Michelangelo Merisi da Caravaggio (Caravaggio od. Mailand 1571 - Porto
Ercole 1610)
Amor als Sieger
1601/02 Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie;
Kat. Nr. 369, Abb. Nr. 2499.
Der jugendliche Gott der irdischen Liebe (Amor terreno) triumphiert als lächelnder
Sieger, gemäß den Worten Vergils (Eclogae 10,69) "Omnia vincit amor"
(die Liebe besiegt alles), über Wissenschaft, Kunst, Macht und Ruhm. Die
Instrumente und Symbole der "freien Künste", der Lorbeer des unsterblichen,
vor allem literarischen Ruhms und die Rüstung, Zeichen der Kriegskunst
und des Kriegsruhms, liegen verstreut zu seinen Füßen, als "Trophäen",
als Siegesbeute (so Caravaggios Biograph Bellori 1672): links ein Notenheft
und zwei Saiteninstrumente, eine Violine (kurz zuvor in Cremona erfunden) und
eine Laute, davor Winkel und Zirkel, die Instrumente der Geometrie. Hinter dem
rechten Bein Amors, halb verdeckt vom Lorbeer, ein geöffnetes, dicht beschriebenes
Manuskript und eine Rohrfeder; rechts am Rande, hinter Amors linkem, abgespreiztem
Bein, Krone und Zepter als Zeichen irdischer Herrschaft und Macht. Amor scheint
auf einem blauen, sternbesetzten Globus zu sitzen, d. h. über die ganze
Welt zu triumphieren: gleichzeitig verweist die Himmelskugel auf die Kunst der
Astronomie. Sie scheint allerdings zum Schluß vom Maler eingefügt
zu sein. Der Knabe sitzt nicht wirklich auf dem flachen Rund des Globus, sondern
auf einer Kante, über welche rechts die Draperie herabfällt und auf
die Amor sein linkes Bein legt. Wie das Röntgenbild zeigt, war die Kante
ursprünglich links über die Körperkontur hinaus weitergeführt,
wurde dann aber vom Maler getilgt, übermalt und als Sitzmotiv durch den
Globus ersetzt.
Die spielerisch labile, aufreizend zudringliche Pose eine Travestie
von Michelangelos "Sieger" (Florenz, Palazzo Vecchio) und das zweideutig
spöttische Lächeln des Jünglings, den Caravaggio nach einem Modell
aus dem Volk malte, unterstreichen die verbreitetste, schon im Giustiniani-Inventar
(1638) anklingende, vor allem von Friedlaender (1955) ausgeführte Deutung,
daß der irdische Amor die höchsten moralischen und intellektuellen
Werte des Menschen und Ziele seines Ehrgeizes verspotte. Neuerdings hat man
die latent homoerotischen Züge in diesem und in anderen, verwandten, früheren
Werken Caravaggios betont (Posner 1971). Caravaggios Bildidee, die in ihrem
spezifischen Naturalismus ohne Vorläufer ist, fand unmittelbar ein literarisches
Echo und zahlreiche Nachahmungen durch römische, florentinische und bolognesische
Maler, deren Darstellungen z. T. schon in zeitgenössischen Quellen als
"Genius der Künste" bezeichnet werden.
So wurde auch Caravaggios "Amor" neuerdings z. T. positiv als Genius, Inspirator
und Beschützer der Künste aufgefaßt und sogar mit dem Auftraggeber,
dem Marchese Giustiniani, gleichgesetzt (Enggass 1967). Für ihn malte Caravaggio
das Bild 1602, gleichzeitig mit den beiden stilistisch verwandten Altarbildfassungen
der Contarelli-Kapelle, deren erste, abgelehnte Fassung ebenfalls der Marchese
Giustiniani erwarb (ehemals Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum, 1945 verbrannt).
Der Marchese Vincenzo Giustiniani (1564-1637) und sein Bruder, der Kardinal
Benedetto Giustiniani (1544-1621), zählten zu den wichtigsten Mäzenen
Caravaggios in seinen mittleren und späteren römischen Jahren und
zu den fortschrittlichsten Kunstsammlern in Rom.
In Konkurrenz zu Caravaggios "Irdischem Amor" malte Giovanni Baglione einen
"Himmlischen Amor", den er dem Kardinal Giustiniani widmete. Das Bild gefiel
weniger und fand kaum ein künstlerisches Echo, spielte aber im Prozeß
Bagliones gegen Caravaggio (1603) eine Rolle (siehe Baglione, Kat. Nr. 381).
Der Maler und Biograph Joachim von Sandrart, der um 1635 für den Marchese
Giustiniani tätig war, hielt Caravaggios "Amor" für das bedeutendste
Bild der Sammlung und sorgte dafür, daß es von einem Vorhang bedeckt
wurde, damit es nicht alle anderen Bilder überstrahlte.
Bibliographischer Hinweis: (aus: Katalog der ausgestellten Gemälde des 13. - 18. Jahrhundert, Berlin
1975)
1602 Leinwand, 156 x 113 cm.
Erworben mit der Slg. Giustiniani, 1815.
W. Friedlaender, Caravaggio Studies, Princeton 1955, S. 91-94, 182-183; R. Enggass,
in: Palatino, 11, 1967, S. 13-20; D. Posner, in: The Art Quarterly, 34, 1971,
S. 314; M. Marini, Michelangelo da Caravaggio, Rom 1974, S. 395-97, Nr. 46.