Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben -
eine Ars moriendi für unsere Zeit

Arthur E. Imhof


Unter allen Lebewesen könnten Menschen als einzige auch vernünftige Sterbewesen sein. Den meisten von uns fällt eine solche Einstellung jedoch sehr schwer. Mir scheinen dafür hauptsächlich zwei Gründe verantwortlich zu sein. Zum einen: Nur wenige von uns glauben noch uneingeschränkt an eine Auferstehung von den Toten und an ein ewiges Leben. Damit aber haben wir unsere Unsterblichkeit verloren. Zum andern ist auch die Schar unserer Kinder und Kindeskinder stark geschrumpft. Wie sollten wir da, wie ehedem, zumindest in deren Gedächtnis noch eine Zeitlang weiterleben können? So vollzieht sich auch unser Erlöschen nicht mehr auf Raten, sondern plötzlich und unvermittelt.

Andererseits sorgt unser kollektives langes Gedächtnis dafür, dass die meisten immer noch spüren, was wir da erst in jüngster Zeit eingebüsst haben. Jedoch ist es manchem von uns völlig unerträglich sich einzugestehen, dass es nunmehr weder eine Fortsetzung im Jenseits gibt, noch dass uns Dutzende Nachkommen über Generationen hinweg nachtrauern. Und noch viel weniger sind wir gewillt, über diese Situation vernünftig nachzudenken und uns mit ihr auszuöhnen.

Wie konnten wir bloss in eine solch missliche Situation geraten? Wenn wir sie ändern wollen - und vielen ist diesbezüglich heute in der Tat unbehaglich zu Mute -, dann sollten wir auch wissen, wie sie entstand. Bloss zu beklagen, dass "die Gesellschaft" Sterben und Tod verdränge, dass sie die Jugend verherrliche und Menschen höheren Alters nur allzu leicht abschreibe, reicht nicht aus. Vor allemändert sich durch solches Klagen auch nichts. Und schliesslich: "die Gesellschaft" - das sind wir alle. Wir müssen somit schon bei uns selbst beginnen, wenn wir eine Änderung herbeiführen wollen.

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Die Frage lautete also: Wie ist es zu dieser misslichen Verdrängungs-Situation gekommen?

Die Antwort ist bei einigem Nachdenken gar nicht so schwer zu finden. Im allgemeinen sind wir mächtig stolz darauf, dass sich unsere durchschnittliche Lebenserwartung binnen weniger Generationen verdoppelt, wenn nicht verdreifacht hat. Tatsächlich währt das Leben der meisten von uns nun statt nur dreissig oder vierzig Jahre, wie noch Mitte des 19. Jahrhunderts, siebzig, achtzig und noch mehr Jahre lang. Und - ganz anders als unsere damaligen Vorfahren - können wir mit diesen Jahren im allgemeinen auch rechnen. Nicht nur erreichen immer mehr Menschen das durchschnittliche Sterbealter, sondern dieses hat auch generell eine Höhe erreicht, wie dies nie zuvor und nirgendwo ausserhalb der Ersten Welt der Fall ist. Im Vergleich zu unseren eigenen Vorfahren noch vor hundert Jahren hat jeder von uns heute somit zwei Leben zu seiner Verfügung, im Vergleich zu noch früheren Zeiten sogar drei. Stösst uns trotzdem einmal vorzeitig etwas zu, werden wir in aller Regel prompt und zuverlässig repariert. Mit einem "gewissen Recht" dürfen wir uns deshalb zumindest in unseren "besten Jahren" erstmals "ein bisschen unsterblich" fühlen. Eine ganze Reihe von Präventionskampagnen gaukelt uns nicht selten zusätzlich die baldige Unsterblichkeit vor: mit etwas mehr Joggen, nicht mehr Rauchen, konsequentem Treppensteigen, Trinken von Milch mit geringerem Fettanteil, rigorosem Befolgen sämtlicher Vorbeugeuntersuchungen müsste es doch wohl zu schaffen sein, den Tod allmählich ganz verdrängen.

Es gab bei uns eine Zeit, als Krankheiten einen Sinn hatten. Sie wurden als gnädiger Fingerzeig Gottes aufgefasst, noch rechtzeitig auf seinem sündigen Lebenswandel einzuhalten und umzukehren. Was sollten Gesundheitseinbussen heute noch für einen Sinn machen? ür einen Fingerzeig Gottes halten wir sie jedenfalls schon gar nicht mehr. Und doch böten sie uns oft die einzige Gelegenheit, einmal in uns zu gehen. Ob wir fürchten, dort auf eine grosse Leere zu stossen?

Zur Sterilisierung desselben Todes trägt paradoxerweise auch seine Permanenz in den Medien bei. Da geht es nämlich immer nur um den Tod von anderen, nie jedoch um meinen Tod. In der Tat werden die meisten von uns ganz und gar keinen medienwirksamen Tod sterben, etwa bei einem Flugzeugabsturz, bei einer Erdbebenkatastrophe, beim Einsturz eines Hochhauses oder Förderschachtes, bei einem Attentat. Doch selbst wenn unser Tod somit wahrscheinlich ein höchst banaler sein wird, sollten wir dies keineswegs gering achten oder gar als etwas nur Negatives betrachten. Wer von uns möchte denn schon mit jenen Millionen fremdbestimmter, von Menschenhand herbeigeführter entsetzlicher Tode tauschen, die sich allein in unserem Jahrhundert im Zusammenhang zweier Weltkriege auf Schlachtfeldern, in Konzentrations- und Gefangenenlagern, in Bombenhagel und Feuerstürmen ereigneten? Verglichen damit bekommen die meisten von uns heute zumindest ihren eigenen Tod.

Dieser unser Tod ist bescheidener geworden. Er lässt die meisten von uns wie nie zuvor und nirgendwo sonst auf der Welt über Jahrzehnte in Ruhe, auch wenn er schliesslich der mächtigere bleibt. Was uns unter solchen, bisher nie dagewesenen Bedingungen so schwer fällt, ist, eine Balance des Lebens zu finden. Denn leben heisst, die von Anfang an in uns Menschen angelegte Spannung von Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten. Es heisst darüber hinaus heute für Laien wie Professionelle, das heisst die in Gesundheitsberufen Tätigen, aber auch, den naturgegebenen Tod zur rechten Zeit auf sich zu nehmen und ihn nicht zu verhindern. Dies ist ja technisch bis zu einem gewissen Grad nicht länger unmöglich. Die alte Wunschvorstellung von einem in solcher Weise gelungenen vollen Leben bis zum Rande geht in unserer eigenen Kultur bis zu den antiken Philosophen zurück. Dass sie nun jedoch plötzlich für immer mehr Menschen auch wahr wird, ist etwas völlig Neues. Was wunder, dass viele noch ihre Probleme damit haben.

Wenn zum Beispiel das eine Leben, wie man so sagt, das höchste Gut ist und es früher dreissig, vierzig Jahre währte, was machen wir dann jetzt mit den zweiten dreissig, vierzig? Nicht alle scheinen es zu wissen. Selbsttötungen gibt es zwar in allen Altern. Doch nehmen sie, wie uns Suizidologen und Gerontologen immer wieder übereinstimmend bestätigen, jenseits der 70, 75 sehr stark zu. Gewonnene Jahre sind eben nicht automatisch auch erfüllte Jahre. Wir müssen sie schon zu solchen machen. Wer sich zum Beispiel ein Leben lang nur für körperliche, kaum jedoch für geistig-kulturelle Belange interessierte, der darf sich nicht wundern, wenn er im höheren Alter, wenn die körperlichen Fähigkeiten vor den geistigen nachlassen - was nicht selten der Fall ist -, in eine entsetzliche geistige Leere stürzt und dann wirklich nicht mehr weiss, was er mit all den gewonnenen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren anfangen soll. Das braucht nicht so zu sein. Dem kann durch lebenslange Pflege und Vertiefung auch von geistig-musischen Interessen effektiv vorbeugt werden.

Dies eben ist die verzwickte Situation. So stolz wir einerseits auf die Verdoppelung und Verdreifachung unserer Lebensspanne sind und sein können, so haben wir hierbei doch nur die eine Seite der Medaille vor uns. Denn gleichzeitig mit dieser Zunahme der irdischen Lebenserwartung hat sich nämlich auch noch eine ganz andere, völlig gegenläufige Entwicklung vollzogen. Sie hat dazu geführt, dass unser Leben insgesamt im Verlaufe der letzten Generationen keineswegs länger, sondern - durch den Verlust des Glaubens an ein Jenseits - unendlich kürzer geworden ist. Was bedeutet denn schon die Verdoppelung der Zahl irdischer Jahre beim gleichzeitigen Verlust des Glaubens an eine ganze Ewigkeit?

Vor solchem Hintergrund braucht man nun auch nicht mehr erstaunt zu sein, dass die meisten von uns sozusagen verkehrt, mit dem Rücken zur Wand durchs Leben gehen, den Blick abwenden von Alter, Sterben und Tod und die Jugend verherrlichen, die noch am weitesten vom endgültigen Aus entfernt ist. Im gleichen Zusammenhang begreift man ebenso leicht, dass seit der Wegrationalisierung eines Jenseits unser Körper als Garant des einzig noch verbliebenen irdischen Rests eine ungeheure Aufwertung erfahren hat. Ist er nicht mehr, dann sind nun auch wir nicht mehr. So beobachten wir denn diesen Körper ständig intensiv, hegen und pflegen ihn, betreiben Bodybuilding und tun alles zur Aufrechterhaltung seines reibungslosen Funktionierens. Auch haben wir statt riesiger Kathedralen zum Beten wie unsere Vorfahren jetzt immense Krankenhäuser zur Pflege dieses Körpers. Und statt den ehemaligen lieben Gott haben wir dort Götter in Weiss. Ihnen haben wir den Auftrag erteilt, den früher jederzeit und überall beliebig zuschlagenden Tod an die Kandarre zu nehmen und die Säuglings-, Kinder-, Mütter-, Erwachsenensterblichkeit unter Kontrolle zu bringen. Was sie denn auch mit so grossem Erfolg taten und immer noch tun, dass der schon erwähnte neue Unsterblichkeitswahn des Nichtmehrverwelkens, des sich ständig wiederholenden Reparaturtriumphs in vielen von uns tiefe Wurzeln zu schlagen vermochte.

Wenn wir aber trotz weitgehendem Ausleben der Lebensspanne von 80, 90 Jahren, die uns zur Verfügung steht, Sterbliche geblieben sind, dann ist das kein medizinisches Problem. Es ist überhaupt kein Problem, sondern gehört zur Natur unseres Menschseins. Wer sind wir denn, dass wir als einzige Lebewesen für uns die Unsterblichkeit beanspruchen! Wenn sich die Medizin trotzdem daran macht oder sich aufgrund unserer hybriden Ansprüche daran machen würde, den Tod zu verhindern, ist das unmenschlich. Ein Problem ist höchstens, dass viele von uns meinen, die Medizin wäre auch dort noch zuständig, wo sie nichts mehr ausrichten kann, und auch nicht soll. Tod ist kein medizinisches Lehrgebiet und gut zu sterben kein Teil des Medizinstudiums. Hier allerdings wird - und zwar wiederum bei Professionellen wie Laien - ein Vakuum spürbar, denn eine Art Lehre vom guten Sterben ist bei uns heute eben auch kein Pflichtfach welcher anderer Disziplin auch immer. Wir sind auf uns selbst angewiesen. Obwohl wir alle sterben werden, unternimmt doch kaum einer etwas, um gut sterben zu lernen. Das war einmal anders!

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Gehen wir in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zurück. Die Drucktechnik erlaubte damals bereits eine relativ kostengünstige Herstellung von Holzschnitten in hohen Auflagen. Sie konnten somit billig unter alle Leute gebracht werden. Seit langem hatte es auch damals schon zu den Aufgaben der Geistlichkeit gehört, Sterbenden in ihrer letzten Stunde beizustehen. Eine grosse Misslichkeit ergab sich nun jedoch aus der Tatsache, dass während der häufigen Seuchenzeiten - Pest, Fleckfieber, Bauchtyphus, Pocken, Malaria auch bei uns - immer wieder viele Menschen gleichzeitig starben. Die vorhandenen Geistlichen reichten dann bei weitem nicht für alle aus. Zudem wussten die Pfarrer aus Erfahrung ebenso wie die "lieben Angehörigen", dass ansteckende Krankheiten äusserst gefährlich waren. Wer fliehen konnte, floh, je weiter weg und je länger, desto besser. Kurzum: niemand konnte damals sicher sein, nicht genau dieses Schicksal des Alleinsterbenmüssens selbst zu erleiden.

Und was taten unsere Vorfahren? Sie lernten sterben, jeder für sich, schon in jungen Jahren. Wenn sie auch nicht lesen konnten, so waren sie doch in der Lage, Holzschnitte anzusehen. Nach damaliger Auffassung entschied sich das Seelenheil häufig erst in letzter Stunde auf Erden. Man stellte sich vor, dass höllische Mächte dann noch einmal alles daransetzen würden, um der bald aus dem Körper scheidenden Seele habhaft zu werden. Mit etwas Phantasie konnte man sich leicht ausmalen, worin die dann auf einen zukommenden teuflischen Versuchungen bestehen würden: Versuchung im Glauben, Versuchung zur Verzweiflung, Versuchung zur Ungeduld, Versuchung zu Stolz und Überheblichkeit, Versuchung zum irdischen Materialismus. Wer einer dieser teuflischen Versuchungen in letzter Minute noch erlag, der würde ganz bestimmt nicht in die Herrlichkeit Gottes eingehen, sondern der ewigen Verdammnis anheimfallen.

Die schmale Lernbroschüre bestand immer aus elf Holzschnitten. Auf jedem Bild war der Sterbende in seinem Bett zu sehen, ein Jedermann von etwa vierzig Jahren, mit dem sich alle leicht identifizieren konnten. Die Holzschnitte eins, drei, fünf, sieben und neun veranschaulichten die oben erwähnten fünf grossen Versuchungen. Schreckliche Höllenfratzen bedrängten Moribundus von allen Seiten. Sie hielten ihm das Sündenregister unter die Augen und liessen alle seine im Leben begangenen Untaten nochmals vor ihm Revue passieren. Als Meineidiger, als Ehebrecher, Geizhals, Trunkenbold, Vielfrass, Dieb und Mörder wäre es völlig ausgeschlossen, dass er auf einen gnädigen Gott hoffen dürfte. Handkehrum appellierten sie an seine Eitelkeit, schmeichelten ihm, erinnerten ihn an das im Leben Erreichte, an die Ehren, die Heldentaten, den Ruhm. Sie erwähnten seine sämtlichen Besitztümer, um ihn von der Konzentration auf ein gottwohlgefälliges Sterben abzulenken.

Auf den Antwortbildern zwei, vier, sechs, acht und zehn eilten dagegen stets himmlische Mächte herbei: Engel, Heilige, die Göttliche Dreieinigkeit. Sie unterstützten den Sterbenden in diesem Kampf um die Seele. Fünf Mal leistete er mit ihrer Hilfe erfolgreichen Widerstand. Dann starb er. Auf dem elften Holzschnitt war der glückliche Ausgang zu erkennen. Ein schon bereitstehender Engel nahm die soeben ausgehauchte Seele in Form eines kleinen nackten Kindleins in Empfang und geleitete sie in die ewige Herrlichkeit Gottes.

Sterben, gut sterben - das konnte man lernen. Wer sich diese "Ars bene moriendi" - wie sie damals hiess -, diese "Kunst des guten Sterbens" in jungen Jahren erst einmal angeeignet hatte, der brauchte sich anschliessend selbstverständlich vor dem Sterben, auch und gerade vor dem Sterben allein, nicht länger zu fürchten. Man wusste ja, was einen da in der letzten Stunde erwartete und brauchte es nur dem Jedermann auf den Holzschnitten nachzutun, um auch selbst der ewigen Glückseligkeit gewiss zu sein.

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Als Historiker, der ich bin, versuche ich immer wieder, bei unseren Vorfahren nachzusehen, wie sie mit Problemen fertig wurden, die den heutigen ähnlich sind. Ähnlich wie damals scheint mir unsere Ausgangslage zu sein. Auch unter uns ist keiner gewiss, nicht zu jenen zu zählen, die allein, ohne spirituellen Beistand ihre letzte Stunde verbringen und allein sterben werden. Doch wer lehrt uns sterben?

Niemand wird nun naiverweise vorschlagen wollen, eine Neuauflage der alten "Ars moriendi" herzustellen und sie abermals in grosser Zahl unter die Leute zu bringen, damit alle die "Kunst des guten Sterbens" wieder lernten. Sofern wir uns jedoch darüber einig sind, dass wir in unseren Tagen erneut eine "Ars moriendi" brauchen - und ich bin dieser Ansicht -, dann lässt sich durchaus Handfestes aus der alten Bilder-Ars lernen:

  1. Wenn eine Zeit die Entwicklung einer breit gestreuten "Kunst des Sterbens" wirklich will, ist ihr das auch möglich. Unsere Vorfahren machten es uns vor 500 Jahren erfolgreich vor.
  2. Jede "Ars moriendi" ist zeitverhaftet. Vor einem halben Jahrtausend wurzelte sie selbstverständllich in der christlichen Welt- und Jenseitsanschauung, im Glauben an Auferstehung und an ein ewiges Leben. Sie bereitete auf den Kampf um die Seele in der Sterbestunde vor und garantierte bei genauem Befolgen den glücklichen Ausgang.
  3. Eine entscheidende Ursache des grossen Erfolgs lag in der Konzentration auf das Wesentliche. Elf aussagekräftige, allgemein verständliche Holzschnitte genügten, um die Sache auf den Punkt zu bringen.
  4. Die "Kunst des Alleinsterbens" wandte sich an alle, und zwar ab jungen Jahren, denn niemand konnte gewiss sein, nicht morgen schon auf sich gestellt von hinnen gehen zu müssen. Insofern war die "Ars moriendi" auch eine "Ars vivendi", eine "Kunst des richtigen, guten Lebens".

Als Konsequenzen ergeben sich für uns hieraus:

  1. Auch unserer Zeit ist es möglich, eine "Ars moriendi" zu schaffen, sofern wir das wirklich wollen.
  2. Eine zeitgemässe neue "Ars moriendi" hat genauso knapp und prägnant, allgemeinverständlich und eingängig zu sein. Sie muss auch heute jeden ansprechen, denn erneut ist niemand gewiss, nicht allein zu sterben.
  3. Für die meisten von uns besteht das Leben nur noch aus dem irdischen Teil. Der Sterbeprozess läutet das definitive Schlusskapitel ein.
  4. Noch ausgeprägter als vor einem halben Jahrtausend ist unsere "Ars moriendi" eine "Ars vivendi", eine "Kunst des richtigen Lebens". Es handelt sich um die Kunst, das Leben - genauer gesagt, den Rest, der uns davon auf Erden geblieben ist - so erfüllt zu leben, dass an seinem naturgegebenen Ende die Bereitschaft besteht, es auch ohne Aussicht auf eine Fortsetzung "zur rechten Zeit" loszulassen. Wer mit dem Erlernen dieser Kunst erst beginnen will, wenn sich die zum Tod führende Gesundheitseinbusse meldet, kommt in der Regel viel zu spät. Wie vor 500 Jahren muss das Einüben in früher Jugend seinen Anfang nehmen. Diese "Ars moriendi" ist somit keine Gebrauchsanweisung für die Intensivstation, das Hospiz, das Sterbezimmer zuhause. Ihre Devise lautet "erfüllt leben", und zwar das ganze Leben, und als Folge davon: "in Gelassenheit sterben". Die letzten Wochen, Tage, Stunden mögen dann aussehen, wie sie wollen und wo auch immer sie sich abspielen, unabhängig davon, welche Krankheit mir den Garaus macht und ob ich mit oder eben ohne Beistand im Krankenhaus, unterwegs, in einem Heim, zuhause von hinnen gehen muss. Ich habe mein Leben gelebt und bin nicht nur immer älter geworden. Lebenssatt, nicht lebensmüde kann ich es hergeben.

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Je unvoreingenommener wir der heutigen Situation ins Auge sehen, umso leichter wird es auch uns fallen, angemessene Lösungen zu finden.

Mit "unvoreingenommen" meine ich, folgende Fakten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch Konsequenzen daraus zu ziehen. In jedem einschlägigen Handbuch kann man zum Beispiel nachlesen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland 1855 37,2 Jahre betragen habe, 1985 dagegen 74,6 Jahre. Das ist eine exakte Verdoppelung. Nun haben wir jedoch nicht nur quantitativ doppelt so viele Jahre zu unserer Verfügung, sondern auch qualitativ doppelt so gute. Anders geht das gar nicht. Unsere Ernährung ist gesicherter und ausgewogener denn je. Infektiöse Krankheiten haben wir weitestgehend unter Kontrolle. Wir arbeiten gerade noch halb so viel wie unsere Vorfahren - im allgemeinen unter weitaus besseren Bedingungen. Ökonomisch können wir uns, von Ausnahmen abgesehen, mehr denn je leisten. Informationen jeglicher Art, Bildung, Kultur, Dutzende Fernseh- und noch mehr Hörfunkprogramme, ganz zu schweigen von den überquellenden Erzeugnissen der Print-Medien stehen jedem von uns offen, genauso wie Museen, Bibliotheken, Konzert- und Hörsäle, und zwar wie nie zuvor weltweit.

Ist das vielleicht alles nichts? Gleich Dutzenden Generationen vor uns strebten wir mit Macht das lange Leben an. Jetzt haben wir es. Wir erleben wach einen in Erfüllung gegangenen Wunschtraum der Menschheit. Nie zuvor gab es bei uns so viele Menschen, die nicht am eigenen Leib erfahren mussten, was die jahrhunderteüberdauernde Geisseltrias "Pest, Hunger und Krieg" meint. Und doch wollen wir in unserer Unersättlichkeit immer noch mehr und noch mehr, quantitativ und qualitativ: noch mehr Jahre und noch bessere, und möglichst auch gleich noch die ganze Ewigkeit dazu. Wo ist bloss unser Menschsein geblieben, zu dem auch die Vergänglichkeit gehört? Eines allerdings gilt auch hierzulande. Die gegenwärtige Bändigung von "Pest, Hunger, Krieg" mit der gegenwärtigen Fokussierung der meisten Sterbealter auf nie zuvor erreichtem Niveau ist weder eine Garantie für den einzelnen ("Warum so früh?" pflegt dann in Todesanzeigen zu stehen), noch braucht das so zu bleiben. Oft nähern sich uns zumindest neue Pestilenzen (man denke an AIDS) oder Kriege (wie im ehemaligen Yugoslawien) schon wieder bedrohlich. Wie lange die Ausnahmesituation andauert, hängt wesentlich von unserer Wachsamkeit und unserer aller Bereitschaft ab, aktiv dazu beizutragen. Der Historiker kennt genügend Beispiele stagnierender, gar rückläufiger Lebenserwartungen. Damit will ich keine Horrorvisionen für die Zukunft an die Wand malen, obwohl solche bei manchen Zeitgenossen zugegebenermassen den Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit zu relativieren und eine schwer zu bewältigende "frei flottierende Angst" heraufzubeschwören vermögen. Wer sich dadurch jedoch lähmen lässt, ist schlecht beraten.

Realität ist, dass von den heute rund 80 Millionen Deutschen mehr als die Hälfte nach 1950 auf die Welt kam. Erstmals lernte hierzulande somit die breitere Öffentlichkeit jene jahrtausendealte unmittelbare Lebensbedrohung durch "Pest, Hunger und Krieg" nicht mehr kennen. Erstmals wurde damit auch einer Mehrheit der Bevölkerung die unerhörte Möglichkeit eingeräumt, ihr Leben von einem relativ kalkulierbaren Ende her zu gestalten. Hieraus ergeben sich ungeahnte Chancen zur Realisierung eines Lebensplans. Erstmals können wir die Stärken und Schwächen einer jeden Lebensphase im voraus aufeinander abstimmen und gegeneinander aufwiegen. Es ist nicht länger sinnvoll, einfach von einem Tag in den anderen hinein zu leben. Wie schon gesagt: Weil im Alter häufig die körperlichen vor den geistigen Fähigkeiten nachlassen, ist es wichtig, ab früher Jugend neben körperlichen auch geistig-musisch-kulturelle Interessen in sich und anderen zu wecken und zu pflegen. Nur so kann man an jeder Lebensstufe Geschmack finden, und nur so lohnen sich auch die letzten Lebensjahre noch zu leben. Man halte mir hier nicht vor, dieses Konzept sei zu "intellektuell". Ich kann nichts dafür, dass die physischen Kapazitäten in den späten Jahren häufig vor den geistigen abnehmen. Was ich jedoch sehr wohl kann, ist, mich hierauf vorbereiten.

Und selbst für diejenigen, die auch heute noch als Opfer unheilbarer Krankheiten oder Unglücksfälle zu den vorzeitig Dahingehenden zählen, scheint mir die - wenngleich verkürzte - Realisierung eines Lebensplans Sinn zu machen. Alles wäre auch für sie zur rechten Zeit geschehen. Ob spät oder früh verstorben: niemand bräuchte sich auf dem Sterbebett vorzuwerfen, etwas versäumt zu haben. Die Torschlusspanik bliebe aus, dann noch nachholen zu wollen, was nicht mehr nachzuholen ist. "Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben" - in welchem Alter somit auch immer!

Wenn einerseits die Mehrheit unter uns heute erstmals die Chance hat, ihr langes Leben gemäss einem Lebensplan erfüllend zu gestalten, meint das andererseits aber auch, dass es noch immer eine sehr beachtliche Minderheit gibt, die eine solche Möglichkeit von Anfang an nicht hatte. Es sind jene Menschen unter uns, die den Ersten, den Zweiten Weltkrieg erlebten, die Weltwirtschaftskrise, den Kohlrübenwinter, die Influenzapandemie. Wie auch hätten sie mit einem langen Leben rechnen sollen? Wie und warum sich angesichts solcher Kalamitäten auf das allfällige Ausleben ihrer natürlichen Lebensspanne vorbereiten? Gleich allen Generationen vor ihnen lebten sie noch nicht in der "Pest, Hunger und Krieg"-freien Ära. Massenhaft des Dritten Alters von Anfang an gewiss zu sein, ist eine junge Erscheinung. Sie betrifft aber mittlerweile eben bereits die Mehrheit der heute bei uns lebenden Menschen.

Haben wir, die zu dieser Mehrheit zählen, jedoch angenommen, dass wir durch den Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit gleichzeitig auch in ein irdisches Paradies kämen? Nur naive Menschen können übersehen, dass alle Medaillen zwei Seiten haben. Dies beginnt schon damit, dass "Zunahme der Lebenserwartung" und "Zunahme der Lebenserwartung bei guter Gesundheit" zwei unterschiedliche Dinge sind. Aufgrund der Zurückdrängung traditioneller Infektionskrankheiten leben wir nun zwar länger, doch sind wir dadurch nicht unsterblich geworden. Chronische Gesundheitseinbussen erhielten ihre Chance und teilten sich das Krankheiten- und Todesursachenspektrum längst neu auf. Je weiter wir heutzutage gegen unsere Lebenshülse von 80, 90 Jahren vorstossen, umso grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir zuerst hilfs-, dann pflegebedürftig werden, alles noch bevor man uns gegebenenfalls institutionalisiert und wir schliesslich sterben.

Eine weitere logische Folge des fundamentalen Wandels von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit ist das Auseinanderbrechen traditioneller Gemeinschaftsformen. Die mehrfach erwähnte frühere Permanenz von "Pest, Hunger und Krieg" zwang unsere Vorfahren dazu, sich zwecks Überlebens einer Gemeinschaft einzugliedern und ihr unterzuordnen: einer Familie, einem Haushalt, einer Kloster-, Zunft-, Militärgemeinschaft. Es waren erzwungene, keine freiwilligen Gemeinschaften. Und viele von ihnen waren denn auch miserabel. Nun hörten wir davon, dass es bei uns diese "Pest, Hunger und Kriegs"-Permanenz erstmals nicht mehr gebe, wir folglich zwecks Überlebens auch nicht länger in solchen Gemeinschaften zu kuschen brauchen. Was wunder, dass die Zahl der allein Lebenden wächst und wächst, beziehungsweise Männer wie Frauen zur Befriedigung dieser oder jener Bedürfnisse nur noch unverbindliche Teilzeit-Gemeinschafter sind, sich im übrigen aber "selbst verwirklichen".

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Wägen wir gegeneinander ab. Die Entwicklung vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg brachte uns Positives, viel Positives, so insbesondere den fundamentalen Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Wir haben doppelt so viele Jahre; wir haben doppelt so gute Jahre; wir können uns mehr leisten denn je und haben Zugang zu mehr denn je auf der ganzen Welt. Die gleiche Entwicklung brachte uns auch Negatives, gravierend Negatives: den vielfachen Verlust des Glaubens an die Ewigkeit, die Auseinanderentwicklung von "Lebenserwartung" und "Lebenserwartung bei guter Gesundheit" mit oft langem Siechtum als Folge, den Zerfall von Gemeinschaftsformen, um nur an einige zu erinnen.

Ich möchte nun aber diejenigen sehen, die mit den schlechten alten "Pest, Hunger und Krieg"-Zeiten tauschen möchten, nur um diese Negativerscheinungen wieder rückgängig zu machen. Die Freiheit dazu hat jeder. Die alten Infektionskrankheiten sind nicht von der Erde verschwunden. Auch Hunger und Krieg gibt es nach wie vor. Es steht jedem von uns frei, ohne Prophylaxe in malariaverseuchte Gebiete zu reisen, sich ohne Konserven in afrikanischen oder asiatischen Hungerzonen aufzuhalten, einen der offenen Kriegsherde aufzusuchen. Er dürfte binnen kurzem wie gewünscht seinen vorzeitigen Tod erhalten und bräuchte sich somit auch gar nicht lange Gedanken über Lebenspläne und eine neue "Ars moriendi" machen.

Wer indes, und dies scheinen mir doch die meisten von uns zu sein, ein hierzulande erstmals mögliches langes Leben anstrebt, der sollte fairerweise auch die Negativaspekte mit in Kauf nehmen. Wir wollten dieses lange Leben. Machen wir nun auch das beste aus ihm, sonst sind wir des Privilegs nicht wert. Verwandeln wir sämtliche gewonnenen Jahre unter Ausnützung unserer immensen technischen, wirtschaftlichen, kulturellen Möglichkeiten in erfüllte Jahre, und nehmen wir daraufhin auch den naturgegebenen Tod zur rechten Zeit auf uns.

Menschsein, so hiess es eingangs, bedeute, die von Anfang an in uns angelegte Spannung zwischen Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten. Ist das so schwer zu verstehen? Es ist so konzis und knapp wie die alte "Ars moriendi", auf den Punkt gebracht und allgemeinverständlich.



© A.E.I. 1996