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Über die beiden Fragmente
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Die beiden autobiographischen Fragmente Theodor von Schöns

von Bernd Sösemann

Autobiographien gehören zu den bedeutendsten persönlichen Quellen. Mit den Namen Xenophon und Cäsar, Marco Polo und Karl V., Bismarck und Churchill spannt sich ein Bogen illustrer Zeugnisse dieser Gattung vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert. Literatur- und Geschichtswissenschaftler, Psychologen und sämtliche mit historischem Interesse forschenden Fachdisziplinen bedienen sich ihrer, um Auskünfte über den jeweiligen Individuationsprozeß zu bekommen. Der Rückblick auf das eigene Leben und die mit ihm Revue passierende erlebte Geschichte lassen in der Regel eine Fülle von Vorgängen vor dem geistigen Auge des zumeist an einem einschneidenden Lebensabschnitt stehenden Menschen lebendig werden. Dem Blick des Wissenschaftlers erschließen sich im Persönlichsten und Allgemeinen des Berichteten „weite Felder“ des Autobiographischen mit zahlreichen Einzelheiten und dem Atmosphärischen der vergangenen Zeit.

von Schöns Denkamal in Königsberg

Ist der sachlich-inhaltliche Gewinn also im Idealfall eines geistig lebhaften und wachen Schreibers oder Erzählers schon als erheblich einzuschätzen, so erhöht sich die Qualität im Methodischen und Konzeptionellen. Autobiographien ergänzen die amtlichen, dienstlichen, öffentlichen oder offiziellen Perspektiven; mitunter können aktenmäßig nicht oder nur fragmentarisch überlieferte Vorgänge allein durch persönliche Dokumente befriedigend dargestellt und bewertet werden. Im Zeitalter der „flüchtigen Kommunikation“, der telephonischen oder Datenkommunikation per Computer, dürfte der Anteil an persönlichen Quellen bei dem Versuch, historische Vorgänge zu rekonstruieren, quantitativ und qualitativ eher noch weiter wachsen. Allerdings ist bei diesem positiven Bild kritisch zu bedenken, ob dem potentiellen Verfasser persönlicher Dokumente zukünftig überhaupt die Muße bleiben wird, noch Briefe, Tagebücher, Memoiren oder Autobiographien in traditioneller Form zu verfassen.

Die Fragment gebliebenen autobiographischen Aufzeichnungen Schöns sind für die Beurteilung des Lebenswerks insgesamt und speziell für die Situation des rückblickenden Staatsmanns wertvoll. In ihren Aussagen und Berichten über Vorgänge reform-, partei- und gesellschaftspolitischer Thematik erweisen sie sich in kulturpolitischer und atmosphärischer Hinsicht für die Gesellschaft Preußens in der Epoche zwischen Reform und konservativer Erneuerung als höchst aufschlußreich. Schön verfügt dabei keineswegs über ein durchgehend sicheres Urteil, ein unwandelbares und starres Bild von den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Er ist ungleich differenzierter und abwägender in seinen Ansichten über Personen, als es das Vorurteil wahrhaben möchte. Diese Feststellung gilt selbst bei den Personen, über die seine Ansichten vorwiegend negativ gestimmt sind.

Die autobiographischen Aufzeichnungen enthüllen, in welchem Umfang Schön den Staatsdienst als Mittel der Persönlichkeitsentfaltung empfand und in welchem hohen Ausmaß seine beiden begonnenen und so unterschiedlich ausgefallenen Selbstbiographien Instrumente einer fortgesetzten politischen Auseinandersetzung waren. Ihre Niederschrift diente sicherlich auch dem persönlichen Zweck der Selbstverständigung, doch dürfte dieses Motiv hinter dem politischen Willen zurückgestanden haben, sich und die nachlebenden Interessenten gut für die permanenten Auseinandersetzungen um die Durchsetzung der Vernunft und die Vertreibung charakterschwacher Schwätzer aus der Nähe der Macht auszurüsten. Die Tatsache, daß auch der zweite autobiographische Anlauf von Schön nicht zu Ende geführt wurde, könnte darauf hindeuten, daß er die Form oder sogar das Medium letztlich als für seine Zwecke doch nicht geeignet hielt.

Schön hat sich nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst beim „Ordnen meiner Papiere“, wie er selbst sein Motiv nannte, wiederholt mit der Politik Preußens im zurückliegenden halben Jahrzehnt schriftlich auseinandergesetzt. Dazu haben den Mittsiebziger jedoch nicht das Skandalon der öffentlichen Debatte über seine Schrift „Woher und Wohin?“ und die sie begleitenden Umstände allein animiert, sondern auch die Forschungen von Johann Gustav Droysen über Yorck von Wartenburg und Georg Heinrich Pertz über den Freiherrn vom Stein. Denn beide Historiker haben den Burggrafen von Marienburg mehrfach um Auskünfte gebeten. Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre lagen aus Schöns Feder drei Manuskripte über den Freiherrn vom Stein vor, eine Arbeit über Scharnhorst, und eine Skizze betraf Boyen. Außerdem sind seine Urteile über Blücher und Yorck bekannt geworden.

Schön hat versucht, sich mit seinen selbstbiographischen Manuskripten einen prachtvollen Triumphbogen zu errichten. Die Architektur scheint nur in Ansätzen gelungen, denn seine beiden Fragmente stellen in zeitlicher Hinsicht nicht einmal den gesamten Rohbau dar. Provoziert hat er mit seinen Entwürfen jedoch bereits seine Zeitgenossen und erst recht die Nachlebenden. Der impulsive und nicht weniger parteiische Max Lehmann schimpfte den inzwischen verstorbenen Schön in der „Historischen Zeitschrift“ einen „doppelzüngigen Verleumder“, nachdem er die Memoiren in der vom „Ostpreußen“ verderbten Form zu Gesicht bekommen hatte. Dieser verbale Ausfall überrascht. Die Subjektivität der Autobiographie und die Schärfe der Urteile stellen an sich und erst recht für den Historiker keine Probleme dar und dürften beim Temperament eines Menschen wie Theodor von Schön niemanden verwundern.

Der von Herbert Obenaus in der Debatte um liberale Entwicklungen in Ostpreußen gewonnene und auch für die Kennzeichnung der Schönschen Position favorisierte Begriff „Gutsbesitzer-Liberalismus“, erscheint mir auch auf der Folie der Autobiographien Schöns eher in seiner allgemeinen analytischen Funktion überzeugend als in seinem direkten Bezug auf den Oberpräsidenten. „Gutsbesitzer-Liberalismus“ steht in einem zu engen begrifflichen und sachlichen Kontext mit Vorstellungen, die auf Grund der Arbeiten von Helmut Bleiber und Peter Schuppan dem eindimensionalen marxistischen Erklärungsmodell vom „Junkerliberalismus“ verpflichtet sind. In beiden Erklärungsansätzen gewinnt Schön keine ausreichend eigenständige Position. Er wird mit ihnen vielmehr auf einzelne Urteile und Maßnahmen festgelegt, ohne daß genügend bedacht wird, daß Schöns liberale Ansichten sich unter dem Eindruck der unterschiedlichen Herausforderungen wandelten und daß dieser Prozeß zumeist nicht kongruent zu den allgemeinen Ansichten abgelaufen ist.

Der Begriff „Gutsherren-Liberalismus“ enthält also zu starke Verallgemeinerungen und sogar eine gewisse Tendenz zu einer ahistorischen Sichtweise. Bei der Kennzeichnung gutsherrlicher Personen wird nämlich die Interessenidentität dieser sozialen Gruppe überbetont; es wird damit der Eindruck einer programmatischen und organisatorischen Verfestigung hervorgerufen, die es in dieser Phase weder in Ostpreußen noch im übrigen Staat gegen hat. Schöns Grundposition und Entwicklung müssen deshalb begrifflich differenzierter gefaßt werden, will man besser verstehen, weshalb Schön zeitweise zu einer herausragenden Gestalt in Ostpreußen, aber auch in Preußen werden konnte. Die Öffentlichkeit und zeitgenössische Publizistik sah in ihm nicht erst in der Affäre um seine Denkschrift „Woher und Wohin?“ und in seinem Kurs gegen königliche und ministerielle Versäumnisse den unabhängigen liberalen Kopf par exellence. Schön hatte bereits in vorangehenden Jahren mit dem ihm eigenen emanzipatorischen Pathos liberale Grundvorstellungen gehegt: Er konnte liberale Ziele fördern, ohne sich um politische Motive zu ihrer Begründung bemühen zu müssen; er vermochte liberal zu denken, ohne sich in die Enge einer Parteiung zu begeben, und er entwickelte oder übernahm Ideen des regierungskritischen, des frühliberalen Programms, ohne sich zur Opposition zu bekennen.

Schöns frühliberale Vorstellungen im strengen Sinn des Begriffs sind weder einlinig und direkt als Gegenpol der oppositionellen Bewegung zu sehen noch als anti-obrigkeitlich, denn seine Hauptziele hatte er nicht aus dem Auge verloren: An den Idealen der Reformzeit festhaltend, suchte er die Stabilisierung einer kontinuierlichen, einer permanenten Reformbewegung zu erreichen; jenseits einer kompromißlosen Opposition zum Staat, galt es, die Etablierung eines repräsentativen Verfassungsstaats zu ermöglichen; und damit beim König das Plazet für die Einrichtung gesamtstaatlicher und nicht lediglich provinzialständischer Vertretungen, zu erlangen; die Aufstellung eines Katalogs unveräußerlicher Rechte und die Gewährung einer Garantie gegen staatliche Eingriffe in den Individualbereich durchzusetzen. Über den politisch sinnvollen Weg zu diesen weiterführenden Reformen und Veränderungen hat er sich zeit seines Lebens seine eigenen Gedanken gemacht.

 
 
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Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik
Prof. Dr. Bernd Sösemann