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Historische Dokumente im parteipolitischen Tageskampf

von Bernd Sösemann

Jede geschichtliche Darstellung trägt zur geistigen Selbstvergewisserung einer Generation bei. An diesem Prozeß sind die mündliche Überlieferung, Bilder und Filme, populäre Darstellungen, Sachbücher und wissenschaftliche Beiträge in unterschiedlichem Umfang beteiligt. Der Blick auf die Vergangenheit vermag über die Gegenwart aufzuklären und den Schritt in die Zukunft zu erleichtern.

Die moderne Geschichtswissenschaft hat ihr Ansehen nicht zuletzt dadurch errun­gen, daß sie die verschiedenartigen Quellen sachgerecht erschließt, ihre Entstehung und Überlieferung unvoreingenommen prüft und schließlich die Materialien systematisch und kritisch interpre­tiert. Dennoch traten wiederholt Fälle auf, in denen selbst Historiker der Versuchung unterlagen, ihre Forschungen aus bestimmten Motiven zu instrumentalisieren, sich also außerwissenschaftlichen Erwägungen zu öffnen. Der Möglichkeiten gibt es viele. Auf der Ebene der Quellen kommen tendenziöse Auswahlausgaben und unzulängliche Dokumentationen am häufigsten vor; die direkte Fälschung bildet die Ausnahme. Einige Beispiele sollen genügen.

Beispiele aus zwei Jahrhunderten

Mit der ersten großen Ausgabe der Briefwechsel, Denkschriften, Tagebücher und Aufzeichnungen des Freiherrn vom Stein beginne ich. Erich Botzenharts sieben Bände erschienen von 1931 bis 1937. Walther Hubatsch mußte sie nach 1945 durch eine völlig überarbeitete und großzügig erwei­terte Edition ersetzen. Nicht allein neue Quellenfunde veranlaßten die ungewöhnlich schnelle Revision eines Großprojekts, sondern Botzenharts allzu starkes Eingehen auf die Vorstellun­gen der nationalsozialistischen Machthaber. Während die Stein-Forschung inzwischen über eine weitaus zuverlässigere editionswissenschaftliche Grundlage verfügt, ist diese Ausgangslage für das nationalsozialistische System mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Ära der Diktatur und trotz eines fast ebenso lange bestehenden speziellen Forschungsinstituts in München bis heute noch nicht erreicht. Bis heute verhindern ein Schweizer Nationalsozialist bzw. seine Erben u.a. die Edition der Papiere von Hitler, Goebbels, Bormann, Göring oder Himmler. Die vorhandenen sog. Dokumentationen – z.B. die vielbändige, aber unkritische und unkommentierte Ausgabe der Tagesnotate und Diktate von Goebbels durch das Institut für Zeitgeschichte – halten einer quellenkritischen Überprüfung entweder nicht stand oder mußten mit Bearbeitungsauflagen und ohne erläuternde Kommentierung erscheinen.

In diktatorialen Systemen wie dem sowjetischen oder dem deutschen in der DDR traten Staat und Partei als Fälscher in parteipolitischer und ideologischer Absicht auf. Im großen Umfang unterschlug Stalin Texte, ließ Dokumente bearbeiten und photographische Dokumente überarbeiten, so daß alte Kampfgenossen wie Trotzki selbst in weit verbreiteten Publikationen rigoros wegretouschiert wurden. Die DDR beteiligte sich an diesen Verfahren und auch an den großzügig vorgenommenen großflächigen Bearbeitungen und Verfälschungen in der Marx-Engels-Edition (MEGA).

In anderen Fällen griffen Familienangehörige, Kampfgenossen, politische Freunde oder Berater ein, um all das, was ihnen „unziemlich“ erschien, der Öffentlichkeit aus volkspädagogischen oder parteidisziplinarischen Erwägungen vorzuenthalten. Sie vernichteten oder verstümmelten die originale Überlieferung. Die Memoiren von Albrecht Speer oder von Heinrich Brüning sind bislang lediglich in bearbeiteten Fassungen veröffentlicht worden. Für Bismarcks Erin­nerungen gibt es erst mit der historisch-kritischen Ausgabe von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann einen zuverlässigen Text.

Der Kunsthistoriker Walter Riezler vernichtete den Teil des diaristischen Bestands seines Bruders Kurt, der über die Intentionen des engsten Kreises um Wilhelm II. in den Balkankriegen und der Entstehungsphase des Weltkrieges von 1914/18 hätte aufklären können. Die restlichen Tagebücher Riezlers publizierte Karl Dietrich Erdmann zwar insgesamt mit großer Akribie, jedoch verzichtete er erstaunlicherweise auf die Genauigkeit gerade an der brisantesten Stelle, in der Juli-Krise von 1914.

Nachlebende Familienangehörige, politische oder persönliche Freunde jeder historischen Persönlichkeit unterliegen offensichtlich am leichtesten der Verführung, überlieferte Dokumente auf die unterschiedlichste Art zu manipulieren, um der Nachwelt ein geschöntes, also ihr subjektiv getöntes Bild überliefern zu können. Hier sind die Aufzeichnungen und Briefe Ernst von Weizsäckers, des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt der NS-Diktatur wie die Tagebücher des im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ermordeten Ulrich von Hassell. Nicht einmal die erheblich verbesserte Neuausgabe kommt ohne deutliche Retouschen aus. Die privaten Zeugnisse in den Nachlässen eignen sich für ein derartiges Vorhaben deshalb am besten, weil sie zumeist nur in einer einzigen Fassung überliefert sind und sich daher jeder Eingriff nur schwer erkennen, geschweige denn aufdecken läßt. Tagebuchnotizen, autobiographische Aufzeichnungen, Memoiren und Entwürfe zu Briefen, Ver­lautbarungen oder Denkschriften sind offenkundig besonders stark gefährdet.

Im Fall des Nachlasses von Theodor von Schön und seiner verstümmelten, eigenwillig publizierten und letztlich unübersichtlichen Wiedergabe in zahlreichen Einzelbänden und einer mehrteiligen Materialzusammenstellung handelt es sich um einen gravierenden und folgenreichen Fall einer verfälschenden Erschließung und Dokumentation. Auf ihn muß hier genauer eingegangen werden, weil es bis heute an einer kritischen Ausgabe der Aufzeichnungen, Korrespondenzen und Schriften mangelt, weil Schön zu dem engen Kreis der bedeutenden jüngeren Reformer um den Freiherrn vom Stein zu zählen ist und dieses Bild empfindlich verzerrt scheint, weil Schöns Wirken in der Reformära und in der Epoche der konservativen Erneuerung des preußischen Staates weitreichende Konsequenzen hatte und weil schließlich eine zuverlässige Quellenbasis grundsätzlich die unabdingbare Voraussetzung für eine über­zeugende Interpretation bildet.

Theodor von Schöns Reisetagebücher und seine autobiographischen Fragmente

Nach dem Tod Schöns (1856) bedienten sich seine Freunde und Verehrer des Nachlasses und der Tageszeitungen, um in ihrem politischen Tageskampf, gestützt auf Schöns Autorität, ihre liberalen Programme historisch legitimieren und publizieren zu können. Die kämpferisch gehaltenen Titel der einzelnen Veröffentlichungen offenbaren die tagespolitische Intention und Funktion der publizistischen Offensive: 1876 erschien das Buch „Zu Schutz und Trutz am Grabe Schöns“; 1892 veröffentlichte man drei Denkschriften gegen die „Priesterherrschaft“ - so der Untertitel - mit dem Haupttitel „Eine warnende Stimme aus dem Grabe“.
Büste von Theodor von Schön

Die Zeitungsartikel und sogar die acht Teile der „Werkausgabe“ des Sohnes standen unter den gleichen Vorgaben. Scharfe publizistische Waffen sollten mit ihnen geschmiedet werden gegen Kanzlerdiktatur, Schutzzollpolitik, Ultramontanismus und protestantische Orthodoxie.

Die damalige Geschichtswissenschaft reagierte auf diese Polemiken und auf die wirren Dokumentationen mit scharfer Ablehnung. Die „Historische Zeitschrift“ beachtete 1877 lediglich die ersten Bände der „Papiere“ und nur eine einzige von den späteren Schriften in einer Sammelrezension. Neben zahlreichen Einzelheiten kritisierte man hauptsächlich den offenkundigen Mangel an methodischer Kritik und die Unfähigkeit der Bearbeiter, „verstandesgemäße Schlüsse zu bilden“. Die Elaborate seien, so hieß es, „keineswegs derartig, daß eine Besprechung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift angemessen erscheinen könnte“, denn der polemische Ton sei der der niedrigsten Revolverpresse; überall suchten sie die „Gegner mehr zu beschmutzen als zu widerlegen“. Siegfried Isaacsohn, ein ausgewiesener Kenner der preußischen Geschichte, resümierte 1882 in der „Deutschen Literatur-Zeitung“: „Diese Beiträge und Nachträge gar discreditieren den Staatsmann Sch. weit mehr, als dass sie etwas Neues, die Erkenntnis seiner einstigen Bedeutung wesentlich Förderndes beibrächten. [...] Auch hier wieder werden die eigenen politischen und socialen Ansichten des Herausgebers mit Citaten und Schriften Sch.s so ineinander verwoben, daß es oft schwer ist, die Gedanken beide von einander zu sondern“.

Der 1910 erschienenen Dissertation von Margarete Baumann über Theodor von Schöns Geschichtsschreibung kommt das Verdienst zu, als erste auf einige der gravierenden Mängel der Publikationen hingewiesen zu haben. Schön habe „die Tatsachen richtig wiedergegeben“, lautet das Ergebnis der Detailuntersuchungen, aber nicht jede Erklärung könne beurkundet werden. Die Texte seien polemischer Natur und aus der „Absicht hervorgegangen, die zeitge­nössischen Anschauungen zu ergänzen und zu berichtigen“. Schwieriger seien die Passagen zu beurteilen, die Persönlichkeiten charakterisieren. Hierbei trete Schöns Widerspruchsgeist am stärksten hervor. Baumann plädiert dafür, Schön „aus dem Verständnis seiner Persönlich­keit heraus gerecht zu werden“, doch dazu bedürfe es korrekt edierter und kritisch interpretierter Texte. Friedrich Thimmes Beitrag in den „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte“ von 1910 bestätigte unter dem Titel „Eine Rehabilitierung Theodor von Schöns?“, daß mit der Untersuchung von Frau Baumann die „Vorbedingungen für ein Wiederaufnahme­verfahren zugunsten Schöns vollauf erfüllt“ seien. So viel lasse sich mit Sicherheit feststellen, daß die Tagebücher auch in den Passagen, die Irrtümliches enthalten, nicht als Verleumdungen zu verwerfen seien:

„Gerade an den krassesten Beispielen von Schöns angeblicher Schmähsucht hat sich gezeigt, daß sie, richtig verstanden und nicht gröblich aufgebauscht, wie sie es vielfach von seiten der Kritik sind - von ‘Amtsmißbrauch, Bestechung und Unterschleif’ ist doch nirgends die Rede - zum guten Teil begründet, auch in ihren Irrtümern erklärlich und sicherlich optima fide niedergeschrieben sind. [...] Wenn es feststeht, daß Schön allezeit nach sittlicher Reinheit und Vollendung gestrebt hat [...], müssen auch hier [in den Selbstbiographien] ideale Gesichtspunkte zugrunde liegen: das Streben, die Ideen der Reformzeit [...] nach ihrem innersten Kern wie nach ihrem Ursprung und Fortgang rein und unver­fälscht zur Darstellung zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich auch die plan­mäßige Beeinflussung der zeitgenössischen Geschichtsschreibung [...] als Verdienst dar: konsequent, wie Schön in allem gewesen ist, müßte er es auch in dem Streben sein, dem Licht der Wahrheit überall zu voller, hier und da selbst mitleidsloser Helle zu verhelfen. Daß Schön sich hierbei wie im Leben von jeder persönlichen Rücksichtnahme freihielt, völlig ungeschminkt sprach und schrieb, kann den Wert seiner Auslassungen nur erhöhen“.

Die in den vergangenen Jahren vorgenommene kritische Auswertung des im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz lagernden Schön-Nachlasses offenbarte das ganze Ausmaß der unwissenschaftlichen Arbeitsweise, der Verzerrungen und Veränderungen sowie der aus politischen Motiven großzügig vorgenommenen Manipulationen.

Die aktuelle Situation ist für ein Wiederaufnahmeverfahren in Sachen Theodor von Schön besonders geeignet, denn die Quellengrundlage ist nach der Rückführung der Bestände aus Merseburg nach Berlin günstiger denn je.

 
 
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Prof. Dr. Bernd Sösemann