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Vorwort


Jeder Medienumbruch – dies ist eine der zentralen Einsichten der Mediengeschichte – geht mit einer Rhetorik des Neuen einher, mit, wie Kittler es formuliert hat, "Mythen" und "Orakeln" (Kittler 1986: 4). Von dieser Regel bilden auch die sogenannten 'neuen', digitalen Medien keine Ausnahme. Der Diskurs über die digitalen Medien und insbesondere derjenige über das Internet war in der Frühphase bis Ende der 90er Jahre durch eine geradezu emphatische Feier dieser neuen Techniken geprägt. In einer teleologischen Denkfigur wurde der Computer zu einem Meta-Medium erhoben, das alle anderen Medien nicht nur in sich vereinen, sondern auch gleichsam aufheben könne.1 Vom Internet versprach man sich eine Überwindung räumlicher Grenzen, eine umfassende Demokratisierung des Wissens und sogar eine Art 'Weltbürgertum': Das Internet sollte zu einem 'globalen Dorf' werden, in dem Wissen frei und ohne Zensur zirkulieren würde; es sollte Medium einer "telematischen Weltgesellschaft" (Flusser 1985) sein und ein neues Verhältnis der Menschen zueinander ermöglichen.2 Dass hier "das Imaginäre Besitz vom technisch Machbaren" nimmt (Maresch 2001: 15), dass diese Utopien letztlich die technische Gemeinschaft der Nutzer im Internet mit einer ideellen Gemeinschaft verwechseln, wird im Zuge einer Kritik am "Mythos Internet" und an der "digitalen Mythographie" mittlerweile jedoch immer häufiger betont.3 An die Stelle der oft illusionären Erwartungen sind in der Zwischenzeit vor allem pragmatische Anforderungen getreten: "Heute kann man sagen, dass das Medium Internet eine Praxis ist, eine technologische Struktur, die unterschiedliche Kulturtechniken zu entwickeln und zu verwenden gestattet" (Münker 2002: 8).

Dies gilt auch für den Bereich der Wissenschaft, die sich mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass das Internet längst nicht mehr reines Forschungsnetz ist, sondern mittlerweile durch kommerzielle Angebote dominiert wird. Andererseits aber haben sich in der Zwischenzeit zahlreiche akademische Internet-Projekte etabliert, die auf einige Jahre konkreter Erfahrungen mit spezifischen technischen Lösungen zurückblicken und auf eine stetig steigende (und oft internationale) Nutzerzahl verweisen können. Vor diesem Hintergrund scheint sich das Interesse auch im akademischen Bereich immer weniger auf die Utopie eines globalen Netzdenkens und immer stärker auf die praktische Dimension digitaler Medien zu richten, d.h. auf das konkrete Potenzial dieser Medien für die wissenschaftliche Nutzung. Von diesem Paradigmenwechsel in der Mediennutzung ist die philologische Tätigkeit generell und somit auch die Romanistik in ihrem Kern betroffen:

  1. im Bereich ihrer Grundlegung, insofern die neuen medialen Möglichkeiten die Frage nach Erweiterungen, Verschiebungen und Grenzen philologischer Arbeit zu und mit elektronischen Texten aufwerfen;
  2. im Bereich ihres Gegenstands, insofern in den letzten Jahren eine digitale Literatur bzw., in einem viel umfassenderen Sinn, eine eigene Ästhetik digitaler Medien entstanden ist;



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  4. im Bereich ihrer Arbeitsmittel, insofern fast alle Bereiche des geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens wie Textedition, Publikation und Kommunikation durch die neuen Medien grundlegend verändert werden.

Die Beiträge dieses Bandes gehen, entlang der drei skizzierten Achsen Theorie – Ästhetik – Praxis, diesen Fragestellungen nach.4 Entsprechend der Transdisziplinarität der digitalen Medien wird dabei die genuin romanistische Perspektive durch Beiträge aus angrenzenden Disziplinen, aus Germanistik, Medienwissenschaft und Geschichtswissenschaft ergänzt.


1 Theorie

Inwiefern ist es angesichts der pragmatischen Wende im Umgang mit elektronischen Medien sowie dem Internet überhaupt noch nötig und sinnvoll, diese zum Gegenstand theoretischer Überlegungen zu machen? Aktuelle theoretische Zugänge zu elektronischen Medien geben darauf (mindestens) zwei mögliche Antworten:

Zum einen geht es ihnen um die Suche nach Alternativen zu teleologischen Denkfiguren, die auf einem rein technikorientierten Ansatz beruhen.5 Ein Weg, die Differenz zwischen technischen Möglichkeiten und damit verknüpften Utopien deutlich zu machen, führt über die eingehende Untersuchung des symbolischen bzw. imaginären Potenzials elektronischer Medien (vgl. Winkler 1997). Der einleitende Beitrag des Bandes von Jörg Türschmann unter dem Titel "Das poetische Netz: Möglichkeiten der Beschreibung von Internetkultur anhand der Wissenschaftsphilosophie von Michel Serres" unternimmt in diesem Sinn eine metaphorologische Analyse elektronischer Medien (vgl. dazu auch Tholen 2002: 19–60). Die Besonderheit von Türschmanns Beitrag liegt darin, dass er im Licht des thermodynamischen Theorieansatzes von Michel Serres eine kritische Perspektivierung der Vernetzungsmetaphorik unternimmt und somit die in vielen Netzdiskursen implizierte naive Verbindungs- und Extensionsvorstellung hinterfragt.

In Zusammenhang mit diesem Beitrag stellt sich auch die Frage, welche selbst nicht mehr symbolisch zu verstehende Fundierung die Metapher des "Netzes" besitzt. Dabei geraten über rein technische Dispositive hinaus in letzter Zeit verstärkt kognitionstheoretische Voraussetzungen medialer Netzwerke in den Blick (vgl. für den Schnittpunkt von Kunst- und Neurowissenschaften Breidbach / Clausberg 1999). Peter Gendolla und Jörgen Schäfer widmen sich den Chancen, die eine Neuperspektivierung digitaler literarischer Ästhetik durch kognitionstheoretische Fragen bietet. In ihrem Beitrag "Vernetztes Probehandeln. Literatur im Zeitalter der permanenten Mutabilität", der den theoretischen Rahmen des Siegener SFB-Teilprojekts Literatur im Netz / Netzliteratur absteckt, wird deutlich, dass es bei einer solchen Neuperspektivierung darum geht, das literaturästhetische, aber auch das kritische Potenzial der Schnittstellen zwischen Menschen und Programmen zu sondieren.




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Neben dieser Suche nach einer allgemeinen Theorie elektronischer Medien gewinnt im theoretischen Diskurs der pragmatische Aspekt ihrer situationsspezifischen Nutzung immer stärkeres Gewicht: Während Netzutopien bzw. -dystopien stets von der Annahme eines allumfassenden und unausweichlichen Dispositivcharakters des Medialen ausgehen, tritt mit der Zuwendung zu Praktiken der Mediennutzung in Anschluss an Michel de Certeau (1990) die Frage nach möglichen Spielräumen innerhalb des jeweiligen medialen Dispositivs in den Vordergrund. Die zwei folgenden in der Theoriesektion angesiedelten Beiträge des Bandes verhandeln den Spielraum, den elektronische Medien wissenschaftlichen Diskurspraktiken einräumen, zwischen den Polen computerunterstützter philologischer Tätigkeit (vgl. z.B. in der Germanistik das das von Georg Braungart, Karl Eibl und Fotis Jannidis herausgegebene Forum Computerphilologie6) und kulturwissenschaftlicher Analyse (vgl. Stanitzek / Voßkamp 2001 sowie andere Veröffentlichungen des Kölner Forschungskollegs "Medien und kulturelle Kommunikation"). Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt dabei eine ehrwürdige philologische Tätigkeit, die im Zuge elektronischer Medien gerade eine Art von Renaissance erlebt: der Kommentar.

Jörg Dünne untersucht mit seinem Beitrag "Weblogs: Verdichtung durch Kommentar" unter Rückgriff auf Hartmut Winklers (1997) Begriff der sprachlichen Verdichtung die Funktion des Kommentars bei der Herausbildung und Kanonisierung kultureller Traditionsbestände. Dabei setzt er den institutionalisierten und scheinbar geschlossenen philologischen Kommentar in Beziehung mit der 'offenen' Kommentarpraxis von Weblogs, also mit einem relativ neuen Format zur Publikation von Texten im Netz in chronologischer Form.

Harald Sallers Beitrag "Zugriff auf Wissen, Zugang zum Sinn. Anmerkungen zu Texten, Kommentaren und semantischen Netzen" diskutiert an verschiedenen, vor allem germanistischen Beispielen von Notker bis Nietzsche die Veränderung des philologischen Kommentars angesichts der Strukturen von Wissensorganisation durch elektronische Medien. Insbesondere geht es ihm dabei um die Entwicklung semantischer Netze, die zwischen Strukturen des menschlichen Gedächtnisses und textgebundener Datenspeicherung in Archiven vermitteln.


2 Ästhetik

Seit nunmehr 25 Jahren begleitet die Linzer Ars Electronica die digitale Revolution in Bild-, Wort- und Tonkünsten.7 Seit ca. 15 Jahren existiert in den Medienwisschaften und in der ästhetischen Theorie, in der Amerikanistik und in der Germanistik ein ausgeprägtes Bedürfnis, digitale Formen der Vertextung und Literarisierung zum Gegenstand ästhetischer Reflexion zu erheben. Im deutschsprachigen Raum haben renommierte wissenschaftliche Verlage und Periodika in den letzten 10 Jahren Monographien, Sammelbände oder Sondernummern herausgebracht, die dem Thema "Digitale Literatur" gewidmet sind, so etwa Klepper u.a. (1996), Suter (1999), Heibach (2000), Text+Kritik (2001), Block (2001), Querelles-Net (2002) und Simanowski (2001) und (2002), um nur eine kleine Auswahl aufzulisten. Allen Unkenrufen zum Trotz (vgl. Scholler 2003) ist ein spannungsreiches digitales Feld entstanden, das mehr zu bieten hat als Matrix-Aufladungen. Grund genug also, einmal nachzufragen, ob vielleicht auch ein paar romanische Körner gesät wurden. Denn nicht nur in den o.g. Studien ist durch die Bank ausschließlich von anglophoner und deutschsprachiger Elektro-Literatur die Rede.8




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Dass Hypertexte und -fiktionen nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern auf eine papierene Vorgeschichte zurückblicken, ist inzwischen Common sense. In seinem Beitrag "Die poesía concreta und das Internet: Metamorphosen des Mediums" begibt sich Reinhard Krüger auf archäologische Spurensuche, und zwar zurück bis zum Beginn der Typewriter-Ära. Mallarmé und Apollinaire werden als Ahnen einer epochalen Transgression aufgerufen: Schrift und Medium sind nicht länger nachgeordnete Instanzen, sondern werden zum konstitutiven Bestandteil der Textinszenierung. Texte werden als Textflächen, Worte als Wortkörper arrangiert und wahrgenommen. Der von Breton und Aragon weiter getriebene Prozess prismatischer Textzerlegung wird stellvertretend an dem Gedicht "Pièce fausse" (Breton) erläutert. Fortgeführt werden diese konkretistischen Experimente u.a. von den brasilianischen Dichtern Décio Pignatari und Augusto de Campos. Beide transponieren die konkrete Poesie in digitale Medien und reizen damit letztinstanzlich eine poetische Wirkung aus, die bereits im Druck angelegt war: Aus der poesía concreta entsteht die poesía 'hiperconcreta'.

Im Blick zurück auf potenzielle Vorstufen erweist sich auch die visuelle Poesie als ein mögliches Modell hypertextueller Weiterentwicklungen. Silke Segler-Messner skizziert in ihrem Beitrag "Die poesia visiva als Modell digitaler Texte: Carlo Belloli – Lamberto Pignotti – Eugenio Miccini" am Beispiel neo-avantgardistischer italienischer Lyrik solche Elemente und Strukturen, die als plurimediale Gebilde den Hypertext präfigurieren und ihr volles poetisches Potenzial letztlich erst im Hypermedium Computer entfalten werden. Schon in der poesia tecnologica im Italien der 1960er und 1970er Jahre ist jene Interdependenz aus Technik und ästhetischer Kommunikation vorgeprägt, die dann im digitalen Raum zu einer Dynamisierung der raumzeitlichen Wahrnehmung führen sollte.

Eine nahe liegende, aber vernachlässigte Frage stellt Peter Schneck in seinem Beitrag "The Necessity of Fiction: Einige Anmerkungen zur Fiktion der Hyperfiction", nämlich die nach dem Status der Fiktionalität in Hyperfiktionen. Auf dieser Frage beharrrend, wird zunächst in einem knappen Abriss gezeigt, dass der Neustart der Literaturwissenschaft in der Hypertextära sich zu sehr an Technica ausrichtet. Bei dieser Orientierung gerät in Vergessenheit, dass auch in Bezug auf Hyperfiktionen klassische literaturwissenschaftliche Fragen gestellt werden müssen. Die Fiktionalität in hyperfictions muss in einer doppelten Absetzungsbewegung bestimmt werden: einerseits gegenüber klassischen Printfiktionen, andererseits gegenüber nicht-fiktionalen Hypertexten. Einen möglichen Ansatzpunkt bieten dabei Aarseths "Perspectives on Ergodic Literature" (1997). Demnach oszilliert der Fiktionsstatus von Hyperfiktionen zwischen klassischer Literatur und simulatorisch angelegten Adventure-Games.

Jochen Meckes ästhetische Reflexion über den Status von Hyperfiktionen könnte man als Antwort auf Schneck bezeichnen. In seinem Beitrag "Ästhetische Differenz in Print- und Hypertext(fiktion)" stellt er zunächst – ähnlich wie Schneck – heraus, dass die Eigenart von fiktionaler digitaler Literatur nicht allein in ihren technischen Spezifika aufgehen kann. In Anlehnung an Simanowski (2002) und in Opposition zu Landow (1997) wird herausgestellt, dass man von der technisch gegebenen, kombinatorischen Offenheit des Hypertextes nicht automatisch auf dessen semantische Offenheit im Sinne poststrukturalistischer Texttheorie schließen darf. Mit Blick auf die hyperfiktionale Praxis wird daher vor vulgärmediologischen Kurzschlüssen gewarnt. Denn die anschließenden Interpretationen spanischsprachiger Hyperfiktionen zeigen, dass ästhetische Differenz nicht 'mit', sondern gegen das – technisch bedingt – offene Medium Computer erzeugt wird, indem zum Beispiel mittels Karten, Inhaltsangaben und Wegweisern narrative Kohärenz, wenn nicht Geschlossenheit suggeriert wird.




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Elisabeth Bauer ("Die Lust am Fehler: Deautomatisierung in der frankophonen digitalen Literatur") hebt die besonderen Eigenschaften der digitalen Kommunikationssituation hervor. Die Parameter Sender, Code und Kanal weisen gegenüber klassischer Literatur eine bedeutende Verschiebung auf, insofern auch der Leser-User partielle Autorfunktionen übernehmen kann und darüber hinaus die Diegesis hypertextuell und plurimedial codiert ist. Wie kein anderes Medium zuvor besitzt also die Technik einen erheblichen Anteil bei der Erzeugung ästhetischer Produkte. Die ästhetische Wirkung von Hyperfiktionen wird jedoch – wie auch Mecke betont – als Konterdiskurs gegen diese Technik entfaltet, und zwar über gezielte Verstöße gegen Sitten und Gebräuche im Bereich der Softwareergonomie. Zielt letztere auf interaktive Funktionalität und optimale Informationsvermittlung ab, so lassen die von Bauer herangezogenen Beispiele aus der frankophonen Literatur erkennen, dass Hyperfiktionen das Ergonomie-Apriori destabilisieren und damit – freilich in einem ganz spezifischen Sinne – jene Devianzpoetik fortschreiben, die als Signum der klassischen Moderne gilt.

Revolutionen dauern nicht ewig. Inzwischen hat man sich in Digitalien eingerichtet. War der Umgang mit dem PC noch vor zehn Jahren auf eine akademische Minderheit beschränkt, gehören Computer heute zum Alltagsmobiliar. Kein Wunder also, dass Digitalia auch auf Gutenberg abstrahlt – zeichnet sich doch in der jüngeren Printliteratur der Versuch ab, die Welt der neuen Medien zum Gegenstand des Erzählens zu machen. Dietrich Scholler zeigt in seinem Beitrag "Digitale Rückkopplung: zur Darstellung der neuen Medien in Giuseppe Calicetis 'Tagebuchcollage' Pubblico/Privato 0.1, mit einem methodischen Vorspann zu Problemen der Intermedialität", dass diese topische Erweiterung erzählter Welten darüber hinaus auch angestammte Erzählverfahren konditioniert. Das Intermedialitätsparadigma muss also entsprechend erweitert, mithin durch die neuen Medienformate ergänzt werden. Mit der tippend beschleunigten Echtzeitkommunikation im Chat, in Weblogs oder auch im E-Mail-Verkehr ist eine neue, digital induzierte Form der Literalität entstanden, die zwischen konzeptueller Mündlichkeit und Schriftlichkeit schwankt und – medial rückwärts resp. seitwärts gewandt – im Druck fremdartige ästhetische Rückkopplungseffekte auslösen kann.


3 Praxis

Das Internet ist auch in der Romanistik ein zunehmend selbstverständliches Arbeitsmittel geworden, wie eine steigende Zahl wissenschaftlicher Internet-Ressourcen – Online-Publikationen, Portale, elektronische Editionen, Sprachdatenbanken, wissenschaftliche Hypertexte und vieles mehr – beweisen. Fünf Beiträge des vorliegenden Bandes beschäftigen sich mit diesem Praxis-Aspekt.




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Wenn die Bewahrung des kulturellen Erbes eine der zentralen Aufgaben der Geisteswissenschaften darstellt, dann erfordert dies innerhalb der Philologien auch eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen elektronischer Editionen. Die Beiträge von Sara Alloatti Boller einerseits ("L'esperienza del Decameron Ipertestuale: alcune riflessioni sui pregi e i difetti dell'edizione elettronica") sowie von Claude Bourqui, Alexandre Gefen und Barbara Selmeci andererseits ("Nouveau support, destin nouveau? Le Grand Cyrus (1649–1653) de Madeleine de Scudéry en ligne") leisten dies am Beispiel zweier konkreter Editionsprojekte: dem "Decameron Ipertestuale" und dem Projekt "artamene.org". Beide Beiträge beschreiben dabei nicht nur die verschiedenen technischen Aspekte (Textgestalt, Codierung, Navigationsstruktur), sondern nehmen diese konkreten Projekte zugleich zum Anlass für eine Reflexion über die Hypertextualität elektronischer Editionen generell. Eine solche Reflexion dreht sich letztlich um die Frage, ob die "medientechnische Revolution des Computers" den "Einstieg in ein neues Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit" bedeutet (Grésillon 1998: 267). In diesem Sinne würde die Erstellung einer elektronischen Edition nicht nur Informationen von einem Medium ins andere transportieren, sondern, wie Bourqui, Gefen und Selmeci es formuliert haben, eine "fonction en quelque sorte herméneutique" besitzen. Das Projekt "artamene.org" mache in diesem Sinne nicht nur einen Text zugänglich, der im Druckmedium kaum verfügbar sei; es ermögliche zugleich eine Annäherung an die ursprüngliche Rezeptionsform der "lecture sociale", die dem Text im Medium Buch verloren gegangen sei. Alloatti hebt für den "Decameron Ipertestuale" hervor, dass die durch die Hypertextualität entstehende "Meinungspolyphonie" einen deutlichen Informationsmehrwert gegenüber der klassischen Buch-Edition bietet und dass diese Hypertextualität darüber hinaus auch die vielfachen Bezüge und Korrespondenzen der Novellen des Decameron untereinander abbilden kann.

Der Beitrag von Chiara Rolla ("Perspectives narratives au féminin sur la Toile: Amélie Nothomb et Marie Darrieussecq") beschäftigt sich mit der Frage, welche neuen Informationsquellen das Internet dem Wissenschaftler bietet, der sich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt. Am Beispiel zweier Autorinnen wird dabei einerseits der zentrale Vorteil sichtbar, der in der Schnelligkeit des Mediums Internet liegt. Während dem Literaturwissenschaftler sonst kaum kritische Literatur zur Gegenwartsliteratur zur Verfügung steht, sind nun im Internet auch Dokumente zum "extrême contemporain" vorhanden. Andererseits aber wird bei den von Rolla untersuchten Webseiten deutlich, dass hier eine Form der Dokumentation entstanden ist, deren Autorschaft häufig unklar ist und so die Frage aufwirft, ob diese neuen Informationsquellen nicht auch eine spezifische Form der Leserlenkung darstellen.

In ähnlicher Weise lotet der Beitrag von Lars Schneider ("Geisteswissenschaften im Internet – ein Werkstattbericht aus dem historicum.net") die Chancen und Potenziale geisteswissenschaftlicher Projekte im Internet aus. Er macht dabei am konkreten Beispiel des Portals "historicum.net" verschiedene Aspekte deutlich, die für das Thema "Geisteswissenschaften im Internet" in der gegenwärtigen Phase des Medienumbruchs wohl repräsentativ sind. Neben dem Status von Online-Zeitschriften auf der "Schnittstelle zwischen alten und neuen Medien" und der adäquaten Aufbereitung von Materialien für eine Netzpublikation diskutiert Schneider dabei insbesondere die Frage, wie bestehende Internet-Angebote mittel- und langfristig fortgeführt werden können. Internet-Angebote wie das "historicum.net" erfordern eine kontinuierliche Pflege der Daten, für die es im akademischen Bereich bislang kaum institutionelle Strukturen gibt. Die Strategien im Rahmen des "historicum.net" (die Anbindung an traditionelle Institutionen sowie die "Arbeit im Netzwerk") halten in dieser Hinsicht wohl auch für andere Projekte Lösungsansätze bereit.




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Dem Fragekomplex der elektronischen Publikation widmet sich auch der abschließende Beitrag von Thomas Stöber ("Das Internet als Medium geistes- und kulturwissenschaftlicher Publikation. Pragmatische und epistemologische Fragestellungen"). Ausgehend von der im Titel benannten Unterscheidung geht es hier zunächst um die grundlegenden Vorteile elektronischer Publikationen, um die nicht weniger grundlegenden Probleme, die durch diesen Medienwechsel entstehen, sowie um aktuelle Lösungsansätze. Komplementär zu einem solchen Ansatz, der die digitalen Medien als pragmatische Optimierungsmittel für den (geistes-) wissenschaftlichen Diskurs versteht, wird anschließend am Beispiel zweier romanistischer Publikationen die Frage diskutiert, ob dieser Diskurs nicht umgekehrt auch durch die neuen Medien beeinflusst werden könnte – in Richtung einer neuen Form der Wissensrepräsentation.

* * *

Der vorliegende Sammelband ist aus der Arbeit der Sektion "Internet und Hypermedien in der Romanistik: Theorie – Ästhetik – Praxis" auf dem XXVIII. Romanistentag 2003 in Kiel hervorgegangen. Zusätzlich in diese Publikation aufgenommen wurden die Beiträge von Chiara Rolla und Harald Saller, die in Kiel leider nicht mit dabei sein konnten. Der Dank der Herausgeber geht an dieser Stelle an die Sektionsteilnehmer und die Beiträger, die bei den ergiebigen Diskussionen in Kiel und durch ihre Artikel ein differenziertes Panorama der oben skizzierten Fragestellung möglich gemacht haben, an die Zentraleinrichtung Datenverarbeitung der FU Berlin sowie das Leibniz-Rechenzentrum in München, die das Hosting der Internetpräsenzen übernommen haben, an das Herausgeberkollegium von PhiN. Philologie im Netz, das die Publikation dieses Bandes in ihrer Beiheftreihe ermöglicht hat, sowie an Marcello Andolfatto für technischen Support in Kiel und nicht zuletzt an Peter Schneck und Paul Gévaudan für editorische und technische Hilfe.9


Jörg Dünne / Dietrich Scholler / Thomas Stöber


München, im Mai 2004


Bibliographie

Aarseth, Espen J. (1997): Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

Block, Friedrich u.a. (Hg.) (2001): pOes1s: Ästhetik digitaler Literatur. Special Issue der Zeitschrift Kodikas / Code 24.3/4. Tübingen: Narr.

Bolz, Norbert (1994): "Computer als Medium – Einleitung", in: Ders. / Friedrich Kittler / Georg Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium. München: Fink, 9–16.




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Breidbach, Olaf / Clausberg, Karl (Hg.) (1999): Video ergo sum. Repräsentation nach innen und nach außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften. Hamburg: Hans-Bredow-Institut.

Certeau, Michel de (1990): L’invention du quotidien 1: Arts de faire. 2. Auflage. Paris: Gallimard.

Dahmen, Wolfgang / Holtus, Günter / Kramer, Johannes / Metzeltin, Michael / Schweickard, Wolfgang / Winkelmann, Otto (Hg.) (2004): Romanistik und neue Medien. Romanistisches Kolloquium XVI. Tübingen: Narr.

Flusser, Vilém (1985): Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photography.

Gelz, Andreas (Hg.) (2004): Internet und Literatur in Frankreich. Schwerpunktnummer der Zeitschrift Lendemains (erscheint im Sommer 2004).

Grésillon, Almuth (1998): "Literarische Handschriften im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Von der Mimesis zur Simulation", in: Andreas Kablitz / Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg: Rombach, 255–275.

Heibach, Christiane (2000): Literatur im Internet: Theorie und Praxis einer kooperativen Ästhetik. Berlin: dissertation.de.

Kittler, Friedrich (1986): Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann und Bose.

Kittler, Friedrich (1993): Draculas Vermächtnis: Technische Schriften. Leipzig: Reclam.

Klepper, Martin / Mayer, Ruth / Schneck, Ernst-Peter (Hg.) (1996): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin: de Gruyter.

Landow, George P. (1997): Hypertext 2.0. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

Maresch, Rudolf / Rötzer, Florian (2001): "Cyberhypes", in: Dies. (Hg.): Cyberhypes. Möglichkeiten und Grenzen des Internet. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–26.

Münker, Stefan / Roesler, Alexander (2002): "Vorwort", in: Dies. (Hg.): Praxis Internet. Kulturtechniken der vernetzten Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–10.

Münker, Stefan / Roesler, Alexander (Hg.) (1997): Mythos Internet. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Porombka, Stephan (2001): Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos. München: Fink.

Querelles-Net 8 (2002): Literatur im Netz. [http://querelles-net.de/forum/forum8-1.htm, 18. 5. 2004]




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Scholler, Dietrich (2003): "Einschiffung nach Cyberia: Neuigkeiten aus der Tiefe des digitalen Raums", in: PhiN. Philologie im Netz 24, 89–109. [http://www.fu-berlin.de/phin/phin24/p24t9.htm, 19. 5. 2004]

Simanowski, Roberto (2001): Literatur.digital: Formen und Wege einer neuen Literatur. München: dtv.

Simanowski, Roberto (2002): Interfictions. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Stanitzek, Georg / Voßkamp, Wilhelm (Hg.) (2001): Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. Köln: DuMont.

Suter, Beat / Böhler, Michael (Hg.): Hyperfiction: Hyperliterarisches Lesebuch: Internet und Literatur. Frankfurt am Main: Stroemfeld.

Text+Kritik 152 (2001): Digitale Literatur. München: Boorberg.

Tholen, Georg Christoph (2002): Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Turkle, Sherry (1986): Die Wunschmaschine. Der Computer als zweites Ich. Reinbek: Rowohlt.

Winkler, Hartmut (1997): Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. München: Boer.


Anmerkungen

1 So z.B. Bolz (1994: 10f.).

2 Die amerikanische Soziologin Turkle hat den Computer als eine "Wunschmaschine" bezeichnet, weil er – im Unterschied zu andere Medien – programmierbar ist, d.h. zur Realisierung unterschiedlichster Entwürfe genutzt werden kann (Turkle 1986: 10–12).

3 Vgl. Münker / Roesler (1997) und Porombka (2001: 97).

4 Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Literatur- und Kulturwissenschaft. Zu den linguistischen Aspekten vgl. Dahmen u.a. (2004).

5 Die Reduktion von Literatur auf ein Ausbuchstabieren medientechnischer Vorgaben ist – bei allen unbestreitbaren mediengeschichtlichen Impulsen, die von ihr ausgegangen sind – ein blinder Fleck der Medienwissenschaft im Fahrwasser Friedrich Kittlers. Vgl. stellvertretend Kittler (1993).

6 Vgl. http://www.computerphilologie.uni-muenchen.de/.

7 Vgl. http://www.aec.at.

8 Immerhin ist für den Sommer diesen Jahres eine Schwerpunktnummer der Zeitschrift Lendemains angekündigt, die dem digitalen Feld in der Frankophonie gewidmet sein wird (vgl. Gelz 2004).

9 Es ist geplant, diesen Band auch in Druckform in der Reihe "Romanice" des Weidler-Verlags zu publizieren.