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Zum zweiten Band der Edition „Die Reisetagebücher“ (1796-1799)

Der gesamte Text besteht aus 1131 (Tages-) Eintragungen; sie werden vollständig transkribiert. Der textkritische Kommentar ist abgeschlossen; die Kommentierung der Orte, der Personen und Sachen sowie die Aufstellung der Register sind in Arbeit.

Theodor von Schön: Die Tagebuchaufzeichnungen seiner Reisen durch Deutschland und Großbritannien

von Bernd Sösemann

Schön hatte die Reisen bewußt in der Absicht unternommen, sich vorrangig in politischer und staatswirtschaftlicher Hinsicht möglichst breit zu bilden – allein die damaligen kriegerischen Entwicklungen hinderten ihn daran, seine Reise auf Frankreich und die Schweiz auszudehnen. 1799 nach Preußen zurückgekehrt, empfand er in den ersten Jahren seiner Verwaltungstätigkeit den Kontrast zwischen dem Erstrebenswerten und den hemmenden Realitäten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft als besonders grell – sei es nun in seinem Amt als Kriegs- und Domänenrat in Bialystok (1799/1800), als Geheimer Finanzrat im Generaldirektorium in Berlin (1802-06) oder als Regierungs-präsident in Gumbinnen (1809-13).

Punktierstich Theodor von Schön

Für ihn änderte sich diese Situation erst dann in befriedigender Weise, als er 1816 das Oberpräsidium Westpreußen bzw. 1824 das der vereinigten Provinzen Ost- und Westpreußens übernahm. „Die Administration einer Provinz“, bemerkte er rückblickend, „giebt zwar wenig Einfluß auf die HauptGrundsätze einer StaatsRegierung, aber indem jede einzelne Provinz den richtigen Gesichtspunkt hält, wird die Masse der Einsicht so groß, daß das Gouvernement mitgezogen wird.“ Den Blick für das Sachgemäße und Zweckdienliche, den er auf seinen Reisen bewußt ausbildete, und die Fachkompetenz selbst in Details der Land- und Viehwirtschaft haben zu seinem großen Ansehen in der Provinz beigetragen. So erprobte er bei dem Chaussee-Bau im sandigen Gelände erfolgreich neue Verfahren oder klärte die Gutsherren seiner preußischen Provinz über die Vorteile einer veredelten Schafzucht auf. Theodor von Schöns politische Reformvorstellungen, seine Ansichten über die Rolle und die Aufgaben des Adels im preußischen Staat oder über die Mitwirkung des Bürgertums in einer konstitutionellen Monarchie haben ihre eher theoretische Formulierung auf seinen Reisen und ihre praktische Ausprägung in seiner Tätigkeit für Ost- und Westpreußen erfahren. Die Konflikte zwischen dem preußischen Provinziallandtag und den Berliner Ministerien waren dabei nahezu unausweichlich. Daraus folgte am Hof die politische Diffamierung Theodor von Schöns als „Jakobiner“, von dem man eine „Verwestlichung“ Ost- und Westpreußens befürchtete, die zu verstärkten liberalen Tendenzen in Preußen den Anstoß geben könnte. Doch hatte der ostpreußische Reformer bereits in seinen Reisetagebüchern von jeglicher blinden Nachahmung gewarnt, die die besonderen Verhältnisse der Heimat unberücksichtigt lasse.

Neben dem Aktenmaterial liegen von Theodor von Schön umfangreiche Korrespondenzen und Tagebücher vor. Diese Quellen vermitteln Geist und Ethos der Bürokratie und geben einen Eindruck von den vielfältigen Anregungen, die damals jungen Verwaltungsbeamten geboten wurden. Dazu ist bei Schön und Vincke in auffälliger Duplizität und in einem ungleich stärkeren Maß als bei dem Freiherrn vom Stein das sog. England-Erlebnis zu zählen.

Die Reisen führten Schön durch Mittel- und Norddeutschland sowie durch England und Südschottland. „In dem gewöhnlichen Leben“, er korrigierte sich sogleich: „In dem gewöhnlichen BeamtenGetriebe fand ich keine Ruhe, ich wollte meine Wissenschaft angewendet sehen u. die Länder mehr im Großen betrachten lernen. Mir kam der Gedanke, zu reisen [...].“ In einem Brief an Friedrich Leopold von Schroetter, Minister von Ost- und Westpreußen und Vizepräsident des Generaldirektoriums, erinnerte er deshalb an die vor dem Examen ausgesprochene Verheißung, daß er das in seinem Vaterland nur theoretisch Erlernte durch Reisen in andere Provinzen und Länder ergänzen dürfe. Die vorgesetzten Behörden erteilten den beantragten Urlaub, entwarfen die Reiserouten und machten auf wichtige Fabriken und Landwirtschaften aufmerksam; denn man habe zuerst zu studieren, Kenntnisse zu sammeln und dann zu reisen. Dabei betonte Schroetter wiederholt, daß die Absicht nur sein könne, „Ihre Kenntniße, in Hinsicht auf Oeconomie, auf LandesPolicey und auf Fabriquen und Manufacturen zu erweitern, um einst das, was auf Ihr Vaterland anwendbar ist, auch zum Nuzzen deßselben in Vorschlag zu bringen“. Schön habe sich, „vom Zustande der LandesCultur, sowohl in Ansehen der Erzeugung, Vervielfältigung und Vermehrung der Producte, als deren Veredlung so vollständig als möglich [zu] unterrichten“. Vorerst war nicht an eine starre zeitliche Begrenzung der Reise gedacht worden.

Karte mit der Reiseroute

Die Tagesaufzeichnungen belegen, wie ernst Schön diese Aufgaben nahm und wie weit er sich den thematischen Rahmen steckte. Die Spannweite seiner Interessen reicht von den Versuchen einer künstlichen Düngung und den Techniken einer Zuckergewinnung aus Rüben über die besonderen Formen und Bedingungen der Kant-Rezeption in der gehobenen Londoner Gesellschaft und die technischen Neuentwicklungen von Landmaschinen bis hin zu Fragen des Erbrechts und der Abgabeordnung im Halberstädtischen sowie der Prozeßführung am Court of King’s Bench in Westminster Hall, über die er distanziert-abwägend schreibt: „In the forenoon we were at the Court of Kings bench in Westminsterhall and heard there thecommon pleas. [...] My aversion against the English manner of pleading, in comparison to our Prussian manner, was here the more confirmed.“ Schön suchte mit seinem Tagebuch jeweils aktuell zu sein; Auszüge aus Akten, Statistiken und im geringeren Maß aus der Fachliteratur fügte er seinem Tagebuch bei. Wo es möglich war, nahm er an Sitzungen verschiedener Verwaltungsgremien teil.

Details zur äußeren Form des Reisens – seien es die halsbrecherischen Wege einschließlich der Achsenbrüche, die beutelschneiderischen Wirte oder die Mühen, rechtzeitig einen neuen Vorspann zu bekommen – werden eher beiläufig erwähnt. Auch die Notizen zu kulturellen und literarischen Besonderheiten in Berlin, Dresden oder London treten ebenso wenig wie Familiäres oder Privates in den Vordergrund. Sie verleihen dem Tagebuch nur ein bescheidenes Kolorit. Das Gesamtbild bestimmen der sachlich-nüchterne Schreibstil und vorwiegend nationalökonomische Thematik. Die wenigen Naturbeschreibungen sind – sieht man einmal von der Besteigung des Brockens ab – eher flüchtig, schematisch und verzichten nicht auf Stereotype.

Längere Zeit verweilte Schön in Liverpool, Manchester und Birmingham. Obwohl gerade die Boulton & Wattschen Produktionsstätten in Soho als Ziel vielfältiger Abwerbungs- und Spionageversuche besonders geschützt waren, ließ sich Schön selbst hiervon nicht abschrecken. Sogleich nach seiner Ankunft unternahm er einen Fußmarsch von Birmingham nach Soho. Mit Hilfe einer Empfehlung suchte er wenigstens einiges von der Dampfmaschinen- und Metallwarenproduktion zu sehen. Er konnte nur einen bescheidenen Erfolg buchen. Über die fortentwickelte „doppelt Bo[u]ltonsche FeuerMaschine“ erhielt er keine Auskunft, die Münzprägeanstalt und die Eisengießerei durfte er nicht besichtigen.

Schöns detaillierten Aufzeichnungen lassen sich einerseits Materialien zu Wirtschaft und Gewerbe sowie zu Form und Ablauf staatlicher Versuche entnehmen, durch Förderung gut vorbereiteter Reisen seiner Beamten dem Staat nützliche Informationen und Anregungen zu verschaffen. Andererseits erlauben die Reisejournale Schöns Rückschlüsse über die Verbreitung und die Wirksamkeit politischer und philosophischer Ideen sowie über die Häufigkeit und Stärke nationalpolitischer Stereotypen. Nicht zuletzt liefern sie der literaturwissenschaftlichen Forschung Material zur Diaristik und dürfen auch der „Apodemik“, der Forschung über die „Reisekunst“, nützlich sein.

Schöns Blick fiel aber in „verständiger Offenheit“ nicht allein auf das Merkwürdige, Neueste und Andersartige, sondern zumindest in ähnlicher Intensität auf das Alltägliche und Gewohnte der fremden Provinzen und Länder. Daraus lassen sich einige weiterführende Fragen ableiten. In welcher Form sind die gewonnenen technologischen, wirtschaftlichen, verfassungs- und sozialpolitischen Kenntnisse weitergegeben worden? Welchen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Effekt hatten sie? Welcher Stellenwert ist den Reisen Schöns im Vergleich mit den Bemühungen anderer Staatsbeamter, Kaufleute, Handwerker und Techniker zuzumessen, die ebenfalls als Beauftragte der preußischen Regierung, offiziös oder privat, in der Phase der Frühindustrialisierung nach England, Frankreich und Holland reisten? Von derartigen Reisen profitierten Besucher und Besuchte. In der Regel wurden Erfahrungen ausgetauscht, beider Kenntnisse erweitert und unter Umständen sogar Besuchswünsche und Weiterempfehlungen ausgesprochen. Die verabredete und oftmals praktizierte Korrespondenz konnte schließlich zu einer Kommunikation führen.

Vgl. hierzu auch Bernd Sösemann: Der ostpreußische Reformer Theodor von Schön zu Wirtschaft und Gesellschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Tagebuchaufzeichnungen seiner Reisen durch Deutschland und Großbritannien. In: Zeitschrift für Ostforschung, Länder und Völker im östlichen Mitteleuropa, 32. Jahrgang 1983, Heft 1, S. 20-72.

 
 
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