auch Überschreibrecht hat, wie es in den verschiedenen Wikipedia-Varianten24 gehandhabt wird, oder 2) eine Evaluierung nach dem Muster des in naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften sowie auch im "HyperNietzsche" (vgl. das Folgende) angewandten Peer Review. Beides setzt natürlich eine ausreichend große und aktive scientific community voraus.




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2.4 Beispiel HyperNietzsche

Das Projekt "HyperNietzsche"25 unter der Leitung von Paolo D'Iorio ist aufgrund seiner Gesamtkonzeption dazu geeignet, Umwälzungen in der Kommunikationsstruktur der (Geistes-)Wissenschaft zu bewirken.

Konzeptionell ist die Infrastruktur strikt nach der Beschaffenheit der Materialien, sprich: Überlieferungsträger, organisiert: Die Grundlage bilden die in Archiven lagernden Handschriften, Originalausgaben und weitere Dokumenttypen wie beispielsweise Briefe. Diesen realen, aber für das System nicht greif- und veränderbaren externen Objekten werden Siglen zugeteilt, mit denen sie eindeutig identifiziert und damit referenziert werden können. Weitere Erschließungsarbeiten ergeben Siglen für die einzelnen Seiten sowie für textuelle Einheiten, allgemein als Notizen bezeichnet. Die Siglen werden folgendermaßen gebildet: Beispielsweise erhält ein Notizbuch die Sigle N-IV-4. Die zweite Notiz auf S. 23 dieses Notizbuchs erhält die Sigle N-IV-4,23[2]. Das Siglenschema kann auch Notizen erfassen, die sich auf mehrere Seiten oder gar auf mehrere Notizbücher verteilen; ein Beispiel für solche Sigle: N-IV-4,25[4]et26[3]. Da sämtliche Siglen für Materialien so aufgebaut sind, sind diese für das System leicht zu verarbeiten. Wenn ein Forscher beispielsweise eine Transkription der genannten Notiz an das System sendet, ordnet er dabei seine Transkription der entsprechenden Materialsigle zu, was bereits in der Prozedur des Einsendens geschieht. Damit ist die Verknüpfung des eingesandten Dokuments mit dem Teilelement des externen Objekts gespeichert und kann verwendet werden.

Die Navigation zum Auffinden von Materialien sowie Beiträgen findet im "HyperNietzsche" auf zwei Weisen statt:26 1) automatisch durch die dynamische Kontextualisierung und 2) durch einen sogenannten "Weg". Die dynamische Kontextualisierung listet, sobald man eine bestimmte Materialsigle aufgerufen hat, alle Beiträge auf, die sich darauf beziehen. Beim Aufruf eines Beitrags werden umgekehrt diejenigen Materialsiglen aufgelistet, mit denen dieser Beitrag in Beziehung steht, und außerdem andere Beiträge, die den aktuellen Beitrag zitieren. Im Falle einer Transkription oder eines digitalen Faksimiles (d.h. eines eingescannten und ggf. bearbeiteten Bildes) von Manuskripten ist das einfach, da diese schon bei ihrer Einsendung mit den entsprechenden Siglen verknüpft werden. Etwas komplizierter ist der Prozess zur Ermittlung derjenigen Beiträge, die einen bestimmten, gerade selektierten Beitrag zitieren.27 Für das System greifbar sind solche Zitate dann, wenn sie in einer bestimmten Weise kodiert sind. Das System findet diese (XML-basierte) Kodierung im Beitrag, extrahiert die darin enthaltenen Siglen und verknüpft sie mit den zitierten Beiträgen. Für die Kodierung von Transkriptionen, Aufsätzen und Werktexten im "HyperNietzsche" wurde eigens eine XML-basierte Textauszeichnungssprache entwickelt, die u.a. dies ermöglicht (vgl. Saller 2004). Es stehen drei verschiedene Auszeichnungselemente (Tags) zur Verfügung, um auf Materialien, Autoren und andere Beiträge Bezug nehmen zu können.

Die zweite Methode der Verknüpfung von miteinander korrelierten Inhalten wird von menschlichen Agenten, den Benutzern des "HyperNietzsche" realisiert. Aus der Sicht des Systems werden dabei einfach Siglen miteinander verknüpft.




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Eine wichtige Anwendung sind die sogenannten genetischen Wege: Anordnungen derjenigen Notizen, die auf einen bestimmten Aphorismus im Werk Nietzsches hinführen, so dass die Textgenese schrittweise von Dokument zu Dokument erfasst wird.28 Weitere Möglichkeiten der materialbezogenen Anordnung wären chronologische oder thematische Wege. Doch auch Beiträge, die ebenfalls über eindeutig identifizierende Siglen29 abrufbar sind, können miteinander verknüpft werden und damit Ensembles wie Sammelbände zu einem bestimten Thema bilden.

Es liegt auf der Hand, dass die beschriebene Infrastruktur besonders geeignet ist, Kommentare verschiedenster Ausprägungen zu erstellen. Kontinuierliche Übergänge zwischen dem Beitragstyp Weg und Kommentar sind denkbar: von gelegentlichen Anmerkungen, die einer Aneinanderreihung von Materialsiglen beigegeben werden, bis hin zum ausführlichen Kommentar, der Werke und ihre Entwicklungsstufen auf eigene Weise verbindet und vielleicht auch andere Beiträge, sei es "HyperNietzsche"-intern oder -extern, einbindet.


2.5 Organisation von hypertextuellem Wissen im Cyberspace

Die obigen Beispiele funktionieren bei aller Fähigkeit zur Weiterentwicklung und Offenheit reibungslos und vorhersagbar nur dann, wenn man sich innerhalb der jeweils gegebenen Hypertextstruktur bewegt. Es ist eine triviale Feststellung, dass die Betreiber der Projekte keine Kontrolle über den restlichen Hyperspace haben. Doch hat es immer wieder Bemühungen gegeben, den arbiträren Bezeichnungen von Relationen, die nur technisch-syntaktischen Regeln folgen müssen, eine auf den menschlichen Agenten ausgerichtete semantische Komponente beizugeben. Im Zusammenhang damit steht das zweite Problem bei der Navigation zwischen den diskreten Hypertexten: die Flüchtigkeit sowohl von Inhalten als auch von Speicherorten. Das World Wide Web ist daher nur eingeschränkt als digitale Bibliothek zu betrachten und zu benutzen, wenn auch die Bibliotheksmetapher sehr beliebt ist bei der Beschreibung von Datenstrukturen und Suchvorgängen.

Eine Möglichkeit, dies zu umgehen, ist die Schaffung zentraler Textsammlungen wie beispielsweise das Perseus-Projekt30 oder das Electronic Text Center der University of Virginia31. Auch der "HyperNietzsche" beinhaltet eine digitale Bibliothek, in diesem Fall eine Fachbibliothek zu Nietzsche. Diese Textsammlungen sind allerdings beschränkt in ihrer inhaltlichen Bandbreite und (am wenigsten der "HyperNietzsche") in Bezug auf Struktur und Format der Inhalte.

Die andere Möglichkeit besteht darin, das gesamte Web mit semantischen Strukturen zu überziehen und schrittweise in ein "semantisches Web"32 umzuwandeln. Hierzu gibt es eine Reihe verschiedener Ansätze.




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Eine Möglichkeit besteht darin, den Resourcen unikale Bezeichnungen zu geben, die unabhängig von ihrem Speicherort sind. Auf diesem Prinzip basiert das Konzept der Uniform Resource Names (URN), das vergleichbar ist mit ISBN-Nummern für Bücher. Das Programm Assistant for Philological Explorations (APE)33, das in der Wittgenstein-Forschung ("Tracing Wittgenstein")34 zum Einsatz kommt, arbeitet damit.

Mit dem bereits im Zusammenhang mit dem Notker-Projekt erwähnten Resource Description Framework (RDF) erhalten die Inhalte im Web die Möglichkeit, sich selbst zu beschreiben. Indem diese Metadaten in ihrer Struktur standardisiert sind, können sie auch dann, wenn verschiedene Inhalte verschiedene Beschreibungsvokabulare benutzen, durch nichtmenschliche Agenten in Relation gebracht, also für die Navigation nutzbar gemacht werden. Eine formal strengere, mehr an maschineller Verwertbarkeit orientierte Sprache ist die Web Ontology Language (OWL).35 Sie ist in etwa vergleichbar mit einer DTD oder einem XML-Schema und beschreibt detailliert die Elemente und deren teils hierarchische Anordnung von elektronischen Dokumenten. Damit wird auch der Zugriff auf Teile von Dokumenten unterstützt.

Ein konsequentes, aber auch reichlich utopisches Konzept ist "Xanadu"36, 1960 (!) begründet von Ted Nelson. Es umfasst neben der Persistenz und doppelten Ausrichtung von Links (jeder Link führt nicht nur von A nach B, sondern immer auch von B nach A) ein neues Konzept von Copyright sowie die Verwaltung von Versionen. Eine Implementierung im World Wide Web in seiner heutigen Gestalt (die Kritik Ted Nelsons an der Entwicklung ist sicher nicht unberechtigt) würde sicherlich nur auf kleinräumiger Basis gelingen, ohne das Internet global wesentlich zu verändern.

Vergegenwärtigt man sich nun das Konzept des semantischen Gedächtnisses von Ross M. Quillian (Quillian 1968), das einen der Ausgangspunkte für das semantische Netz darstellt, so werden durchaus Gemeinsamkeiten sichtbar. Es scheint, als würde das Web eine Gestalt annehmen, die es mit dem menschlichen Gedächtnis vergleichbar macht, und eher von einer systematisch-klassifizierenden und auch hierarchischen Organisation nach dem Paradigma der Bibliothek abkommen. Wie für das semantische Gedächtnis beschrieben, werden sinnhafte Einheiten, also Sätze oder größere Einheiten, gebildet, indem einzelne Knoten (in Quillians semantischem Gedächtnis: Eigenschaften) des Netzes durchlaufen und neue, evtl. noch nie dagewesene Relationen gebildet werden. Das Ergebnis wird dann erneut Bestandteil des Netzes. Indem so ständig neuer Sinn gebildet wird, kommentiert sich das Netz selbst.

Demgegenüber stehen durchaus fixierte Einheiten, immer wieder stabilisierte Texte, zu denen sich andere Texte wie Kommentare verhalten. Auch im digitalen Medium kann die Einheit Buch eine Rolle spielen, als Organisationsparadigma zur Gliederung und Verknüpfung von Texten. Auch weiterhin sind Texte auf Medien im Medium angewiesen, die ihnen einen bestimmten Rahmen und damit Status und Sinn verleihen.




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Insgesamt bietet sich ein hybrides Bild: Das Web bietet neue Möglichkeiten, aus Texten Sinn zu konstituieren, indem es offenbar kognitive Muster nachbildet. Die Art, wie Dokumente und andere Daten gespeichert und verwaltet werden, hat sowohl Züge des menschlichen Gedächtnisses, insoweit dies überhaupt durch Modellierung zugänglich ist, als auch der traditionellen, auf schriftlichem Kodieren und Lesen basierenden Technologien. Als relativ fragile Muster von Daten und Verweisen, bei denen sich Original und Kopie nur dann unterscheiden, wenn das durch zusätzlichen Aufwand herbeigeführt wird, ähneln sie den leicht veränderlich scheinenden Konfigurationen im Gedächtnis. Als durch Archivierung und Verbreitung gesicherte Datenbestände wiederum haben sie Ähnlichkeit mit Bänden in Archiven und Bibliotheken.

Wissenschaftliche Hypertexte haben sämtlich feste Bezugspunkte, wie sie die Organisation von Wissenschaft ja schließlich erfordert. Ob der Fokus eher auf der Überlieferung oder auf der semantischen Erschließung liegt, stets wirkt ein etablierter Begriff wie Autor oder Text als kohärenzstiftender Faktor. Der enorme Hinzugewinn von Freiheitsgraden beim Umgang mit historisch Überliefertem einerseits dürfte sich andererseits als erhöhter Bedarf an Ordungssystemen niederschlagen, um weiterhin Kommunikation von Forschungsfragen und -ergebnissen zu ermöglichen.


Bibliographie

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Bolter, Jay David (1991): Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing. Hove and London: Lawrence Erlbaum Associates.

Cardelle de Hartmann, Carmen (2000): "Fures uerborum alienorum: Plagiat im Mittelalter", in: Christiane Henkes / Harald Saller / Thomas Richter (Hg.): Text und Autor. Tübingen: Niemeyer, 86–88.

Fowler, Don (1999): "Criticism as commentary and commentary as criticism in the age of electronic media", in: Glenn W. Most (Hg.): Commentaries – Kommentare. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 426–442.

Gumbrecht, Hans-Ulrich (1999): "Fill up Your Margins! About Commentary and Copia", in: Glenn W. Most (Hg.): Commentaries – Kommentare. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 443–453.

Hellgardt, Ernst / Saller, Harald (2003): "Notker digitalis – Kommentierung eines Kommentars im Medium Hypertext", in: Christiane Henkes / Walter Hettche / Gabriele Radecke / Elke Senne (Hg.): Schrift – Text – Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 313–330.

Huber, Christoph (1999): "Formen des 'poetischen Kommentars' in mittelalterlicher Literatur", in: Glenn W. Most (Hg.): Commentaries – Kommentare. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 323–352.




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Jacobs, Wilhelm (1987): "Textüberlieferung und historisch-kritische Edition", in: Walter Jaeschke / Wilhelm G. Jacobs / Hermann Krings / Heinrich Schepers (Hg.): Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Hamburg: Meiner, 21–26.

Landow, George P. (1992): Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology. Baltimore and London: The John Hopkins University Press.

Most, Glenn W. (1999): "Preface", in: Glenn W. Most (Hg. ): Commentaries – Kommentare. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, VII–XV.

Nellmann, Eberhard (1994): Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn. Frankfurt: Deutscher Klasiker-Verlag.

Quillian, M. Ross (1968): "Semantic Memory", in Marvin Minsky (Hg.): Semantic Information Processing. Cambridge, Mass: MIT Press, 227–270.

Raible, Wolfgang (1995): "Arten des Kommentierens – Arten der Sinnbildung – Arten des Verstehens. Spielarten der generischen Intertextualität", in: Jan Assmann / Burkhard Gladigow (Hg.): Text und Kommentar. München: Fink, 51–74.

Saller, Harald (2003): Ein neues Editionskonzept für die Schriften Notkers des Deutschen anhand von "De interpretatione". Frankfurt: Lang.

Saller, Harald (2004): "HNML – HyperNietzsche Markup Language", in: Jahrbuch für Computerphilologie 5 (im Erscheinen).

Senger, Hans Gerhard (1993): "Der Kommentar als hermeneutisches Problem", in: editio 7, 62–75.

Stolz, Michael (2003): Rezension zu: "David N. Yeandle (Hg.), Stellenbibliographie zum Parzival Wolframs von Eschenbach für die Jahrgänge 1984–1996, bearbeitet von Carol Magner unter Mitarbeit von Michael Beddow, John Bradley, David Powell, Harold Short und Roy Wisbey, Tübingen 2002", in: Arbitrium 21, 153–158.


Anmerkungen

1 Wilhelm Jacobs (1987: 23) formuliert dies im Hinblick auf philosophische Texte so: "Zusammen mit dem Editorischen Bericht stellen die Erklärenden Anmerkungen den bedeutendsten wissenschaftlichen Ertrag der historisch-kritischen Edition dar, indem sie genau zeigen, worauf sich die Ausführungen des Autors beziehen. Hiermit erfüllt die historisch-kritische Edition die Forderung der Hermeneutik, eine Behauptung als Lösung eines Problems oder als Antwort auf eine Frage zu verstehen."

2 Die Unterschiede sind aber sicherlich nur graduell; vgl. das von H. G. Senger (1993: 72) referierte Beispiel verschiedener Cusanus-Kommentare, die von stark unterschiedlichen philosophischen und theologischen Strömungen geprägt sind.

3 So charakterisiert Hans-Ulrich Gumbrecht (1999: 448) Kommentare, die in einer langen Tradition stehen.




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4 Katenenkommentare sind Aneinanderkettungen früherer Kommentare zu bestimmten Bibelstellen, zu denen man eigene Anmerkungen hinzufügt. Schon bei der Herausbildung dieser Gattung erhob sich immer wieder Plagiatsverdacht, der dann bestärkt schien, wenn die Namen der Vorgänger durch Überlieferungsvorgänge nicht mehr vollständig und in richtiger Zuordnung genannt wurden (Cardelle de Hartmann 2000: 86–88).

5 "[F]ür den kreativen Rezipienten (man kann ihn auch einen Hermeneuten nennen) ist der Text nur 'Prätext' für eine schöpferische Adaptation oder Weiterentwicklung im Akt des Verstehens." (Raible 1995: 53)

6 Das Fehlen von Wortwörtlichkeit ist v.a. dann aussagekräftig, wenn sie aufgrund anderer Kriterien eigentlich zu erwarten wäre, wie beispielsweise bei Zaubersprüchen. Zaubersprüche basieren einerseits als rituelle Texte auf Fixierung, andererseits zeigt die Überlieferung auch hier Varianz, die dem widersprechen müsste. Es müssen somit andere Kriterien der Äquivalenz ausschlaggebend sein als die Identität auf der Ausdrucksseite oder Wortwörtlichkeit.

7 Diese doppelte Aufgabenstellung ist gut ablesbar in Notkers des II. von St. Gallen Kommentar zu Aristoteles' De interpretatione (Peri hermeneias), der sich seinerseits auf Boethius stützt (Saller 2003: 60f.).

8 Wenn Jay David Bolter (1991: 139) als Charakteristikum des Hypertextes das Weiterschreiben durch den Leser nennt, muss man entsprechend ausdifferenzieren: Ein Hypertext ist nicht per se auch schreibbar, was nicht zuletzt vom verwendeten Speichermedium abhängt.

9 "Every written text occupies physical space and at the same time generates a conceptual space in the minds of writers and readers". (Bolter 1991: 85)

10 Vgl. die Einführung unter http://www.parzival.unibas.ch/einf.html.

11 http://www.parzival.unibas.ch/probed.html

12 Eine deutschsprachige Projektbeschreibung findet sich unter http://www.kcl.ac.uk/kis/schools/hums/german/parzibesc.html. Leider ist die Textprobe auf der Pojekt-Website nicht mehr verfügbar, was urheberrechtliche Gründe haben mag. Die folgenden Ausführungen basieren auf den Informationen aus der Projekt-Homepage sowie der Rezension von Michael Stolz (2003). Wohl wegen des ausgesprochen hohen Preises von EUR 536,- ist die CD-ROM bislang weder in der Münchner Universitätsbibliothek noch in der Bayerischen Staatsbibliothek vorhanden.

13 Stolz (2003: 154) bemängelt allerdings die Wahl der zugrundegelegten Edition, die nicht ganz dem Stand der Forschung entspricht.

14 Stolz übt einige Kritik an der besagten Aufschlüsselung (ebd.: 155f.).

15 http://www.mwv.uni-trier.de/index.html.

16 In dieselbe Richtung argumentiert Stolz (2003: 157).

17 Die Probeedition ist verfügbar unter http://www.textkritik.uni-muenchen.de/hsaller/notker.

18 In der Handschrift (Codex Sangallensis 818) werden die Überschriften und die Initialen der Kapitel durch Schriftgröße und Rubrizierung hervorgehoben, was einer Mindestanforderung mittelalterlichen Layouts entspricht.




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19 Die Links im Text erscheinen dann grau hinterlegt, was dem Gestaltungsprinzip der Benutzeroberfläche entspricht: Alles, was zur Navigation im Hypertext dient, befindet sich innerhalb einer grauen Fläche.

20 Eine weiter ausdifferenzierte Staffelung wurde für Notkers Bearbeitung der aristotelischen Kategorien wurde erprobt (Hellgardt / Saller 2003).

21 Die produktionsseitige Kodierung wird dagegen auf TEI/XML basieren (Offizielle Website der Text Encoding Initiative: http://www.tei-c.org/).

22 Interessant wäre gegenwärtig v.a. das "Chronologische Wörterbuch des Deutschen" unter der Leitung von Elmar Seebold, das auch eine online-Fassung bereithält: http://www.cis.uni-muenchen.de/ahdeutsch/. Zur Zeit beschränkt sich das verfügbare Material noch auf das 8. Jahrhundert.

23 http://www.w3.org/RDF/.

24 Wikipedia ist ein System zur Entwicklung einer offenen Enzyklopädie. Eine zusammenfassende Beschreibung findet sich unter http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia. Es gibt mittlerweile zahlreiche Verzweigungen, sowohl länder- als auch themenspezifisch. Seit 2001 ist der Umfang geradezu explodiert. Ziel ist, analog zu historischen Vorläufern wie der Bibliothek von Alexandria, alles auf der Welt verfügbare Wissen zugänglich zu machen. Durch iterative Weiterentwicklung soll größtmögliche Zuverlässigkeit und Adäquatheit erreicht werden: Im Gegensatz zu anderen elektronischen Kommunikations- und Vermittlungssystemen funktioniert Wikipedia auf der Ebene einzelner Artikel nicht akkumulierend: Artikel können nicht nur erweitert, sondern auch durch Ersetzen verbessert werden, wobei aber sämtliche Änderungen dokumentiert werden.

25 http://www.hypernietzsche.org/.

26 Zur technischen Realisierung vgl. Barbera/Giomi (2004).

27 Diese Funktion ist allerdings zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch nicht fertig implementiert.

28 Je nach Überlieferungslage gestaltet sich ein solcher genetischer Weg bei Nietzsche vereinfacht nach diesem Schema: Notizbuch bzw. -bücher – Reinschrift – Druckmanuskript – Korrekturbögen – Erstdruck. Weitere Überlieferungsträger, die Teil eines solchen Wegs sein können, sind z.B. Postkarten an den Verleger mit Änderungswünschen. Hinzugefügt sei, dass auch die Bearbeitungsstufen innerhalb der Dokumente (Schreibstufen) durch die HNML-Kodierung repräsentiert werden können (Saller 2004).

29 Beitragssiglen sind zusammengesetzt nach dem Prinzip: erster Buchstabe des Verfassers + Nachname + laufende Nummer, also beispielsweise pdiorio-1.

30 http://www.perseus.tufts.edu/.

31 http://etext.lib.virginia.edu/.

32 Homepage des w3c zum Semantic Web: http://www.w3.org/2001/sw/.

33 Es handelt sich um ein Programm zum Verfassen von Anmerkungen und deren Verknüpfung mit einem Text, wobei beides über das Netz kommuniziert werden kann; vgl. http://www.philo.de/ape/.

34 http://wittgenstein.philo.at/.




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35 http://www.w3.org/TR/2004/REC-owl-features-20040210/.

36 "Xanadu" ist zugleich als eine Bibliothek und als intensiv vernetzter universaler "writing space" für alle Mitglieder gedacht. Vgl. Bolter (1991: 102) und die Projekt-Homepage http://xanadu.com/index.html.