Caravaggio (Caravaggio 1571 - Porto Ercole 1610)
Der Evangelist Matthäus mit dem Engel

Inv. Nr. 365

Caravaggios 1602 entstandenes Gemälde des Evangelisten Matthäus mit dem Engel war ursprünglich für den Hauptaltar der Cappella Contarelli in San Luigi dei Francesi in Rom bestimmt. Im Gegensatz zu seinen kurz zuvor um 1599-1600 ausgeführten Seitenbildern für dieselbe Kapelle mit der Berufung und dem Martyrium des Heiligen wurde dieses Altarwerk jedoch von der Kongregation mit der Begründung abgelehnt, daß der Evangelist nicht seiner Würde angemessen dargestellt wäre und somit den im Konzil von Trient vereinbarten Kriterien widerspräche. Anstößig wurde vor allem empfunden, daß Caravaggio den Heiligen als einen des Schreibens nicht mächtigen Bauern darstelle. Tatsächlich verlangte die überlieferte Tradition einen Evangelisten, der durch die göttliche Eingebung den Text niederschrieb und nicht einen, dessen Hand bei der Formulierung des Evangeliums vom Engel geführt werden müsse. Nicht göttliche Erkenntnis spiegelt sein Antlitz, sondern starre Ungläubigkeit über die von ihm geschriebenen Zeilen. Gleichermaßen störend empfand man die nackten, dreckigen Füße des Evangelisten, die, bei Anbringung des Bildes über der Mensa, mit ihrer plastischen, der Leinwand durchbrechenden Wirkung, dem vor dem Altar die Messe zelebrierenden Priester direkt vor dem Gesicht geschwebt hätten. Obgleich das Bild abgelehnt wurde - der parteiische Vitenschreiber Baglione berichtet sogar, daß niemand das Bild mochte - besticht es nicht allein durch seinen malerische Qualität und seiner realistischen Darstellungsweise mit den dramaturgisch eingesetzten Hell-Dunkel-Effekten, sondern auch, daß hier Matthäus das Evangelium auf hebräisch schreibt, so wie es die Quellen bezeugen. In diesem Detail folgte Caravaggio den tridentinischen Beschlüssen, die eine historisch getreue Darstellung forderten. Diese Qualitäten mußte auch der Marchese Vincenzo Giustiniani erkannt haben. Er kaufte das Bild der Kongregation mit der Bedingung ab, daß Caravaggio die Gelegenheit bekommt, eine zweite Fassung zu fertigen. Während das aus der Sammlung Giustiniani stammende Berliner Bild seit dem letzten Krieg verschollen ist, hängt Caravaggios zweite Version desselben Themas noch heute über dem Altar der Cappella Contarelli.

Hans-Ulrich Kessler