Joachim Wink (Grenoble) Leopardis dichterische Sublimierung der ersten Liebe Based on Giacomo Leopardi's diary from december 1817 and some of his letters to Giordani written in the same year, this article shows how the nineteen years old Leopardi managed to overcome his deep crisis by taking comfort in the hope of gloria. Das Jahr 1817 ist aus biographischer Sicht besonders wichtig für die dichterische Entwicklung Leopardis: Beginn der Korrespondenz mit Pietro Giordani im März, extreme Verschlechterung seines Gesundheitszustands und Beginn der Arbeit am Zibaldone im Sommer, Lektüre der Vita Alfieris im Herbst, Erlebnis der "ersten Liebe" und in direkter Antwort darauf die Niederschrift des Diario del primo amore und eines seiner ersten Canti (Il primo amore) im Dezember. 1 Der Diario und die Briefe an Giordani bezeugen, daß es sich vor allem um ein Jahr der Krise handelt: Der neunzehnjährige Leopardi wendet sich ab vom Studium der klassischen Philologie und bemüht sich (in der Ahnung eines frühen Todes und in der Hoffnung auf dauerhafteren Ruhm?) um eine dichterisch-produktive Neuorientierung, ist zunehmend entschlossen, aus dem Gelehrtendasein herauszutreten und sich mit eigenen dichterischen Produktionen zu versuchen. Im Brief an Giordani vom 30. April bemerkt Leopardi, daß philologische Gelehrsamkeit keinesfalls unabdingbare und alleinige Voraussetzung für das Schreiben von Versen sei:
Der Grad der Gelehrsamkeit stehe also nicht in direkter Beziehung zum dichterisch-kreativen Vermögen. Daß Leopardi sich in seinem bisherigen Streben irregeleitet fühlt und nun entschlossen ist, ganz seiner Berufung zu den "lettere belle" zu folgen, wird in einem weiteren Brief vom 30. Mai deutlich:
PhiN-Beiheft 1/1998: 65 Nicht nur für Leopardi und seine Zeit typisch ist die hier in Parenthese geäußerte Meinung, das angestrengte Brüten über den "cose erudite" würde die Gesundheit ruinieren. Leopardi scheint von diesem auch heute noch anzutreffenden Klischee, das ihm offenbar nicht nur von den Ärzten, sondern auch von Giordani suggeriert wurde, überzeugt zu sein.2 Die im Brief an Giordani vom 2. August bezeugte Abstinenz vom "Studieren", "Schreiben" und "Lesen" wird als Tribut betrachtet, den man der Gesundheit (oder Krankheit) wohl oder übel zahlen müsse. Leopardi, der Giordani mehrfach seines "Gehorsams" versichert, billigt dem Brieffreund (ohne Scherz?) quasi die Autorität eines behandelnden Arztes zu:
Natürlich klingt es unwahrscheinlich, daß Leopardi auf seine tägliche "geregelte Lektüre der Klassiker der drei Sprachen in Bänden kleinen Formats, die sich bequem in der Hand halten lassen"3 verzichtet haben soll. Jedenfalls kann auch die zunehmende Orientierung auf ein dichterisches Schaffen auf intensive Lektüre nicht verzichten, und im Brief an Giordani vom 26. September sieht Leopardi nach wie vor im "studio" eine der beiden entscheidenden Kräfte, die ihn in seinem Streben nach Ruhm vorwärtsbringen. Die andere Kraft jedoch ist der "ingegno":
PhiN-Beiheft 1/1998: 66 Leopardi möchte mit dem "mondo ordinario", der administrativen adeligen Elite des Kirchenstaats, nichts zu tun haben, möchte weder kirchlicher Würdenträger werden ("Dio mi scampi dalle prelature"), noch den Beruf des Rechtsgelehrten ergreifen ("Dio mi scampi da Giustiniano e dal Digesto").4 Er schließt (nicht ohne herablassende Geringschätzung) die gängigen Zukunftsperspektiven des restaurativen Adels für sich aus ("non voglio né titoli, né onori, né cariche"), um sich ganz dem "studio" und dem "ingegno" widmen zu können, den einzigen Kräften, die zu echtem und dauerhaftem Ruhm verhelfen ("ma io voglio alzarmi e farmi grande ed eterno coll'ingegno e collo studio"). Karriere, Titel, Ehre und Ansehen seien also Dinge, die man sich zwar (käuflich) erwerben könne, die aber den echten Ruhm, den, der auf die Nachwelt fallen wird, kategorisch ausschließen. Leopardi begründet dies durch die "Mittelmäßigkeit" der gewöhnlichen Gesellschaft. Würde er in ihr leben und als Teil von ihr zu Ansehen und Ehre gelangen, so würde sein Ruhm keinen Bestand haben, und dem Tod wäre mit Schrecken entgegenzusehen ("certo che non voglio vivere tra la turba; la mediocrità mi fa una paura mortale"). Vor die Alternative gestellt, zu Lebzeiten Ehre und Ansehen zu genießen, nach dem Tod aber der Vergessenheit anheimzufallen, oder aber ein Leben des Verzichts und der Entbehrung auf sich zu nehmen ("quest'eremo che ora aborro"), um schließlich (vielleicht!) Unsterblichkeit zu erlangen, entscheidet sich Leopardi für letztere Option. Die Kräfte aber, dauerhaften literarischen Ruhm zu erlangen, sind "ingegno" und "studio", die sich gegenseitig ergänzen, also konformistisches Gelehrtentum ebenso ausschließend wie voraussetzungslosen Dilettantismus. Das auf "studio" und "ingegno" gegründete Ruhmstreben ("amor della gloria") wird also von Leopardi, ganz seiner eremitischen Lebensweise und seiner durch chronische Krankheit tendenziell thanatophobischen Gemütsorientierung entsprechend, zum ethischen Leitgedanken erhoben. Im Brief an Giordani vom 21. November, nur wenige Wochen vor dem einschneidenden Erlebnis des "primo amore", resümiert Leopardi diesen ethischen Leitgedanken folgendermaßen:
Auf der einen Seite also der "wahre Ruhm", der auf die Nachwelt fallen wird, da nur "ganz wenige" Individuen im Stande sind, das Große und Dauerhafte menschlicher Taten und Schöpfungen im Moment ihrer Entstehung richtig einzuschätzen, auf der anderen Seite das "unverdiente" oder "geheuchelte Lob" der inkompetenten oder interessierten "moltitudine". Wer zu Lebzeiten von den meisten gelobt wird, wird von der Nachwelt vergessen werden, und wer zu Lebzeiten von den meisten vergessen bleibt, wird in der Nachwelt vielleicht zu Ruhm gelangen. PhiN-Beiheft 1/1998: 67 Hinter diesen Gedanken, die sowohl einen disdegno gegenüber der "moltitudine", als auch eine brama di gloria ausdrücken, läßt sich leicht der Einfluß Alfieris vermuten.5 Bereits im hier zitierten Brief vom 26. September verwendet Leopardi Ausdrücke, die stark an Alfieri erinnern, so etwa "Dio mi scampi dalle prelature" und "Dio mi scampi da Giustiniano e dal Digesto che non potrei digerire in eterno". Die These eines starken Einflusses Alfieris auf den jungen Leopardi von etwa Ende September an gewinnt ihre volle Evidenz durch die Tatsache, daß in der Nacht zum 27. November (also fünf Tage nach Abfassung der Gedanken zur gloria im Brief an Giordani) das Sonett Letta la vita dell'Alfieri scritta da esso entstanden ist. (S. 319 f.) Dieses nach Leopardis Angaben "erste" Sonett verherrlicht die gloria Alfieris ("[...] ma ti rimbomba / Fama che cresce e un dì fia detta antica"), der er die düstere Ahnung seines baldigen Todes und der Vergeblichkeit des eigenen Strebens nach Ruhm entgegensetzt ("Starommi ignoto e non avrò chi dica / A piangere i'verrò su la tua tomba"). Es scheint, daß Leopardi von Alfieris unbedingtem Willen, zu dichterischem Ruhm zu gelangen, tief beeindruckt gewesen sein muß, anders als der heutige Leser, der hier den Eindruck der Exzentrität oder Spleenigkeit nicht ganz loswird (man denke an den typischen Alfieri, wie er sich selbst in der Vita darstellt, nämlich ein halbes Leben lang immer wieder an einem Dutzend Tragödien feilend, den Druck immer neuer und verbesserter Auflagen persönlich überwachend und aus eigener Tasche finanzierend und böse auf die Revolution und andere Störfaktoren, die die Vollendung dieses von einem zeitgenössischen Leserpublikum fast vollkommen abstrahierenden und allein dem persönlichen Nachruhm dienenden ehrgeizigen Unternehmens gefährden). Aber das bei Alfieri mitunter spleenig Erscheinende, nämlich die extreme Geringschätzung des eigenen Zeitalters und die übertrieben ehrgeizige Fixierung auf die Nachwelt, gewinnt bei Leopardi einen tragischen Hintergrund: Wenn er tatsächlich dachte, bald sterben zu müssen, was für ein anderer Trost blieb ihm da noch, als die Hoffnung auf gloria, als auf all das, an dessen Erfahrung ihn Jugend, Krankheit und schließlich Tod gehindert haben würden, mit Geringschätzung herabzublicken? "A voi succede quello che succederà a me se mai vedrò il mondo; di averlo a noia", heißt es im bereits zitierten Brief an Giordani vom 26. September, und man könnte nicht nur glauben, auch hier wieder den Einfluß Alfieris herauszuhören, sondern auch, daß Leopardi diese Worte im Grunde an Alfieri (und nicht an Giordani) richtet. Erscheint also der disdegno del mondo Alfieris bisweilen unmotiviert-cholerisch, so wird er bei Leopardi, dem "misero quadrilustre", zum psychologisch notwendigen Mittel der Bewältigung des eigenen elenden Zustands, zur Kehrseite einer den Ruhm exaltierenden Kompensation. Das Erlebnis der "ersten Liebe" bleibt in den Briefen an Giordani so gut wie unbeachtet, und es besteht kein Zweifel, daß Leopardi aus bestimmten Gründen dieses Thema gegenüber dem vierundzwanzig Jahre älteren Giordani meiden wollte. Im Brief vom 8. August, also noch Monate vor dem "primo amore", betont Leopardi, daß es keine Frau in seinem Leben gäbe, und daß die Freundschaft zu Giordani ihm alles bedeuten würde:
PhiN-Beiheft 1/1998: 68 Im Brief vom 29. August wiederholt Leopardi nochmals:
Die enthusiastische Versicherung der Freundschaft, die Giordani im Herzen Leopardis quasi die Stellung einer geliebten Frau einräumt, wird dem emotionalen Bekenntnis Leopardis zu seinem ersten großen Liebeserlebnis im Wege stehen, und es überrascht nicht, daß er im Brief vom 22. Dezember, genau dem Tag, an dem er definitiv den Diario del primo amore abschließt, sich in einer Andeutung genügt:
Das Versprechen, die "seelisch bedingte" Unlust am Studium und deren Überwindung dem Freund schriftlich mitzuteilen, bleibt, soweit ich sehe, uneingelöst.6 Interessant ist jedoch der Standpunkt, den hier Leopardi rückblickend einnimmt. Waren es bisher "körperliche Gründe", die die Lust am Studium einschränkten, so sind es nun zum ersten Mal "seelische Gründe". Dabei verschweigt Leopardi, daß die aus "seelischen Gründen" verursachte Unlust am Studium auch ein positiver Zustand gewesen ist, der von einer anderen, neuen Lust genährt wurde: Der Lust an seiner dichterisch-produktiven Bewältigung. Der Diario gibt Auskunft über diese neuempfundene Lust und verdeutlicht, wie wichtig Leopardi den eben auch positiven Zustand genommen hat, in den ihn der "primo amore" versetzte. Er besteht aus einer Reihe von Betrachtungen, die Leopardi in fast täglicher Niederschrift über seinen seelischen Zustand anstellte. Die erste davon, am Tag der Abreise der von ihm geliebten Frau entstanden, enthält die Begründung, weshalb er diese Betrachtungen anstellt. Leopardi ist sich nämlich klar darüber, daß er eine wichtige Erfahrung durchlebt, auf die er schon lange gewartet hat, und die es genau zu untersuchen und aufzuschreiben gilt:
PhiN-Beiheft 1/1998: 69 Leopardi möchte also durch eine möglichst genaue Selbstbeobachtung erreichen, daß es ihm später immer wieder möglich sein wird, das Erlebnis der ersten Liebe anhand dieser Aufzeichnungen zu überdenken, offenbar im vollen Bewußtsein, daß es sich um eine entscheidende Station seines Lebens und seiner dichterisch-produktiven Neuorientierung handelt. Dieses Vorhaben ist, wie der Textstelle weiter zu entnehmen, nach dem mißglückten Versuch, die als heftige Krise empfundene Liebessehnsucht7 in "Versen" zu bewältigen, gefaßt worden. Die "Verse" werden erst in einem zweiten Anlauf gelingen, und am 16. Dezember heißt es in der Fortsetzung des Diario nach zweitägiger Pause gleich zu Anfang:
Mit Vollendung der Elegia I, um die es sich hier vermutlich handelt, ist Leopardi die Bewältigung der Liebessehnsucht geglückt. Noch während er an ihren Versen dichtet, stellt er fest, daß das (innerlich vorgestellte) "Bildnis" der "Signora", das über alle seine Gedanken geherrscht hat, allmählich verblaßt:
Leopardi nennt als Grund für dieses Verblassen zum einen die allesheilende Kraft der Zeit ("la forza del tempo"), zum anderen aber seine Besessenheit ("avidità"), mit der er die Verse komponiert habe. Durch ständiges Wachhalten und Evozieren seiner Affekte, die sich alle an jenem Bildnis entflammten, habe er sein Herz ausgebeutet ("sfruttatomi il cuore"). Außerdem spricht er davon, daß ihn der Erfolg seines dichterischen Bewältigungsversuches mit einer anderen großen Passion "wiederversöhnt" habe, die er bereits durch die bedrückende Inanspruchnahme all seiner Gedanken durch das übermächtige Bildnis verloren geglaubt hatte: dem Ruhm. Tatsächlich lassen sich im Diario drei große Passionen im Denken Leopardis ausmachen: "studio", "gloria" und "amore sentimentale" bzw. "amore tenero". 8 Sein Erlebnis der ersten Liebe bewirkt im Prinzip die Substitution der ersten beiden Passionen durch die neu hinzukommende letztere. Bereits in seiner ersten Betrachtung vom 14. Dezember schreibt Leopardi, daß "jene Gedanken" (gemeint sind die, die sich am Bildnis der "Signora" entflammen und die "amore sentimentale" konstituieren) ihm sein bisheriges Streben nach "studio" und "gloria" verleidet hätten:
In der Niederschrift vom 17. Dezember heißt es dann:
PhiN-Beiheft 1/1998: 70 Dieser Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber dem "studio" und partieller Gleichgültigkeit gegenüber der "gloria" wird von Leopardi als bedenklich gewertet, und er würde gern zu den alten Passionen zurückkehren. Am Ende der Betrachtung vom 19. Dezember wird er sich jedoch bewußt, daß es keine Rückkehr mehr zu der einzigen Leidenschaft des Studiums geben kann, und daß der "amore sentimentale" ihn von nun an ständig begleiten wird:
Der neuentdeckte "amore sentimentale" und der alte "amore allo studio" stehen sich also antagonistisch gegenüber, während die "gloria" eine Sonderstellung einnimmt. In der bereits zitierten Textstelle vom 14. Dezember sagt Leopardi, daß die neue Passion es "fast, aber nicht ganz" ("quasi benché forse non del tutto") geschafft hätte, ihm auch das alte Streben nach Ruhm zu verleiden. In Verbindung mit einer bereits erwähnten anderen Aussage, nämlich daß ihn das Dichten der Verse "mit der gloria wiederversöhnt" habe (16. Dezember), ergibt sich eine vollkommen neue Einsicht:
Zwar hat Leopardi vollkommen die Lust am Studium verloren, nicht aber ganz die Hoffnung auf Ruhm. Jene letztere ist so stark, daß sie selbst von dem alle Gedanken beherrschenden "amore sentimentale" nicht vollkommen getilgt werden kann und quasi zum Rettungsanker wird: Leopardi kompensiert den übermächtigen Einfluß des "amore sentimentale", der ihn zu ersticken droht, indem er ihn, vom Streben nach Ruhm angespornt, schöpferisch-produktiv bewältigt. Dieses positive Verhältnis zwischen "gloria" und "amore sentimentale", das das alte Verhältnis "gloria" und "amore allo studio" zu ersetzen scheint, wird jedoch an anderer Stelle wieder vollkommen in Abrede gestellt:
PhiN-Beiheft 1/1998: 71 So stehen sich im Diario zwei verschiedene Darstellungen des "primo amore" gegenüber: Einmal die der erdrückenden Allmacht des "amore sentimentale", der den Gedanken der "gloria" und einer Instrumentalisierung durch diese ausschließt, zum anderen die des "amore sentimentale" als eines dichterisch-produktiv zu bewältigenden Zustands, der sich – genau wie zuvor der "amore allo studio" – in den Dienst der "gloria" stellt. Der Gedanke, daß der Ruhm durch die dichterisch-produktive Bewältigung des "amore sentimentale" zu erlangen sei, taucht, wie bereits gesehen, unmittelbar nach der Vollendung der Elegia I auf: Das Dichten, schreibt Leopardi am gleichen Tag, habe ihn "mit dem Ruhm wiederversöhnt". Und in seinem den Diario abschließenden Resümee erkennt Leopardi den "amore sentimentale" als ein neuerschlossenes wertvolles Potential, das sein weiteres Denken und Fühlen bestimmen wird:
Leopardi schreibt also, er habe Freude empfunden, daß er "einen jener Affekte" gefühlt habe, ohne die ein Mensch nicht zu wahrer Größe gelangen könne. Außerdem habe er sich gefreut zu entdecken, daß sein Herz "überaus weich und empfindsam" sei, was Voraussetzung dafür sei, überhaupt irgendwann einmal etwas schreiben zu können, an dem das Gedächtnis haftenbleiben wird – Voraussetzung also für die Erlangung des Ruhms. Anmerkungen |